Die Untersuchung von Urs Hafner stellt eine Aufarbeitung des Forschungsstandes zur Geschichte der Heimerziehung dar. Dabei ist der Titel insofern etwas irreführend, als es allein um die schweizerische Organisation und Begründung der Anstaltsversorgung geht. In den letzten zehn Jahren ist in der Schweiz zu dieser Thematik mit Blick auf das ausgehende 19. und 20. Jahrhundert relativ viel geforscht worden, meistens jedoch nicht explizit hinsichtlich der Anstaltsversorgung, sondern vielmehr zum gesellschaftlichen Umgang mit (spezifischen Gruppen von) Kindern und Jugendlichen.1 Seit den frühen Arbeiten von Schoch, Tuggener und Wehrli 2 lag bei der Untersuchung der gesellschaftlichen Konzepte für Kinder, die keine Familien besaßen oder diesen weggenommen wurden, der Schwerpunkt auf der Gesamtheit der Fremdplatzierungen. Die Anstaltsversorgung war dabei eine Variante, die sich in den Schicksalen der Kinder oftmals mit anderen Formen (Platzierung in fremden Familien, als Arbeitskraft in Bauernbetrieben usf.) kombinierte. Insofern stellt die Perspektive von Urs Hafner eine Systematisierung der Ergebnisse einer vielfältig orientierten Forschung im Hinblick auf die Anstaltsversorgung, ihre Begründungsdiskurse und alltägliche Ausgestaltung dar.3
Auch wenn Hafner zu Recht festhält, dass die Perspektive der Kinder in Heimen kaum dargestellt werden kann, weil diesbezügliche Quellen fast vollständig fehlen, gelingt es ihm mit einer konsequent auf die Fragen des Anstaltslebens fokussierten Lektüre der relevanten Forschungsliteratur, ein eindrückliches Bild zu entwerfen. Dieses tritt Leserinnen und Lesern als eines für die Kinder und Jugendlichen freud- und lieblosen, beängstigenden, entmutigenden und stigmatisierenden Alltags entgegen. Darin liegt denn auch die eigentliche Botschaft des Buches: Es soll deutlich werden, wie groß das Unrecht war, das an den in Anstalten versorgten Kindern und Jugendlichen verübt wurde, und welche Systematik dasselbe besaß.
Die Konzeption des Buches ist vielversprechend. Kapitelüberschriften wie die "Gnade des Spitals", das "Regime des Waisenhauses", die "Utopie der Rettungsanstalt" zeigen eine an interpretatorischer Arbeit orientierte Strukturierung. Nur das letzte Kapitel trägt eine missverständliche Bezeichnung, da von der "Transformation des Heimes" gesprochen wird, obwohl im Wesentlichen die strukturellen Charakteristiken der Anstalt des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert werden. Angesichts des Titels hätte man ein stärkeres Gewicht auf der Zeit des Wandels erwartet, die – wie Hafner festhält – mit der Heimkampagne und dem sich verändernden gesellschaftlichen Klima in den 1970er-Jahren einsetzt. Das Buch wird durch einen Anhang ergänzt, der eindrückliche Bilder und Reportagen aus dem Anstaltsleben wiedergibt. Dieser wie auch die Tatsache, dass der Autor in einem gut lesbaren Stil schreibt, verstärkt den nachhaltigen Eindruck, den die bedrückenden und empörenden Inhalte des Buches bei der Lektüre hinterlassen.
Als kritische Anmerkungen zum Vorgehen von Urs Hafner können die folgenden Aspekte gelten: Erstens rekurriert der Autor, wie dies in sozialgeschichtlichen Darstellungen zur schweizerischen Geschichte häufig geschieht, ab und zu dort, wo der schweizerische Forschungsstand keine oder zu wenige Auskünfte liefert oder wo mächtige Deutungen aus deutschen Untersuchungszusammenhängen für die untersuchten Phänomene vorliegen, auf Ergebnisse und Theoretisierungen deutscher Studien. Dabei geht zumindest die explizite Frage, inwieweit diese auf die schweizerischen Verhältnisse übertragbar sind, verloren.4 Weiter werden regional gewonnene Erkenntnisse nicht immer in ihrem regionalen Kontext interpretiert, sondern manchmal auch zu allgemeinen Aussagen geformt, ohne dass reflektiert wird, ob derartige Verallgemeinerungen zulässig sind.5 Sehr zu Recht und bedingt durch die Entstehungszusammenhänge der Studie betont Hafner die Relevanz der religiösen Diskurs- und Handlungszusammenhänge.6 Auch arbeitet er Unterschiede zwischen protestantischen und katholischen Begründungslogiken und Praktiken heraus. Warum er aber einen besonderen Fokus auf die protestantische Ethik und ihre Anwendung auf die Erziehung von Kindern in Heimen legt und daneben die katholische Fundierung des Anstaltslebens etwas blass und partikular bleibt, wäre jedoch zu begründen. Das Zusammenspiel zwischen religiös begründeten Heimen und staatlichen bzw. kommunalen Behörden wird ebenfalls nicht systematisch diskutiert.
Für die vorreformatorische Zeit zeigt Hafner, dass Kinder wie Erwachsene vor allem aus Armutsgründen und insbesondere bei Unfähigkeit zu betteln in ein "Spital" gebracht wurden. Er betont, dass Kinder kaum getrennt von Erwachsenen oder anders als diese behandelt wurden. Trennlinien gab es eher zwischen den "eigenen" und den "fremden" Armen. Für diese Zeit ist die schweizerische Forschungsliteratur aber insgesamt karg.
Mit der Reformation hielt in protestantischen Gebieten das Arbeitsethos Einzug in die Sicht auf Bedürftige. Die Aufnahme in eine Anstalt galt nun verstärkt der Hinführung zur Arbeit. Dass dies für unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Anstaltstypen bedingte, zeigt sich für Kinder und Jugendliche in der Herausbildung des "Zucht- und Waisenhauses". Dieses sollte sie zur regelmäßigen Arbeit erziehen. Überhaupt sollte auf gutes Verhalten eingewirkt werden: Neben der Arbeitsamkeit betraf dies auch Fragen der Hygiene und Praktiken eines gläubigen Lebens (Kirchgang, Gebete etc.). Noch war es aber nicht die "Sittlichkeit" von Kindern und Jugendlichen, noch wurde nicht auf ihre "Innerlichkeit" abgezielt. Vielmehr sollte eine Angepasstheit anerzogen werden, die insbesondere am Arbeitsverhalten, am Kirchgang und an der Botmäßigkeit gegenüber Oberen gemessen wurde. – Inwiefern in dieser Zeit in katholischen Regionen das vorreformatorische Dispositiv unverändert beibehalten wurde, wird nicht diskutiert; insgesamt bleibt das Bild der Entwicklung und Charakteristiken katholischer Anstalten punktuell.7
In der sich herausbildenden Moderne im 19. Jahrhundert diente die Anstalt der Verbesserung und Perfektionierung von jungen Menschen, die insbesondere aufgrund ihres sozialen Umfeldes als "sittlich gefährdet" galten. Die Heime waren mehrheitlich im Familiensystem organisiert. Weiterhin blieb das korrekte Verhalten wichtigster Indikator für die Beurteilung von jungen Menschen. Problematisch eingestuftes Verhalten wurde zunehmend als in der Persönlichkeitsstruktur verankert interpretiert, was die Anstalt zur "Rettungsanstalt" werden ließ. Ein von der Anlage her pädagogisches Verständnis stand derselben Pate, allerdings waren die Konzepte, die diese Rettung bewirken sollten, nicht fördernd und unterstützend. Vielmehr waren sie gemäß Hafner gekennzeichnet durch religiösen Eifer, der in Kindern Sünder erkannte, die mit (körperlichen) Strafen, Aufforderung zum Buße tun und Liebesentzug zur Läuterung geführt werden mussten. Als Läuterung anerkannt wurde die widerspruchslose Akzeptanz willkürlicher Maßnahmen seitens der Erziehungsberechtigten. Dieses Konzept wurde mehrheitlich in protestantisch, pietistisch und freikirchlich geführten Anstalten verfochten und umgesetzt. Katholische Anstalten sieht Hafner als Imitationen der reformierten Institutionen, mit dem Unterschied, dass die katholischen von Ordensschwestern geführt und meist nicht im Familiensystem organisiert wurden. Während in der Tendenz die protestantischen Anstalten bzw. Heime auf die Integration der Kinder in die Gesellschaft und den Staat gerichtet gewesen seien, seien die katholischen Anstalten am Kloster und dem Diesseits orientiert gewesen.
Die Entwicklungen seit den 1970er-Jahren, als die gesellschaftliche Kritik an der Heimerziehung zu greifen begann, ist als eine Pluralisierung von Ansätzen, Konzepten und Praktiken dargestellt, die einen Beitrag zum Umdenken und verändertem Handeln gelegt haben: Zum einen ist es die Anstaltskritik selbst, die einerseits von ehemaligen Insassen und andererseits von Theoretikern formuliert worden ist. Einem der frühesten Opfer, die sich als Kritiker an die Öffentlichkeit wandten, C. A. Loosli, wird in der Studie Raum gegeben. Die voranschreitende Säkularisierung wird – konsequent aus der These der starken Bedeutung insbesondere der protestantisch begründeten Anstalten – als den Wandel begünstigend hervorgehoben. Daneben wird die Umorientierung der Erziehungsprinzipien ins Feld geführt. Schließlich wird auch der Schock erwähnt, der durch das Bekanntwerden der Aktion "Kinder der Landstraße" in den 1970er-Jahren ausgelöst wurde: In diesem Programm hatte die bis dann hoch angesehene Stiftung "Pro Juventute" Fahrenden während rund fünfzig Jahren ihre Kinder entrissen und in Heime gesteckt. Mit diesen initialen Ereignissen für eine veränderte Haltung der Öffentlichkeit gegenüber dem, wie mit Kindern und Jugendlichen von sozial oder kulturell benachteiligten Bevölkerungsgruppen umgegangen wurde, endet die Darstellung von Urs Hafner. Nicht abgeschlossen ist aber die dadurch eingeleitete Entwicklung, die den Opfern Gehör verschafft und ihnen Mut gegeben hat, sich öffentlich als solche zu deklarieren und die eigene Geschichte zu erzählen: Verdingkinder, Anstaltsversorgte, Sterilisierte finden Worte, ihre traumatischen Kindheitsjahre und deren oftmals schwere Folgen zu erzählen. Aufgabe der Forschung ist es künftig, die aufgespannten dunklen Felder neu zu beleuchten.
Anmerkungen:
1 Die Revision der schweizerischen Geschichte zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich mit den Forschungen im Rahmen der sogenannten Bergier-Kommission auf die außenpolitische Situierung der Schweiz, mit eingeschlossen die Flüchtlingspolitik. Sowohl in der Geschichtswissenschaft wie in der Gesellschaft erwuchs aber aus den dabei formulierten Ergebnissen wie auch aus den erbitterten politischen Debatten die Forderung, den Blick nun nach innen zu lenken und dies insbesondere mit dem Fokus auf die integrativen und exkludierenden gesellschaftlichen und politischen Praktiken in der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Darauf hat unter anderem das Nationale Forschungsprogramm NFP 51 zu "Integration und Ausschluss" reagiert: www.nfp51.ch (22.05.2012).
2 Jürg Schoch / Heinrich Tuggener / Daniel Wehrli (Hrsg.), Aufwachsen ohne Eltern. Aufwachsen ohne Eltern. Verdingkinder, Heimkinder, Pflegekinder, Windenkinder. Zur ausserfamiliären Erziehung in der deutschsprachigen Schweiz, Zürich 1989.
3 Es wird hier die der Studie zugrunde liegende Literatur nicht referiert. Sie ist im Buch selbst umfassend dokumentiert. Ergänzend sei Guadench Dazzi / Sara Galle / Andréa Kaufmann / Thomas Meier (Hrsg.), Puur und Kessler: Sesshafte und Fahrende in Graubünden, Baden 2008, genannt.
4 Vgl. als Beispiele Hafner, Heimkinder, S. 24 der Bezug auf Dinges und S. 27-28 zu Konzeptionen Joan Luis Vives.
5 Vgl. etwa Hafner, Heimkinder, S. 51-53. Die Forschungen im Rahmen des NFP51 zur Eugenik haben gezeigt, dass regionale bzw. lokale Unterschiede relevant sind und nicht in unwesentlichen Aspekten die Deutungszusammenhänge korrigieren. Vgl. die Schlussfolgerungen in Hauss u.a., Eingriffe ins Leben. Fürsorge und Eugenik in zwei Schweizer Städten (1920 – 1950), Zürich 2012 (im Druck).
6 Urs Hafner erarbeitete sein Buch im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes 58 "Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft": <www.nfp58.ch>.
7 Sollte dieser Sachverhalt der schwierigen Forschungslage geschuldet sein, wäre es sinnvoll gewesen, dies so zu vermerken.