Zeithistorische Werke, die nicht die Diktatur- und Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts behandeln, haben es auf dem Buchmarkt meist etwas schwerer. Philipp Ther ist es mit seinem im Oktober erschienenen Band jedoch gelungen, trotz eines eher wirtschaftshistorischen Themas eine breite Aufmerksamkeit in den Feuilletons zu erreichen. Schließlich weckt bereits der Titel ein doppeltes Interesse: Er verspricht nicht nur eine innovative europäische Perspektive auf die Gegenwartsgeschichte, sondern zugleich eine der ersten zeithistorischen Synthesen zum „Neoliberalismus“. Damit stellt der Autor einen meist pejorativ angeführten Reizbegriff in den Mittelpunkt, den selbst die Befürworter einer liberalen Wirtschaftsordnung eher meiden.
Ther ist kein Ökonom und auch kein Wirtschaftshistoriker, sondern Professor für osteuropäische Geschichte. Wirtschaftsexperten mögen deshalb mitunter den ökonomischen Tiefgang vermissen, aber dafür bietet Ther profunde Kenntnisse der östlichen Nachbarn und einen gut lesbaren, oft essayistischen Stil. So verbindet er gleich einleitend persönliche Erinnerungen mit Befunden von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen und Statistiken. Auch im Verlauf seiner Analysen werden komplexe ökonomische Grafiken immer wieder mit alltäglichen Beobachtungen kombiniert. Im Unterschied zur bisherigen Publizistik legt Ther eben keine politische Kampfschrift vor. Vielmehr beschreibt er informativ und mit abgewogenem Blick die dramatischen Veränderungen, die Missstände, aber auch die Erfolge, die aus den Privatisierungen, Deregulierungen und Entstaatlichungen seit 1989 hervorgingen.
Sein Buch analysiert vor allem die Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie deren Effekte in Zentraleuropa; es ist somit keine Gesamtgeschichte des neoliberalen Europa, wie der Untertitel suggeriert. Neben den postsozialistischen großen Ländern Ostmitteleuropas stehen vor allem Italien und die Bundesrepublik im Vordergrund, nicht aber, wie man erwarten könnte, Großbritannien oder andere westliche Nachbarn. Dennoch ist bereits dieser Vergleich eine große Leistung. Ebenso startet das Werk mit einer pointierten gesamteuropäischen These: In den beiden Jahrzehnten nach 1989 sei es zu „Kotransformationen“ gekommen, bei denen neoliberale Reformen auch von Ost nach West gewandert seien.
Recht knapp behandelt Ther Ostdeutschland, wo die schnellste und radikalste „Schocktherapie“ stattgefunden habe. Die Wirtschaft und Gesellschaft der ehemaligen DDR öffnete sich am stärksten für den Westen, wurde aber in erheblichem Maße durch den bundesdeutschen Sozialstaat aufgefangen. Ausführlich widmet der Autor sich dagegen den ebenfalls frühen, recht radikalen Reformen in Polen und Tschechien. Da die Demokratien noch kaum entwickelt gewesen seien, hätten die neoliberalen Reformen auch gegen die öffentliche Meinung umgesetzt werden können. Allerdings wurden sie bereits 1993/94 wieder abgebremst, etwa mit dem Erfolg der postkommunistischen Sozialdemokraten in Polen, aber auch durch retardierende Gesetze in Tschechien. Diese Veränderungen kontrastiert Ther mit Entwicklungen in wirtschaftlich weniger erfolgreichen Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder auch der Ukraine, die erst auf entsprechende Deregulierungen verzichteten und dann die Reformen nicht staatlich abfederten. Quintessenz seines Vergleiches ist, dass neoliberale Reformen in Ostmitteleuropa dann erfolgreich waren, wenn sie durch einen staatlichen Ordnungsrahmen eingehegt worden seien, wie Ther im Anschluss an amerikanische Autoren bilanziert: „Der Neoliberalismus ist auf den starken Staat angewiesen.“ (S. 344) Dazu zähle etwa die staatliche Förderung von Bildung, sozialem Ausgleich oder auch rechtlichen Rahmenbedingungen.
Ther streift viele Länder – wobei er neben den nationalen Unterschieden „die innerstaatlichen Divergenzen“ zwischen Stadt und Land mehrfach hervorhebt (z.B. S. 39), aber Polen und insbesondere Warschau stehen im Mittelpunkt. Warschau wird, wie schon auf dem Titelbild, als Boomtown präsentiert, die schließlich Berlin abgehängt habe und einen dynamischeren Arbeitsmarkt aufweise. Im polnischen Fall macht der Autor zudem eine stärkere Transformation von unten aus, mit Kleinunternehmern und einem lebendigen Tauschhandel, etwa auf den Basaren. Berlin habe hingegen, auch im Unterschied zu Wien und Prag, Chancen bei der Öffnung Europas vertan und die Eigeninitiative weniger gefördert. Diesen Blick von unten ergänzt Ther um Seitenblicke auf die Rolle der oft kritisierten Europäischen Union (EU). Er sieht sie nicht nur als Akteur neoliberaler Reformen, sondern betont den Nutzen ihrer Förderpolitik seit 1989, besonders ab 2004. Die Mittel der EU hätten den Marshallfonds der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg „inzwischen bei Weitem“ übertroffen, „in absoluten Zahlen und in Relation zum Bruttoinlandsprodukt der Empfängerländer“ (S. 159).
Über die engere Transformationsphase in den postkommunistischen Ländern hinaus behandelt Ther die Bewältigung der Finanzkrise ab 2008. Während sich die westliche Öffentlichkeit meist mehr für Griechenland, Italien, Spanien und Irland interessiert, zeigt er zunächst die desaströsen Folgen der Krise für Ostmitteleuropa, auf die vielfach mit keynesianischen Steuerungsversuchen reagiert worden sei. Nachdem der Osten gerade an den Westen aufgeschlossen hatte, versiegten nun wieder der Kapitalfluss und die ausländischen Investitionen. Allerdings, so Ther, wäre diese Blase wenig später ohnehin geplatzt. Zugleich macht er deutlich, wie rasch diejenigen ostmitteleuropäischen Staaten die Krise bewältigen konnten, die an einem moderaten Reformkurs festhielten.
Das Buch gewinnt auch dadurch, dass Ther dem Schwerpunkt auf Ostmitteleuropa ein ebenfalls mit eigener Lebenserfahrung verbundenes Kapitel zu Italien hinzufügt – von 2007 bis 2010 war er am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz tätig. Nach der langen Zeit des Ost-West-Gegensatzes sieht er nun eine neue Nord-Süd-Differenz und spricht vom „Süden als neue[m] Osten“ (Kapitel 8). Italien habe es versäumt, sich produktiv gegenüber dem Osten zu öffnen, und generell seien viele Osteuropäer – „gewissermaßen durch den Neoliberalismus konditioniert“ (S. 266) – mittlerweile deutlich mobiler und flexibler als Südeuropäer. Schließlich blickt Ther auf die Bundesrepublik, wobei er nun, allerdings recht knapp, die Ausgangsthese der „Kotransformation“ aufgreift. Die Privatisierung der Altersvorsorge, vor allem aber die Sozial- und Arbeitsmarktreformen nach 2004 deutet er als Reaktion auf die Veränderungen bei den östlichen Nachbarn und die EU-Osterweiterung.
Während man die vergleichenden Perspektiven auf Osteuropa mit Gewinn liest, zeigen sich für den Westen dabei gewisse Grenzen der Thesenbildung. Dass die bundesdeutschen Reformen durch den Osten angestoßen wurden, wird kaum genauer belegt. Möglich wird dieses Argument nur, weil das Buch überraschenderweise die Entwicklung in Großbritannien weitgehend ausblendet, aber auch Anstöße aus den USA nur sporadisch einbezieht, etwa mit Verweis auf den „Washington Consensus“. Welche Reformen durch welche Akteure transferiert wurden, bleibt ohnehin etwas undeutlich. Auch die ökonomischen Impulse, die etwa Italien aus einer stärkeren Öffnung gegenüber Osteuropa hätte ziehen können, werden wohl ein wenig überschätzt. Man mag abschließend fragen, inwieweit „neoliberal“ eigentlich ein treffendes Label für Europa seit 1989/90 ist. Ther selbst zeigt vielmehr immer wieder die Grenzen neoliberaler Reformen und schreibt etwa: „Trotz der Hegemonie des Neoliberalismus wich die politische Praxis der Reformen in Ostmitteleuropa stets von der reinen Lehre ab.“ (S. 98)
Abschließend vergleicht der Autor den Neoliberalismus mit einem rasanten Schnellzug, auf den nach 1990 viele Länder aufgesprungen seien und der vor lauter Beschleunigung 2008 fast entgleist sei, aber dennoch nicht die Richtung geändert habe. Diese Teleologie des Schienenstrangs erscheint mir etwas starr. Vielleicht bietet sich eher das Bild der Autobahn an: Die europäischen Staaten haben sehr unterschiedliche Tempi und differente Verkehrsmittel gewählt; einige erlitten auf der Überholspur tatsächlich Unfälle, andere erreichten ihre Ziele langsamer und verspätet oder blieben auf Raststätten und Seitenstraßen hängen, da es auch in der Wirtschaftspolitik trotz grundsätzlicher Streckenvorgabe durchaus Abzweigungen und Nebenstrecken gibt.
Insgesamt hat Philipp Ther jedoch ein sehr lesenswertes Buch vorgelegt, das ebenso anschaulich und ergebnisorientiert wie innovativ und mutig verfasst ist. Für die zeithistorische Erforschung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationen seit 1989/90 dürfte es gerade durch seine vergleichende Perspektive lange ein wichtiger Bezugspunkt bleiben.