Schulgeschichte für die Zeit vor 1800 hat in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. Historische Pädagogik und Geschichtswissenschaften widmen sich nicht mehr nur der Gymnasialbildung (Lateinschulen), sondern in zunehmendem Maße auch den niederen Schulen. Statt normativer Quellen treten vermehrt solche aus der Praxis in den Vordergrund. Und Rechnen bzw. Mathematik werden als Indikator für eine sich aus dem religiös-kirchlichen Rahmen lösende, der Aufklärung und der Moderne zugewandte Schulbildung verstanden. Dabei fehlt es noch an detaillierten Studien, wie dieser Unterricht ausgesehen hat, was gelehrt wurde, welchen Zweck er verfolgte und wie er realisiert wurde.
Die vorliegende Studie von Kerrin Klinger stößt deshalb in ein Gebiet vor, das als dringendes Desiderat bezeichnet werden muss. In der Residenzstadt Weimar, ihrem Untersuchungsraum, wurde „Mathematik“ nicht nur in der höheren Gymnasialbildung, sondern auch in der Adelsbildung und in der Handwerkerausbildung und sogar an den niederen Schulen unterrichtet. Ihre Studie deckt die Zeit von 1770 bis 1830 ab. Zunächst geht Klinger – in chronologischer Reihe der Amtsperioden – dem Gymnasium nach, das in den drei unteren Klassen eine eigentliche Stadtschule (niedere Schule) für die Knaben war und erst ab der 4. Klasse ein eigentliches Gymnasium, dann der 1825 gegründeten „Bürgerschule“ und ihren Vorgängerinstitutionen (Freischule, Stadtschule, Winkelschulen, Mädchenschule, Lehrerseminar), schließlich der Pagenschule für den Hof und der Zeichen-, Gewerbe- und Handwerkerschule.
Diese zeitliche und sachliche Breite macht die Arbeit zu einem Nachschlagewerk par excellence, das Struktur und Wandlung des mathematischen Unterrichts thematisiert. Im Vordergrund stehen die handelnden Akteure, das heißt die Professoren und Lehrer/innen, und die Lehrpläne bzw. die Gedanken, Überlegungen und Pläne, wie sie etwa der seit 1776 amtierende Generalsuperintendent Johann Gottfried Herder formulierte.
Die Stadtschule bildete die Knaben in den vier Grundrechenarten und Dreisatz aus, während Arithmetik und Geometrie erst in den oberen Klassen, dem eigentlichen Gymnasium, unterrichtet wurden. Klinger geht nun jedem einzelnen Lehrer (beginnend mit den Lehrern Musäus und Kästner – 1764–1813) einzeln nach, beschreibt die jeweils verwendeten Schulbücher und den Zweck des Mathematikunterrichts. Das erste Kapitel ist überschrieben mit „Mathematik als angewandte Logik“ (S. 77). Sie war nur Teil eines umfassenden Lehrprofils, das auch Geographie, Ästhetik, Poetik, Rhetorik, Logik, Psychologie, Anthropologie, die Schriften von Virgil und Ovid, Mythologie, Geschichte sowie deutsche Sprache und Poesie umfasste (S. 78).
Klinger zählt alle verwendeten Bücher auf, nur selten geht sie auf deren Inhalte und die Art des mit ihnen gestalteten Unterrichts ein. Die eher undeutliche Sicht auf die Praxis ist sicher der Quellenproblematik geschuldet, die hier kaum Informationen bieten. Man gewinnt den Eindruck, eine riesige Datenliste vor sich zu haben, sozusagen eine aus den Quellen sorgfältig zusammengestellte und geordnete Personen- und Textdatenbank. Die Einblicke in die Schulwirklichkeit bleiben sporadisch, so wenn Sachverständige die Mathematikkenntnisse als unbefriedigend und als Ursache das Desinteresse der Schüler und die „unzweckmäßige Unterrichtsführung der Lehrer“ (S. 95) nennen. Dass diese „lebensweltliche Bezüge“ forderten, um die „tote Geisteswüste“ abzuschaffen, deutet darauf hin, dass sie allmählich stärker an Fragen der Nützlichkeit und beruflichen Verwendung konkreter rechnerischer Fähigkeiten interessiert waren. Das war auch der Grund für die Schaffung der Bürgerschule.
Die jedem Kapitel folgende Zusammenfassung erhebt sich dann über die sonst eher faktenorientierten Darstellung. Für das Gymnasium (S. 143–148) wird betont, dass es kaum um eine praktische Anwendung ging, sondern die Euklidsche Mathematik neben der altsprachlichen Grammatik als Grundlage klaren Denkens und der Verstandesbildung diente, mit – wie Klinger feststellt – zweifelhaftem Erfolg (S. 144). Die Bürgerschule diente genau dem Ausgleich dieses Mankos, weil die elementaren Schultypen nun zusammengefasst auf praxisrelevante Fähigkeiten wie Rechnen konzentriert wurden (S. 171). Alle Klassenstufen der Mädchen und Jungen hatten je vier Stunden Rechenunterricht (S. 178), Mittel- und Oberklasse der Jungen zusätzlich zwei Stunden Mathematik. „Inhaltliche Angaben zum Unterricht finden sich in den überlieferten Akten kaum“, stellt Kerrin Klinger fest (S. 178). Damit ist das die gesamte, sehr gründliche und detailreiche Studie durchziehende Problem wiederholt: Man erfährt über die Lehr- und Lernpraxis leider sehr wenig.
Die Bürgerschule fasst alle für die mittleren und unteren Bürgerschichten vorher bestehenden Schulen zusammen, so dass das Gymnasium zu einer reinen Eliteschule für Gelehrte und Beamte wurde. Die Bürgerschule diente der Vorbereitung auf das bürgerliche-handwerkliche Leben. Nach Geschlechtern getrennt wurde an ihr auf vier Stufen unterrichtet, wobei moderne Lehrmethoden zur Anwendung kamen: die Unterrichtskonzepte von Bell und Lancaster (nach dem erfahrenere Schüler die Kleineren unterrichteten) waren anfangs neben dem von Pestalozzi (chorisches Sprechen und Wiederholungen) dabei dominant: Das habe, so Klinger, zu einer Mechanisierung im Sinne eines Auswendiglernens von Rechenbeispielen geführt (S. 215f.). Doch konnten sich die Methoden längerfristig nicht durchsetzen. Erfolgreich war lediglich die von Bürgerschuldirektor Schweizer 1833 in Anlehnung und mit Modifikation von Pestalozzis Anschauungslehre geschaffene verbindliche Richtlinie.
Das Kapitel 4 widmet sich dann der beruflichen Ausbildung von Pagen, die für Militär- und Forstdienst ausgebildet wurden, und Handwerkern (S. 221–268), wobei die Zeichenschule für beide Gruppen zentral war, bei den Handwerkern vor allem für Bauhandwerker, die im Zuge einer merkantilistischen Politik besonders gefördert werden sollten (S. 266).
In der Schlusszusammenfassung betont Kerrin Klinger, dass die zuvor noch nicht streng getrennten städtischen Schichten – so konnten Handwerkerkinder prinzipiell über das Gymnasium zu einer Beamtenkarriere aufsteigen – durch die Reformen Anfang des 19. Jahrhunderts das städtische Bildungswesen verfestigten und verengten (S. 273). Sie spricht deshalb mit Herrlitz von einer „‚systematisch‘ produzierten Ungleichheit neuer Qualität“ (S. 274f.) – anders als etwa im neuhumanistisch geprägten Preußen. Die Arbeit ist wegen ihres Detailreichtums und der skizzierten Grundlinie eine wichtige Bereicherung der Bildungsgeschichte in einem bisher vernachlässigten Bereich, doch muss man mit der Autorin auch bedauernd feststellen, dass die „Arbeit sich auf die Anordnungsebene“ konzentriert „und damit nur bedingt Aussagen zur Unterrichtspraxis“ macht (S. 279f.).