Zwischen 1750 und 1850, zwischen Haskala, innerjüdischer Reform, Verbürgerlichung und rechtlicher Emanzipation, sahen sich die Juden in den deutschen Staaten stärker als zuvor mit der Frage konfrontiert, was ein modernes jüdisches Selbstverständnis ausmache und wie es mit der im Umbruch befindlichen Welt in Einklang gebracht werden könne. Entsprechend groß ist die Zahl der hierzu erschienenen Studien. Auch der Kulturanthropologe Eberhard Wolff wendet sich in seiner an der Universität Zürich als Habilitation angenommenen Arbeit dem kulturellen Wandlungsprozess innerhalb des deutschsprachigen Judentums zu. Auf Grundlage seiner bisherigen, zum Teil in überarbeiteter Form in den Band eingeflossenen Forschungen zum Wechselverhältnis von Medizin und Judentum1 betrachtet er einerseits jüdische und jüdischstämmige Ärzte und deren öffentliche Repräsentation wie Verhältnis zum Jüdischsein. Anderseits nimmt er die Konflikte zwischen medizinischen und jüdisch-religiösen Vorstellungen sowie dazugehörige Lösungsvorschläge in den Blick, anhand derer er die Herauskristallisierung von Identitäten untersucht. Der Medizin sei dabei – so die These – als zentralem Brennpunkt und frühem Implementationsbereich zentrale Bedeutung zugekommen, denn ein Großteil der „städtisch-bürgerlichen Juden ging den Weg, der von Ärzten oder in medizinischen Debatten vorgezeichnet worden war: Sie suchten bewusst einen neuen Platz des Jüdischen in der modernen Gesellschaft und rangen damit um eine modernisierte jüdische Identität“ (S. 15).
Die im Überschneidungsbereich von jüdischer Geschichte, Medizingeschichte und Volkskunde/Kulturwissenschaft verortete Arbeit gliedert sich in vier Teile. Zunächst gibt Wolff eine umfängliche, gut strukturierte Einführung in den Forschungsstand zum Themenfeld „Medizin und Judentum“2. Er kritisiert hierbei zu Recht die Annahme oder Konstruktion eines essentialistischen Begriffs des Jüdischen (S. 22) und betont, dass „die wesentlichen Triebkräfte des kulturellen Wandels im Judentum dieser Zeit – gerade im Bereich der Medizin – aus dem Judentum selber kamen“ (S. 37). Es gelte deshalb, über ein Konzept hybrider Identität nach Hierarchien von Identitätsteilen und deren Neuformierung jenseits dichotomer Zuweisungen von jüdisch und nichtjüdisch zu suchen.
Im zweiten Teil seines Buches widmet sich Wolff in chronologisch angelegten Detailstudien zunächst dem Verhältnis von jüdischer Identität und dem beruflichen Selbstverständnis jüdischer Ärzte. Er kann für das Beispiel Berlins zeigen, dass sich allen voran die jüdischen Ärzte an der Verbreitung der Ideen der Haskala beteiligten und eine Vorreiterrolle für den kulturellen Wandel einnahmen. Zunächst ab 1750 als jüdische Gelehrte in die Öffentlichkeit hinaustretend, hätten sie zunehmend ein professionelles, Wissenschaft und Judentum vereinbarendes, schließlich sogar ein reformorientiertes, dem traditionell-rabbinischen Judentum kritisch gegenüberstehendes Selbstverständnis entwickelt. Anhand des um 1800 ausgetragenen Konflikts des Göttinger Geburtshelfers Friedrich Benjamin Osiander mit seinem ehemaligen Schüler Joseph Jacob Gumbrecht arbeitet Wolff anschließend exemplarisch den hohen Erwartungs- und damit verbundenen Assimilationsdruck gegenüber Ärzten jüdischer Herkunft heraus, wollten diese professionelle Anerkennung finden. Er zeigt hierbei, dass bei Osiander aufgeklärte Geisteshaltung und antijüdische Zurückweisung gleichzeitig auftraten, wenn dieser der wissenschaftlichen Kritik Gumbrechts mit Verweis auf dessen jüdische Wurzeln begegnete. Am Beispiel der in Hamburg und Altona zahlenmäßig überrepräsentierten Ärzte „mit jüdischen Familienhintergrund“ (S. 135), also auch der getauften, wendet sich Wolff schließlich dem Engagement in ärztlichen Vereinen und der Fachpublizistik zu. Die überdurchschnittliche Teilnahme etwa in Homöopathie- oder Impfdebatten, so die These, sollte ihr Image als professionell-akademische, dezidiert nicht als jüdisch wahrnehmbare Mitglieder ihres Berufsstands stärken und sie so als angesehene Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft etablieren. Dem Modell der „Segregation der Lebenswelten“ mit unterschiedlichen Öffentlichkeitsbereichen folgend betont Wolff, dass Religion allgemein nicht mehr allumfassend, aber als Konfession in einzelnen Lebensbereichen weiterhin von Bedeutung gewesen sei, Bürgertum, Bildung oder Wissenschaft also mithin nicht einfach Ersatzreligionen bildeten. Dies habe jüdischen Ärzten ermöglicht, überkonfessioneller Bürger zu sein und gleichzeitig Jude zu bleiben, mithin professionelles und jüdisches Selbstverständnis miteinander zu vereinbaren. Auch die Schriften des Arztes Phoebus Philippson – hier hätten zusätzlich auch weitere Selbstzeugnisse hinzugezogen werden können – zeigten beispielhaft das neue jüdische Selbstverständnis, bei dem es im bürgerlichen Umfeld gerade darum ging, nicht als Jude definiert zu werden.
Wie sich die Herausbildung eines modernen Selbstverständnisses bei jüdischen Ärzten sukzessive auch auf die jüdischen Gemeinden und Traditionen auswirkte, zeichnet Wolff anhand von primär innerjüdischen geführten Debatten nach. Während sich bei dem am Ende des 18. Jahrhunderts ausgetragenen Streit um den Zeitpunkt der Beerdigung eines Verstorbenen erstmals Angriffe jüdischer Ärzten auf das traditionelle Judentum zeigten, verteidigen andere die Praxis der frühen Beerdigung als gesundheitlichen Wert. Umbrüche zeichneten sich um 1800 in den jüdischen Gemeinden etwa bei der nicht nur von Ärzten, sondern auch von jüngeren Laien getragenen Krankenversorgung ab. Diese löste sich vom bisherigen Prinzip der religiös motivierten Mildtätigkeit und entwickelten sich zu weltlich-ökonomischen Krankenkassen weiter, die fortan nicht mehr für die jüdisch- religiöse Schicksalsgemeinschaft, sondern für eine allgemeiner definierte kulturelle jüdische Solidarität standen. Die neue Bedeutung von Religion führt Wolff noch einmal am Beispiel der Beschneidungsdebatte (1830–1850) vor Augen, an der sich jüdische Ärzte besonders stark beteiligten. Auch hier erfolgte eine Uminterpretation des Judentums: Zwar sei die äußere rituelle Form erhalten geblieben, jedoch mit neuen Inhalten gefüllt worden, um die Beschneidung auch für die moderne Welt kompatibler zu machen. Gerade diese Debatte zeige demnach, dass Ärzte nicht mehr nur im medizinischen Bereich Einfluss ausübten, sondern auch den religiösen Diskurs maßgeblich und im Vergleich zu den Rabbinern selbstbewusster mitbestimmten. Jüdische Ärzte hätten sich dabei nicht mehr nur als medizinische Experten, sondern als Fachleute für das Jüdische überhaupt verstanden und Reformprozesse entscheidend mitbeeinflusst.
Aufbauend auf seinen exemplarischen Tiefenbohrungen gibt Wolff im letzten Abschnitt des Bandes eine differenzierte Antwort auf die Frage nach der „Bedeutung der Medizin im kulturellen Wandlungsprozess des Judentums“ (S. 236). So seien weder Assimilation noch Säkularisierung geeignete Begriffe, um die Herausbildung eines neuen jüdischen Selbstverständnisses abzubilden, das Judentum und jüdische Religion nicht mehr in eins gesetzt habe. Die Herausbildung des jüdischen Arztes als Modell einer säkularen jüdischen Elite sei vielmehr als Gestaltung von Identität zu verstehen, die traditionelle wie neue Elemente verbunden und so das jüdische Überleben in der Moderne gesichert habe. Mittels eines in Weiterentwicklung von Edmund Burke konzipierten „ubiquitären Modell[s] von Hybridität“, das „das Zustandekommen von Praktiken und Vorstellungen aus unterschiedlichen kulturellen Identitäten und das Entstehen einer neuen Konstellation oder gar Einheit“ (S. 249) abbilde, bietet Wolff schließlich Anregungen für potenzielle Strukturmodelle von Hybridität, merkt jedoch auch an, dass der Mehrwert vor allem in der Funktion als Untersuchungsinstrument liege. Den kulturellen Wandel des jüdischen Selbstverständnisses bestimmt er begrifflich – so auch im Untertitel – mit der Metapher der „Architektur“, um sein „flexibles Modell der Stabilisierung jüdischer Identität im historischen Wandel“ (S. 257) zu beschreiben.
Es ist das Verdienst von Wolff, eine der Grundfragen im Bereich der Studien zum Judentum, was nämlich das Jüdische im historischen Prozess ausmache, durch kritische Kontextualisierung bestehender Modelle – von Assimilation und Akkulturation über Subkultur, Verbürgerlichung, Säkularisierung bis hin zur situativen Ethnizität – am Beispiel der jüdischen Mediziner und der medizinischen Debatten im Judentum anregend zusammenzuführen. Bei Kenntnis des Forschungsstands stellt sich jedoch oft der Eindruck ein, dass es vielfach eher Nuancen sind, um die der Band bisherige Ansätze wie etwa Till van Rahdens Konzept der situativen Ethnizität3 – freilich aus einer dezidiert kulturwissenschaftlichen Perspektive – weiterentwickelt. Dass sich die angeführten Beispiele auf Großstädte und die männliche Bildungselite konzentrieren, schränkt deren Repräsentativität ein, wie Wolff bereits zu Beginn seiner Studie einräumt. Zudem ließe sich die Gültigkeit seines Modells für andere jüdische Berufsgruppen – etwa Rabbiner, Philologen oder Publizisten – als auch die nichtjüdische Vergleichsgruppe prüfen. Empfohlen sei die Lektüre des Bandes, dem leider ein Personenregister fehlt, jedoch unbedingt, bietet er doch einen stringent argumentierten Zugang und zahlreiche Impulse zu den Transformationen des Jüdischen, die die Forschung zum „langen“ 19. Jahrhundert bereichern.
Anmerkungen:
1 Das Publikationsverzeichnis von Eberhard Wolff findet sich unter <https://kulturwissenschaft.unibas.ch/seminar/personen/profil/publikationen/person/wolff/?tx_x4epersdb_pi1%5Bpointer%5D=0&cHash=318939c16fc684a298c537581589f02ff02f> (26.10.2015).
2 Vgl. zuletzt etwa John M. Efron, Medicine and the German Jews. A History, New Haven 2001; Christoph Maria Leder, Die Grenzgänge des Marcus Herz. Beruf, Haltung und Identität eines jüdischen Arztes gegen Ende des 18. Jahrhunderts, Münster 2007.
3 Vgl. Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000, bes. S. 20.