Titel
Zeitnot. Moskau, Deutschland und der weltpolitische Umbruch


Autor(en)
Arnim, Joachim von
Erschienen
Anzahl Seiten
560 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Der große Umbruch, der in den achtziger Jahren zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und zur Emanzipation seiner Glieder führte, begann scheinbar ohne politische Veränderungen in Moskau. Als Joachim von Arnim dort erstmals – von Januar 1982 bis Januar 1985 – die Tätigkeit in der Politischen Abteilung der deutschen Botschaft aufnahm, hatte die UdSSR der Geschichte ihrer Interventionen ein neues Exempel in Afghanistan hinzugefügt, war die Opposition in Polen niedergeschlagen worden, und das Streben der Sowjetmacht nach militärischer Überlegenheit kulminierte mit dem Versuch, die SS-20 ohne Gegenstationierung der NATO durchzusetzen. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass der Kreml die Dinge nicht mehr in der Hand hatte: Afghanistan wurde zum kräftezehrenden Desaster; in Polen hatte man sich zum Eingreifen außerstande gesehen und größte Mühe gehabt, die ängstlich zögernde Warschauer Parteiführung zur "internen Lösung" zu bewegen. Vor allem aber ließ sich die Bundesregierung nicht von der Drohkulisse des öffentlichen Protests und der Blockierung der Stationierungsorte und des Verteidigungsministeriums (wohin man nur noch per Hubschrauber gelangen konnte) einschüchtern. Das änderte die Ost-West-Situation von Grund auf: Die UdSSR war an das Ende ihrer Macht gekommen, und konnte nicht mehr so weitermachen wie bisher. Das erkannte Gorbatschow, als er im März 1985 an ihre Spitze trat: Er sah sich zu einer sicherheitspolitischen Wende veranlasst, aus der heraus sich dann die Politik der Umgestaltung (Perestrojka) insgesamt entwickelte.

Als Joachim von Arnim im März 1989 für zwei weitere Jahre nach Moskau kam, diesmal als Leiter der Politischen Abteilung, hatte der auf fundamentale Veränderungen ausgerichtete Kurs Gorbatschows sich inzwischen voll entfaltet. In welchem Maße das der Fall war, zeigte sich nicht zuletzt an dem überaus starken Interesse an einem engen, sogar freundschaftlichen Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland, die in früheren Jahren geradezu als Pariahstaat behandelt worden war. Zugleich waren die Beziehungen der UdSSR zur DDR gespannt – eine völlige Umkehrung der früheren Lage. Der Hauptgrund war der wachsende wirtschaftliche Bedarf der sowjetischen Seite, für den nur in Bonn Befriedigung zu erhoffen war. Zugleich wandelte sich die Interessenlage des Kremls im eigenen Hegemonialbereich: Nicht mehr die Behauptung der kommunistischen Herrschaft, sondern die Durchsetzung der Reformtendenz ohne Systemvorbehalt auch in den verbündeten Ländern wurde – zwecks Absicherung der Perestrojka in der Sowjetunion – zum vorrangigen Ziel. Für die deutsche Einheit bot sich damit erstmals ein "Fenster der Gelegenheit", das Bundeskanzler Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Programm vom 28. November 1989 erstmals aufzustoßen sich bemühte – zum Ärger und Entsetzen vieler: nicht nur Gorbatschows (der darin ein Problem ferner Zukunft erblickte) und natürlich der SED-Politiker in Ost-Berlin (die System und Staat gleichermaßen in Gefahr gebracht sahen), sondern auch von Verbündeten im Westen einschließlich des Kohl sonst eng verbundenen französischen Staatschefs Mitterrand.

Wie Joachim von Arnim immer wieder festzustellen Gelegenheit hatte, war in Moskau die Haltung zur deutschen Frage keineswegs einheitlich: Sie reichte von völliger Ablehnung bis zu völliger Akzeptanz. Zugleich machte er die Erfahrung, dass es auch innerhalb der eigenen Regierung zwei Ansichten gab: Während Kohl den Standpunkt vertrat, der künftige vereinigte Staat müsse so wie die bisherige Bundesrepublik eng mit dem Westen verbunden bleiben und daher NATO-Mitglied sein, folgte Außenminister Genscher einstigen FDP-Entwürfen, die als Gegenleistung an die UdSSR für die Aufgabe der DDR die Neutralisierung Deutschlands ins Auge gefasst hatten. Wie der Bundeskanzler hielt Joachim von Arnim, eine Erneuerung der Mittellage in Europa für verderblich, weil so wie schon in zwei Weltkriegen das Potenzial zur feindlichen Vereinigung der Randmächte in sich berge, und meinte zudem, auch die UdSSR werde sich – nicht zuletzt aufgrund wirtschaftlichen Bedürftigkeit – einer NATO-Regelung nicht dauerhaft verschließen. Alle Berichte dieses Inhalts verschwanden in den Ablagen des Auswärtigen Amtes.

Nach langem Ringen mit sich selbst und im vollen Bewusstsein, dass er damit seiner weiteren Karriere schadete, richtete Joachim von Arnim ein persönliches Handschreiben an Kohls leitenden Außenpolitiker, Horst Teltschik, der es dem Bundeskanzler vorlegte und daraufhin den Auftrag zu einer Ausarbeitung erhielt. Wie Teltschik in seinen später publizierten Notizen1 deutlich macht, beriet er sich mit Personen auch von außerhalb des Regierungsapparats und entwickelte zusammen mit ihnen das Konzept, das die Übereinkunft später ermöglichte. Auf diese Weise kam die deutsche Einheit nicht nur zu den gewünschten Bedingungen, sondern überhaupt erst zustande. Entscheidend dafür, dass Kohl mit der zuerst fast überall auf Widerstand stoßenden Initiative nicht scheiterte, war die Unterstützung des amerikanischen Präsidenten George Bush (Senior). Für ihn – und für alle Verbündeten, die er zur Zustimmung zu deutschen Einheit oder zumindest zu ihrer Hinnahme bewegen konnte – kam von vornherein kein neutrales Deutschland in Betracht, das Europa wie früher durch eine nicht vorhersehbare, schwankende Haltung in Unruhe und Unsicherheit versetzen konnte. So sahen das auch die sich vom Kommunismus befreienden politischen Kräfte in den östlichen Nachbarstaaten. Ein großes, vereinigtes Deutschland in der Mitte des Kontinents war nur akzeptabel, wenn es an die NATO gebunden war und damit die Gewähr der Zusammenarbeit bot.

Das Buch stellt die besonderen, sich in den achtziger Jahren allmählich verändernden Arbeits- und Existenzbedingungen der auswärtigen Diplomaten in Moskau und die dabei gemachten überaus interessanten Erfahrungen nicht nur eindrücklich dar, sondern erläutert auch die sowohl inhaltlichen als auch personellen Zusammenhänge der sowjetischen Politik, ohne dass andere Quellen zugrunde liegen als die amtlichen Stellungnahmen und Publikationen der UdSSR, die Joachim von Arnim seinerzeit auswerten konnte. Verschiedentlich zitiert der Autor auch direkt aus den Berichten, die er damals nach Bonn schickte. Auf diese Weise erfährt der Leser, was der westdeutschen Seite aus ihrer Botschaft über die aufregenden Vorgänge im Kreml bekannt wurde, und erhält ein Bild mit historischer Tiefenschärfe, das – höchst ungewöhnlich – trotz der fehlenden internen Unterlagen des analysierten Akteurs fast total den Aussagen der inzwischen ans Licht gekommenen Zeugnisse aus russischen Archiven entspricht. Die Methode, aufgrund derer dieses treffsichere Urteil zustande kommt, wird eingangs dargelegt: die damals viel belächelte, aber eben doch für zu ziehende Rückschlüsse brauchbare "Kremlologie", die in der Sowjetunion noch vielfach bis weit in die Perestrojka-Periode ein zentrales Instrument zur Gewinnung von Erkenntnissen über die dortige Politik war, weil die den Diplomaten in anderen Ländern gebotenen informellen Informationskanäle weithin fehlten. Joachim von Arnim war ein Meister dieser analytischen Kunst, so dass sein Erinnerungsbericht auch eine Fundgrube ist für alle, die nicht nur wissen wollen, was damals im Kreml gelaufen ist, sondern auch daran interessiert sind zu erfahren, wie zeitgenössische Beobachter sich darüber ein Urteil zu verschaffen vermochten.

Anmerkung:
1 Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991.

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