In der Reihe „Monographs in German History“ veröffentlicht der Berghahn-Verlag regelmäßig innovative Arbeiten erfahrener und junger Wissenschaftler. „Fragmented Fatherland“, der 34. Band der Reihe, ist die erste Monographie des am King’s College London lehrenden Historikers Alexander Clarkson. Er untersucht, wie die Bundesregierung, die Parteien und die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik von 1945 bis 1980 mit dem politischen Aktivismus verschiedener Emigrantengruppen umgingen. Dazu betrachtet er in fünf Kapiteln die „Diaspora-Politik“ von Ukrainern, Kroaten, Spaniern, Algeriern, Griechen und Iranern. Diese emigrierten nach 1945 entweder als „Displaced Persons“ in die westlichen Besatzungszonen (bzw. waren als ehemalige Zwangsarbeiter ohnehin schon dort) oder als „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik. Sie kamen aus nicht demokratischen Staaten und brachten die Konflikte aus ihren Heimatländern mit in ihr neues „Gastland“. Dort nutzten sie die Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, um aus dem Exil heraus gegen die Unterdrückung in ihren Herkunftsländern zu demonstrieren, wobei sie die Unterstützung der Bundesregierung sowie linker oder konservativer Kreise suchten. Diese reagierten sehr unterschiedlich auf den politischen Aktivismus von Migranten. Die Ursachen dafür sucht der Autor zum einen in dem sich ab 1947 ausweitenden Kalten Krieg, zum anderen im Umgang mit der deutschen Vergangenheit und persönlichen Kontakten aus der Zeit des Nationalsozialismus.
Clarkson präsentiert eine mehrdimensionale Analyse des politischen Engagements der einzelnen Migrantengruppen, die den Einfluss interner und externer Prozesse gleichermaßen berücksichtigt. Er untersucht, wie die sozialen Folgen der Immigration von 1945 bis 1980 und die ideologische Auseinandersetzung in der vom Kalten Krieg geprägten Bundesrepublik zusammenwirkten. Welche Bedeutung hatten politische Bewegungen innerhalb der Immigrantengemeinschaften für die Geschichte der Bundesrepublik? Der Autor kombiniert drei sehr elaborierte Forschungsbereiche der Zeitgeschichte: die sozialhistorisch geprägte Migrationsforschung der Bundesrepublik, die Politikgeschichte des Ost-West-Konflikts und die Kulturgeschichte des Umgangs mit der NS-Vergangenheit. Diese drei Bereiche bilden zugleich den roten Faden, der sich durch die sehr gut strukturierte Arbeit zieht und anhand derer hier einige interessante Aspekte der Studie erläutert werden sollen.
Clarkson gelingt es, die sozioökonomischen Folgen der Einwanderung mit politischen Prozessen innerhalb der Migrationsgemeinschaften und der Bundesrepublik in Verbindung zu setzen. Er zeigt, welchen Einfluss die demographische Struktur, die soziale und politische Diversität oder die „Rückkehrorientierung“ einer Gemeinschaft auf deren politischen Aktivismus hatten. So wuchsen die spanische, griechische und kroatische Gemeinschaft in den 1960er-Jahren aufgrund der Gastarbeiterabkommen, wodurch der politische Protest dieser Gruppen gestärkt wurde. Die ukrainischen Nationalisten, die nach 1945 in die westlichen Besatzungszonen emigriert waren, hatten hingegen durch die Blockbildung im Ost-West-Konflikt erhebliche „Nachwuchsprobleme“ in den 1960er-Jahren, was sich negativ auf den politischen Einfluss auswirkte. Die Basis der spanischen, griechischen und kroatischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik bildeten vorwiegend Arbeiter. Die SPD nutzte dies, um über den Deutschen Gewerkschaftsbund und die Friedrich-Ebert-Stiftung Kontakt zu spanischen und griechischen „Gastarbeitern“ aufzubauen. Die Sozialdemokraten wollten den Widerstand gegen das Franco-Regime und gegen die griechische Militärdiktatur innerhalb der Arbeiterschaft stärken. Aus dem Rahmen fiel dagegen die Gruppe der Exiliraner: Diese bestand hauptsächlich aus Studenten, welche enge Kontakte mit der Außerparlamentarischen Opposition (APO) knüpften. Ihr Protest gegen den Schah Ende der 1960er-Jahre wurde dadurch zu einem Motiv der westdeutschen Studentenbewegung. Was alle Gemeinschaften verband, war eine starke „Rückkehrorientierung“, wodurch sich die Migrationsgemeinschaften im politischen Kampf gegen die Unterdrückung in der Heimat konsolidierten.
Einen Schwerpunkt der Analyse legt Clarkson auf die Arbeit westdeutscher Sicherheitsbehörden und den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Sowohl die ukrainischen als auch die kroatischen Nationalisten hatten während des Zweiten Weltkriegs auf deutscher Seite gekämpft. Allerdings gelang es nur den Ukrainern, in dieser Zeit enge Verbindungen zu konservativen Eliten des „Dritten Reiches“ aufzubauen, woraus nach 1945 ein gut organisiertes Netzwerk aus Vertriebenenverbänden, „Ostforschern“, CDU/CSU-Politikern sowie Personen innerhalb der Sicherheitsbehörden entstand, welches die Ukrainer finanziell und ideologisch im Kampf gegen das sozialistische Regime in der Heimat unterstützte. Den Kroaten fehlten solche Kontakte, so dass sich Konservative in den 1950er-Jahren gerade aufgrund der unrühmlichen Waffenbrüderschaft des Zweiten Weltkriegs von den radikalen Tito-Gegnern distanzierten. Zudem zeigt sich, dass alle untersuchten Gemeinschaften Analogien zur NS-Zeit als rhetorische Waffe nutzten, um das eigene Handeln zu legitimieren und den politischen Gegner zu diskreditieren. Die iranische Opposition und die APO betrachteten das Regime des Schahs als faschistische Diktatur, die von der „reaktionären Bundesrepublik“ gestützt werde – so verschmolzen die Proteste gegen den Schah mit den Protesten gegen das westdeutsche „Establishment“. Insgesamt verdeutlicht Clarkson, dass es zwar während des gesamten Untersuchungszeitraums immer noch mentale Kontinuitäten, ja Rassismus innerhalb der Behörden gab, dass dies aber nicht primär entscheidend war für den Umgang mit ausländischen Aktivisten.
Maßgeblich war vielmehr, so der Autor, die außenpolitische Strategie der jeweiligen Bundesregierung im Rahmen des Ost-West-Konflikts. Der strikte Antikommunismus sowie die gemeinsame Ablehnung der Grenzbestimmungen von Jalta verbanden die ukrainischen Nationalisten mit der Politik der frühen Adenauer-Regierung. Erste Risse zeigten sich jedoch bereits 1955, als die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen zur UdSSR aufbaute. Mit dem gesellschaftlichen und politischen Wandel in der Bundesrepublik und dem Regierungswechsel in Bonn 1969 verloren die Ukrainer endgültig an Rückhalt. Der Antikommunismus der kroatischen Nationalisten wurde zwar grundsätzlich begrüßt, da man ab Mitte der 1960er-Jahre in Bonn die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien aufwerten und damit das Tito-Regime weiter aus dem Ostblock lösen wollte, doch wurde eine Unterstützung dieser radikalen Gruppierung, die auch vor gewalttätigen Anschlägen nicht zurückschreckte, abgelehnt. Die SPD unterstützte die spanischen und griechischen Arbeiter, weil es in das außenpolitische Konzept Willy Brandts passte, die sozialistische Internationale zu konsolidieren und durch die Stärkung der demokratischen Linken eine Radikalisierung der Spanier und Griechen hin zum Kommunismus zu verhindern. Anders bei den Exiliranern: Deren Protest wurden seitens der Bundesregierung bekämpft, weil der Iran ein wichtiger Verbündeter gegen die Sowjetunion war und man in der Verbindung zur APO den vermeintlich langen Arm der Staatssicherheit wirken sah.
Clarkson zeigt, dass die Bundesregierungen Migranten von Anfang an als politische Akteure wahrnahmen und auf deren Protest nicht nur reagierten, sondern, wenn sich die politischen Ziele deckten, mit diesen interagierten. Die Bonner Entscheidungsfindung im Umgang mit politischen Aktivisten war dabei sehr unterschiedlich und wurde weniger durch die Vergangenheit des NS-Regimes bestimmt als vielmehr durch die Gegenwart des Ost-West-Konflikts. Der Autor präsentiert damit eine vielschichtige Collage, in der die Zusammenhänge zwischen sozialen, kulturellen und politischen Faktoren offengelegt und gegenübergestellt werden.
Abschließend vertieft Clarkson die Rolle religiöser Institutionen für die Interaktion zwischen Staat und Migranten. Die Bundesregierungen versuchten während des Ost-West-Konflikts durch die Stärkung religiöser Institutionen den Einfluss säkularer und damit vermeintlich marxistischer Strömungen innerhalb der türkisch-kurdischen Migrationsgemeinschaft zurückzudrängen. Der Autor leitet daraus die Hypothese eines „blowback“ (S. 187) ab, wonach die Bundesregierung mit dieser Politik die Entstehung des religiösen Fundamentalismus indirekt gefördert habe, ähnlich der Unterstützung islamischer „Gotteskrieger“ in Afghanistan durch die CIA im Kampf gegen die Sowjetunion in den 1980er-Jahren. Karin Hunn hat vor einigen Jahren eine ähnliche These vertreten, die mit Blick auf die Rolle des traditionellen Islams und des Nationalismus innerhalb der türkischen Gemeinde überzeugt, nicht aber für den islamischen Fundamentalismus. Dabei handelt es sich um ein globales Phänomen, das verschiedene Gesellschaftsschichten betrifft und kein Spezifikum der türkischen Gemeinschaft ist.1 Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Autor, der auf die Perspektive westdeutscher Sicherheitsorgane einen Schwerpunkt legt, jüngste Forschungen zu diesem Bereich nicht berücksichtigt hat.2 Diese Hinweise schmälern aber nicht den Nutzen der Studie, die insgesamt einen positiven Eindruck hinterlässt. Alexander Clarkson ist es gelungen, ein sehr komplexes Thema umfassend und präzise zu analysieren. So leistet er einen kenntnisreichen Beitrag zur Erforschung der bundesdeutschen Geschichte und der frühen „Einwanderungsgesellschaft“.
Anmerkungen:
1 Siehe Karin Hunn, „Nächstes Jahr kehren wir zurück...“. Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik, Göttingen 2005, S. 423–451.
2 Was 2005 mit der Unabhängigen Historikerkommission zum Auswärtigen Amt begann, hat mittlerweile auch den Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt erfasst und durch die Öffnung zuvor geheimer Archive sehr interessante, teils kontrovers diskutierte wissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte der frühen Bundesrepublik hervorgebracht. Siehe etwa Eckart Conze u.a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010; Imanuel Baumann / Andrej Stephan / Patrick Wagner, (Um-)Wege in den Rechtsstaat. Das Bundeskriminalamt und die NS-Vergangenheit seiner Gründungsgeneration, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9 (2012), S. 33–53, URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Baumann-Stephan-Wagner-1-2012> (1.2.2014); Christian Mentel (Hrsg.), Auftragsforschung und NS-Aufarbeitung, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2012 (überarb. Dezember 2013), URL: <http://www.zeitgeschichte-online.de/themen/auftragsforschung-und-ns-aufarbeitung> (1.2.2014). Leider findet dieser junge Forschungsbereich staatlich initiierter historischer Auftragsarbeiten im vorliegenden Buch keine Berücksichtigung.