Wohl kaum eine Institution prägte im späten Mittelalter so sehr das Leben der Menschen wie die Pfarrei. Bei Historikerinnen und Historikern hat sie dennoch wenig Aufmerksamkeit gefunden. Nicht zuletzt liegt dies daran, dass sich die traditionelle Geschichtswissenschaft, wie sie im 19. Jahrhundert geprägt wurde, vor allem den überregionalen, politisch relevanten Institutionen der katholischen Kirche zuwandte: dem Papsttum, den Orden, den Bistümern. Um dem vernachlässigten Thema die gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen, spannt der vorliegende Band einen weiten thematischen Bogen.
Nachdem Enno Bünz kurz in Geschichte und Probleme der Forschung eingeführt hat, widmet sich Wolfgang Petke der Entwicklung der Pfarrei in Früh- und Hochmittelalter, vor allem in kirchenrechtlicher Hinsicht. Seine Ausführungen über die Entwicklung vom Eigenkirchen- zum Patronatsrecht, über die Entstehung der Pfründe und der Territorialpfarrei sind in Zukunft als Einstieg in die behandelten Sachverhalte wie in die Forschungsfragen zu benutzen.
Harald Müller führt die kirchenrechtliche Betrachtung weiter in das Spätmittelalter. Es zeigt sich, dass die Pfarrei in den Texten des Corpus iuris canonici nicht systematisch abgehandelt wurde, doch regelten einzelne Bestimmungen Punkte, die oft strittig waren. Dies entsprach der Eigenart des mittelalterlichen Kirchenrechts. In diesem Fall war eine umfassende Regelung ohnehin besonders schwierig, weil die Pfarrei zu vielgestaltig war und zu viele Bereiche des Lebens betraf.
Das Verhältnis der Pfarrei zu den Obrigkeiten behandelt Christoph Volkmar anhand aussagekräftiger Beispiele vor allem aus Thüringen und Sachsen. Die Bischöfe verfügten zwar über umfangreiche Befugnisse und Pflichten zur Kontrolle der Geistlichen wie der Kirchen, konnten diese aber nicht ausüben, teils aufgrund mangelnden Interesses, vor allem aber aufgrund konkurrierender Ansprüche der Patrone, der Archidiakone – und der politischen Gewalten. Denn viele Fürsten versuchten im späteren Mittelalter immer wieder, Einfluss auf das Kirchenwesen ihres Machtbereichs zu nehmen, manche Städte taten es ihnen gleich. Nicht aber größere Missstände oder geringerer Eifer bei deren Bekämpfung hätten letztlich zur Kritik an der Kirche geführt, so schließt Volkmar ganz richtig, sondern die gestiegenen Ansprüche der Laien – Ansprüche, so müsste man hinzufügen, die gerade von Geistlichen geweckt worden waren.
Mit Pfarreien in Städten beschäftigt sich Felicitas Schmieder. Sie stellt heraus, dass die Zahl der Pfarrkirchen und überhaupt die Anzahl und Lage der Kirchen in einer Stadt von den jeweiligen rechtlichen, politischen und siedlungsgeografischen Gegebenheiten und Entwicklungen abhing. Insbesondere gab es keinen Zusammenhang zwischen der Größe der Stadt und der Zahl der Pfarrkirchen.
Andreas Odenthal bietet einen breit angelegten, grundlegenden Überblick über ein Thema, das bislang noch nicht umfassend behandelt wurde: die Liturgie in Pfarrkirchen. Neben einigen allgemeineren Tendenzen zeigt sich, wie individuell sich die Praxis in jeder einzelnen Pfarrkirche gestaltete.
Eine weitgehend vernachlässigte Quellengattung stellt Franz Fuchs vor: die Pfarrbücher, d. h. Aufzeichnungen, die Pfarrer oder ihre Vertreter über den Besitz und die Einnahmen der Pfarrei anfertigten. Den Reichtum dieser Quellen belegt Fuchs, indem er ein solches Buch und seinen Autor Paul Gössel, Pfarrer von Gebenbach bei Amberg in der Oberpfalz, näher vorstellt. Viele anschauliche Details zum Alltag des Pfarrers bieten sich hier, bis hin zu Größe und Mobiliar des Pfarrhauses, wo sogar „zwei stul zu heimlicher notdurft“ belegt sind.
Gabriela Signori behandelt die erhöhte Wertschätzung, die dem Taufsakrament seit dem Basler Konzil zugemessen wurde, und spürt diesem Phänomen nicht nur in Synodalstatuten, sondern auch in der Tafelmalerei nach und wendet sich schließlich den Taufsteinen zu, die im 15. Jahrhundert in den Pfarrkirchen vermehrt gestiftet wurden.
Marc Carel Schurr behandelt exemplarisch städtische Pfarrkirchen im deutschen Südwesten in Hinblick auf ihren Bau und Ausbau, besonders aber als symbolischen Ausdruck von politischen und religiösen Bestrebungen der jeweiligen Städte.
Eine Stiftung von Laien, die durch ihren finanziellen Umfang und ihre Strahlkraft ungewöhnlich war, behandelt der materialreiche Aufsatz von Heinrich Dormeier. Insgesamt begünstigten nur wenige Stiftungen in Lübeck die Pfarrkirchen der Stadt; bevorzugt wurden vielmehr Klöster und – ab der Mitte des 15. Jahrhunderts – Bruderschaften. Eine Ausnahme bildeten die Marienhoren, die 1462 in der Marienkirche, der größten Pfarrkirche der Stadt, von 40 Angehörigen der führenden Familien eingerichtet wurden. Die Stiftung wurde immer mehr ausgeweitet. Schließlich gründete man auch eine Bruderschaft, die sich der Marienverehrung widmete. Bald entstanden ähnliche Marienhoren an den anderen Pfarrkirchen Lübecks und in anderen Hansestädten.
Arnd Reitemeier beschreibt vor allem anhand von Quellen aus der Pfalz und dem Südwesten des Reichs die sehr vielgestaltigen und von Ort zu Ort unterschiedlich ausgeprägten Rechte, Pflichten und Funktionen der Pfarrgemeinde. Diese sollte z.B. den Pfarrer ökonomisch unterstützen, insbesondere durch die Zehntzahlung, sich finanziell am Unterhalt des Kirchengebäudes beteiligen und den Glöckner entlohnen. Außerdem wirkte sie beim Sendgericht mit, das ein Beauftragter des Bischofs jährlich abhielt. Zu guter Letzt stellten die Kirche und der Friedhof als Orte, an denen sich die Pfarrkinder trafen, auch Kommunikationszentren dar. Insgesamt trugen die ländlichen Pfarrgemeinden schon im Mittelalter dazu bei, dass sich die Bewohner eines Dorfs als Gemeinschaft verstanden und von anderen Siedlungen abgrenzten.
Die Funktionen von Dorfkirchhöfen in Westfalen untersucht Werner Freitag. Ihre Nutzung beschränkte sich nicht darauf, ein Begräbnisort zu sein. Vielmehr wurden sie häufig befestigt, wobei nicht die „gezielte fortifikatorische Nutzung“ (S. 386) im Vordergrund stand, sondern die Aufbewahrung der Agrarprodukte im sogenannten Spieker. Später wurde dieses Speichergebäude auch als Aufwärmstube und Wohnung genutzt, ja es finden sich auf manchen Kirchhöfen sogar mehrere Wohngebäude; es handelte sich um die Unterkünfte der Dorfarmen. Wiederum erweist sich, dass der Kirchhof auch ein Platz der Kommunikation unter den Lebenden war, ein Versammlungsort der Dorfbewohner nämlich – auch deswegen, weil dort oft ein Wirtshaus stand. Alle diese Nutzungen förderten wie ein Katalysator die Gemeindebildung.
Am abschließenden Resümee von Enno Bünz zeigt sich indirekt eine Eigenart des Bandes wie des Themas. Bünz fasst im Wesentlichen nur die Erträge der einzelnen Beiträge zusammen und formuliert eine Reihe weiterer, lohnender Forschungsaufgaben. Übergreifende Ergebnisse formuliert er nicht, allenfalls scheinen Leitmotive auf.
Ein oberflächlicher Leser könnte angesichts dieses auffälligen Befunds womöglich weitergehen und mäkeln, dass es in einigen Beiträgen gar nicht um eine Pfarrei oder um Pfarreien an sich gehe, sondern nur um Dinge, die irgendwie mit Pfarreien zusammenhängen: um Pfarrkirchen (hinsichtlich ihrer Lage und ihrer Architektur), um einzelne Dinge in der Pfarrei (wie Kirchhof, Pfarrhaus oder Pfarrpfründe) oder in der Kirche (wie Messstiftungen oder Taufbecken). Die Feststellung als solche wäre auch durchaus richtig, ganz falsch aber die Auffassung, dass dieser Umstand einen Mangel darstelle.
Ganz im Gegenteil: Die Wichtigkeit der Pfarrei in der spätmittelalterlichen Gesellschaft zeigt sich gerade daran, dass man sie nicht isoliert betrachten kann. Derart eng verwoben ist jede Pfarrei mit ihrem Umfeld, dass jeder Blick auf sie zwangsläufig zur Sozial-, Kirchen-, Rechts-, Alltags- oder Liturgiegeschichte führt und wahrscheinlich gleich mehrere dieser Felder berührt. Ferner ist jede Pfarrei durch ihr Umfeld derart stark geprägt, dass kaum eine der anderen gleicht. Genau deswegen lässt sich der Ertrag des ganzen Bandes gar nicht dadurch erfassen, dass man drei oder vier Ergebnisse präsentiert, womöglich gar schlagwortartig verknappt. Der wichtigste Beitrag des Bandes zur Forschung ist es vielmehr, diese Vielfalt und Anpassungsfähigkeit der Pfarrei sowie die daraus resultierende unlösliche Verquickung mit unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft gebührend hervorzuheben: „Die“ Pfarrei gab es nicht. „Pfarreien“ aber drängen sich der Geschichtswissenschaft als attraktiver, erkenntnisträchtiger Gegenstand auf.