W. G. Schwanitz: Islam in Europa, Revolten in Mittelost

Cover
Titel
Islam in Europa, Revolten in Mittelost. Islamismus und Genozid von Wilhelm II. und Enver Pascha über Hitler und al-Husaini bis Arafat, Usama Bin Ladin und Ahmadinejad sowie Gespräche mit Bernard Lewis


Autor(en)
Schwanitz, Wolfgang G.
Erschienen
Berlin 2013: Trafo Verlag
Anzahl Seiten
783 S.
Preis
€ 94,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Klaus Jaschinski, Deutsch-Ägyptische Gesellschaft Berlin e.V.

„Dieses Buch lotet den Islam in Europa und die Revolten in Mittelost aus“ (S. ix), so der Einstieg des Autors. „Global ist es ‘fünf vor zwölf’: Demokratien sind belagert. Eine heftige Debatte dreht sich um den Islamismus, aber zu wenige äußern sich frei.“ (S. x) So gesehen gewiss ein Buch zur rechten Zeit angesichts der gegenwärtigen Vorgänge in Nah- und Mittelost und den mit lautem moralischen Gedöns untermalten, eher unbeholfen und chaotisch wirkenden Reaktionen in Europa und den USA darauf.

Gemessen an der Fülle von Literatur und Berichten anderer Medien, die das Geschehen in dieser Unruheregion im Laufe der Zeit in vielerlei Hinsicht beleuchteten und dabei bis hin zur Panikmache alle Register zogen, stellt sich natürlich die Frage, was lässt sich dem denn noch an wirklich Neuem hinzufügen? Direkt benannt werden drei Neuheiten: (1) Wie der Islamismus in Europa und in Mittelost in den letzten beiden Jahrhunderten aufkam und wie er in der Berliner Islampolitik gegen die Rivalen in der Welt- und Kriegspolitik in Mittelost Verwendung fand. (2) Eine Zusammenschau von 110 Jahren Interaktion von 1896 an, als Kaiser Wilhelm II. seine Berliner Islampolitik ersann, bis 2012, als das Revoltenjahr in Nah- und Mittelost im Wahlsieg der Islamisten mündete, und (3) wie überhaupt die Islampolitik der deutschen Reiche und Republiken beschaffen war und wirkte vom Kaiserreich an bis in die Zeit nach dem Kalten Krieg.

Den Rahmen dafür bilden 10 Kapitel, angefangen mit einem Gesprächsecho auf eine Schlagzeile, für die Bernard Lewis 2004 Anlass gegeben hatte und die besagte: „Europa wird am Ende des Jahrhunderts islamisch sein.“(S. 2) Wenn sich die Mehrheit der hier lebenden Bürger dann zum Islam bekennen würden, was soll's, könnte man meinen. Beherrschender Tenor im Gesprächsecho sind aber nicht Religionsgruppenwachstum und Migration mit daraus erwachsenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Konsequenzen schlechthin. Weit mehr heben die Reaktionen auf eine konfrontative Wahrnehmung ab, wo der Gewinn des einen nur den Verlust des anderen bedeuten kann, wo Gefahr lauert und Bedrohung an der Tagesordnung ist. Vieles von dem, was da an Gedankengängen in den letzten Jahren so ins Kraut schoss und für Furore sorgte, lässt der Autor hier Revue passieren, betont aber zugleich, dass daneben auch eine seriöse Debatte in Gang gebracht worden sei, die ergebnisorientiert geführt werden kann.

Im zweiten Kapitel wird auf „Wilhelm Islampolitik“ eingegangen. Islampolitik – eine Bezeichnung, die ziemlich hochgegriffen scheint für die kaiserliche Orientpolitik speziell gegenüber dem Osmanischen Reich. Die deutsche Hinwendung nach Konstantinopel resultierte schließlich nicht so sehr aus strategischer Weitsicht, sondern mehr aus strategischer Not heraus. Erste Wahl als Verbündeter war der osmanische Sultan und sein im Niedergang begriffenes Reich für Wilhelm II. ganz gewiss nicht gewesen. Und auch der Sultan griff auf das zurück, was er bekommen konnte, zumal eine Koalition wie im Krimkrieg zur Abwehr der zaristischen Territorialgier nicht mehr zu bilden war. Folglich war das, woran man in Berlin Interesse zeigte, nicht der Islam als solcher, sondern eigentlich die „Islam-Waffe“; der Jihad also. Ihn unter Ausnutzung der gegebenen Botmäßigkeitsstrukturen für sich im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen zu nutzen, stand oben auf der Agenda. Sicherlich hatte es einen Reiz, 300 Millionen Muslime als Gefolgschaft des Sultans auf seiner Seite zu wissen. Man dachte simpel: Der Islam bot sozusagen die Beschwörungsformeln und der Sultan-Kalif die erforderliche Autorität, um mit dem Jihad eine Art Wunderwaffe zum Einsatz zu bringen. Gefrönt wurde dem Gedanken, einfach so einen Schalter umlegen zu können, um aus Massen von Muslimen eine fanatische Totschlägertruppe rekrutieren zu können. Dass das am Ende kriegsentscheidend sein könnte, daran glaubten jedoch weder der Kaiser noch seine Generäle. Schließlich wollten sie die Entscheidung nicht im Orient, sondern anderenorts erzwingen.

Wie der Autor einschlägig belegt, war man sich in Berlin aber auch darüber im Klaren, dass man damit eine Büchse der Pandora öffnen konnte, was gerade christliche und andere nicht-islamische Minderheiten im islamischen Einzugsbereich arg in Mitleidenschaft zu ziehen drohte. Ein Risiko, das man dennoch zu wagen gewillt war, vor allem nachdem der Blitzkrieg als gescheitert betrachtet werden konnte. Religiöse und ethnische Minderheiten, Muslime eingeschlossen, zu rekrutieren und mit solchen „Mordbuben aus Busch und Steppe“ auch gegen gute Christenmenschen zu Felde zu ziehen, war bei den Entente-Mächten längst gängige Praxis. Wie sehr man sich in Berlin in die Jihad-Idee hineinsteigerte und in welchen Größenordnungen man schwelgte, zeigt u.a. der vorgestellte Jihad-Plan von Max von Oppenheim. Die Praxis sorgte allerdings schnell für Ernüchterung. Der Einsatz der „Islam-Waffe“ beeinflusste den Kriegsverlauf kaum. Überdies erschien der Obersten Heeresleitung bald eine andere Wunderwaffe erfolgversprechender – die „Bolschewismus-Waffe“. Und in der Tat zeitigte sie Resultate, die sich politisch und militärisch handfest verwerten ließen. Allerdings in puncto der gehegten Befürchtungen enttäuschte die „Islam-Waffe“ nicht, wie den Darstellungen zum entfesselten Massenmord an der armenische Minderheit zu entnehmen ist.

Namentlich benannt wird eine ganze Reihe von Personen - Deutsche, Türken, Araber und andere - , die als Protagonisten der „Islam-Waffe“ in Erscheinung traten und bei jeder nur passenden Gelegenheit ins Räderwerk der großen Politik zu greifen suchten. Auch wenn der Ausgang des Krieges ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack war, die Gegebenheiten der Nachkriegsordnung entzogen ihnen mitnichten den Boden. Das Osmanische Reich als Krisen- und Konfliktherd war wohl untergegangen und mit dem Sultan-Kalif eine wichtige Autorität und Institution verschwunden, doch taten sich umgehend neue Krisen- und Konfliktfelder auf, die das Wirken dieser Protagonisten geradezu befeuerten. Wie dies geschah, welche Neuerungen auftraten, wo Kontinuitäten in Denk- und Handlungsweisen zu verzeichnen waren und zu welchen extremen Auswüchsen es weiterhin kam, wird in den nachfolgenden Kapiteln erhellt von der Versailler Nachkriegsordnung an über das Dritte Reich, den zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg bis hin zum „Arabischen Frühling“ und die von ihm bewirkten Turbulenzen. Deutlich wird, dass die hier involvierten Protagonisten bei allem Zulauf und Abgang einen ziemlich exklusiven Klub bilden, der, wie anpassungs- und wandlungsfähig er auch immer wahrgenommen werden mochte, stets im Vorhof der Macht agieren konnte. Und bei allem heilsbringerischen Getue versäumten sie es nie, auch ihr eigenes Süppchen zu kochen. Sehr gelegen kam ihnen dabei der Umstand, dass es nie an Politikern, Militärs und sogenannten Experten mangelte, die glaubten, mit ein und der selben Tour dort Erfolg haben und „gute Deals“ machen zu können, wo andere vor ihnen schon zig Mal gescheitert waren. Das aktuelle Geschehen in und um Afghanistan führt dies deutlich vor Augen.

Im letzten Kapitel werden Leben und Werk von Bernard Lewis vorgestellt und gewürdigt. In der Tat ein Grandseigneur der modernen Orientalistik, der das Wissen um Vorgänge und Verstrickungen in Nah- und Mittelost nicht nur merklich bereicherte, sondern stets auch weiterführende Diskussionen anzustoßen wusste.

Gestützt auf zahlreiche Dokumente gewährt der Autor insgesamt einen tiefen Einblick in das Phänomen „Islamismus“ unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Verstrickung damit. Er leuchtet eine Vielzahl von Facetten aus, verweist auf Akteure und ihre Handlungen, entwirft und beurteilt Szenarien und macht Herausforderungen kenntlich, denen es sich künftig zu stellen gilt. Wer aber soll's nun richten? Appelle an die Politik erscheinen durchaus opportun, wirken aber ebenso abgedroschen. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich doch einmal mehr bewahrheitet, was man in der Antike schon wusste: Mit Leuten, die dem Alten verhaftet sind, lässt sich halt kaum Neues bewerkstelligen! Vielmehr sollte sich hier wohl die Zivilgesellschaft gefordert sehen und ein neues Betätigungsfeld bekommen. Allemal besser, als einer abendländischen Schulterschlusslogik zu huldigen, wie einst, als darum ging, die Türken vor Wien abzuwehren.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/