M. Borgolte u.a. (Hrsg.): Integration und Desintegration

Titel
Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter.


Herausgeber
Borgolte, Michael; Dücker, Julia; Müllerburg, Marcel; Schneidmüller, Bernd
Reihe
Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 18
Erschienen
Berlin 2011: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
XXI, 612 S.
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kordula Wolf, Deutsches Historisches Institut Rom

Transkulturelle Fragestellungen, methodische Reflexion, selbstorganisiertes Projekt- und Disziplingrenzen überschreitendes Arbeiten von Nachwuchswissenschaftler/innen, kollaboratives Schreiben, Fallstudien, die einen großen geografischen Raum (von Skandinavien bis Nordafrika, von der Iberischen Halbinsel bis zur Kiever Rus’) und zeitlich das 9. bis 16. Jahrhundert in den Blick nehmen – nichts weniger als das vereint der über 600 Seiten umfassende Ergebnisband des im Juni 2011 ausgelaufenen Schwerpunktprogramms (SPP) 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“. Er legt damit eindrucksvoll Rechenschaft ab über die zweite Laufzeithälfte (2008-2011) dieser überregional strukturierten und experimentierfreudigen mediävistischen Forschungskooperation.

Spürbar haben die aktuellen Debatten über Globalgeschichte, postkoloniale Theorien und Transkulturaliät während des sechsjährigen Förderzeitraums zu Verschiebungen im wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse innerhalb des SPP geführt. Dass Europa mit keiner Einheitskultur gleichzusetzen ist und als geografischer Raum nicht klar umrissen werden kann, ist inzwischen zur opinio communis geworden; ebenso bedarf Disziplingrenzen überschreitendes Arbeiten und das Abfassen wissenschaftlicher Texte im Autorenkollektiv heute offenbar – und anders noch als im ersten Ergebnisband „Mittelalter im Labor“1 – keiner besonderen Begründung mehr. Wie aus der „Bilanz des Aufbruchs“ am Ende des Bandes (S. 561-586) hervorgeht, führte die Einsicht in den Prozesscharakter von Kultur sowie in die Durchlässigkeit und Flexibilität von Kulturgrenzen zu einem intensiven Nach- und Umdenken. Versteht man Kultur und entsprechend auch den Raum als soziale Praxis, so kann nur die Komplexität permanenten kulturellen Wandels Gegenstand kulturgeschichtlicher Forschung sein (S. 563f.). Auch für die Begriffe Integration und Desintegration ist nun nicht mehr ein Bezug auf ein überwölbendes Ganzes (Gesellschaft, Kultur etc.) ausschlaggebend, sondern die im sozialen Handeln vollzogene Bestimmung des Selbstverhältnisses einer Gruppe durch Abgrenzung nach außen (S. 565-567). In diesem Sinne verfolgt „[d]er Ansatz ,Integration und Desintegration der Kulturen‘ […] nicht mehr Akteure, Gruppen oder Objekte als ,Wanderer zwischen den Welten‘, sondern betrachtet diese […] in ihren unterschiedlichen Beziehungsgeflechten mit ihren wechselnden Sinnzusammenhängen und sich wandelnden Identitäten“ (S. 571).

Anknüpfend an diese Prämissen präsentiert der Band anhand ausgewählter Themenfelder Ergebnisse, die aus 24 Einzelprojekten und deren Bündelung in 7 Arbeitsgruppen hervorgingen. Europas Inhomogenität im Speziellen und kulturelle Hybridität im Allgemeinen werden dynamisch „als Resultat von Abgrenzungen, die ständig neu vollzogen, neu ausgehandelt und dabei verschoben werden“ (S. 9), analysiert. Dabei rücken mit Grenzziehungen, deren situativer Aushandlung sowie deren Überschreitung drei zentrale Aspekte kultureller Integrations- und Desintegrationsprozesse in den Mittelpunkt. Entsprechend gliedert sich der Band in drei große Abschnitte. Diese wiederum bestehen aus jeweils zwei bis drei in sich geschlossenen Kapiteln, die von einer kollektiv verfassten Einleitung und einem vergleichenden Schlussteil gerahmt werden und deren Kern mehrere Fallstudien bilden.

Ohne an dieser Stelle auf Einzelergebnisse im Detail eingehen zu können, seien in der gebotenen Kürze doch wenigstens selektiv einige der in den Arbeitsgruppen herausgearbeiteten Resultate hervorgehoben. Der erste Abschnitt „Formen der Grenzziehung – Konstruktion von Identität“ (S. 15-258) ist trotz unterschiedlicher Untersuchungsgegenstände, -zeiträume und Analysekategorien im Endergebnis recht kohärent. Denn in allen drei Kapiteln (S. 17-102, 103-192, 193-258) wird verdeutlicht, dass Prozesse der Identitätsbildung mit ihrem Einheit stiftenden wie distinktiven Charakter als Selbst- und Fremdkonstruktion eine Reaktion auf Veränderungen im Erfahrungs-, Wertungs- und Deutungshorizont der betreffenden Gruppen darstellten und allgemein als Resultat kultureller und religiöser Veränderungen gewertet werden können.

Analytisch nicht klar vom ersten Abschnitt zu trennen, aber stärker darauf orientiert, dass Abgrenzungen auch immer wieder neu ausgehandelt werden, bündelt der zweite Abschnitt unter dem Thema „Differenz als kulturelle Praxis“ (S. 259-381) Untersuchungen zu Religionsdialogen des 12. Jahrhunderts (S. 261-324) und zu Konzeptionen des ‚Heidnischen‘ in volkssprachigen literarischen und chronikalischen Texten des 13. Jahrhunderts (S. 325-381). Auf der einen Seite werden Erkenntnismöglichkeiten (und -grenzen) bei der Untersuchung von Religionsdialogen, die eben nicht mit einem interreligiösen Gespräch unter gleichberechtigten Partnern gleichzusetzen sind, sondern als von christlichen Autoren verfasste literarische Dialoge bestimmten Argumentationsstrategien folgen, herausgearbeitet. Dass sowohl eine ‚harmonisierende‘ als auch eine ‚konfrontative‘ Lesart dieser Texte nur zwei Seiten einer Medaille sind, lässt sich durch die ambivalente Funktion der Vernunft bzw. die Dialektik zwischen Glaubenswahrheit und Vernunft erklären (S. 316). Auf der anderen Seite wird gezeigt, wie in den überlieferten Texten die christlich-mittelalterliche Sicht auf Heiden bzw. Heidentum jenseits fest definierter Kategorien wie Christen(tum) und Heiden(tum) und unter Berücksichtigung semantischer Verschiebungen gewinnbringend in ihrer Multiperspektivität untersucht werden kann.

Unter dem Titel „Grenzüberschreitung als kreativer Prozess“ (S. 383-557) nimmt der dritte Abschnitt Prozesse in den Blick, bei denen Akteure und Objekte kulturelle Grenzen überschreiten. Dabei versteht sich das erste Kapitel (S. 385-466) „als Beitrag einer allgemeinen Theorie- und Modellbildung zum mittelalterlichen Kulturtransfer“ (S. 386f.) und sucht durch die Kombination mit einem komparatistischen Ansatz nach „neue[n] Erklärungszugänge[n] zur Vielschichtigkeit der sich im Mittelalter verdichtenden Kulturräume“ (S. 385). Zu Recht wird hier die Verbindung von prozessorientierter Analyse des Transfers und Wirkungsanalyse unter Berücksichtigung von Trägergruppen und Transfersystemen gefordert, so dass auf dieser Grundlage dann auch in komplexer Weise Rezeptionsverläufe, Transferkausalitäten und Vermittlungstypen verglichen werden können (S. 393f., 413-416). Das Problem distinkter Sender- und Empfänger-Kulturräume als Voraussetzung für eine Untersuchung des Entnehmens, Übertragens und Integrierens fremder Kulturelemente kann in der Tat nur umgangen werden, indem offen gelegt wird, welche Kriterien und Raumkonzepte dem heuristischen Konstrukt der Kulturräume, -areale, -bereiche zu Grunde liegen (S. 402-405). Weiterführend, aber in den Fallbeispielen nicht ausreichend transparent umgesetzt, ist dabei der Vorschlag, eine Eingrenzung der Referenzräume auf der Basis von mehreren gemeinsamen Elementen mit kulturellen Eigenschaften von langer Dauer vorzunehmen (S. 404, 424f.). Inwieweit Kulturtransfers eine (oder gar die?) zentrale Rolle im Prozess der frühen Staatsbildung und Verräumlichung Europas (S. 448f.) spielten, wird sicherlich weiter zu diskutieren bleiben. Das zweite Kapitel des letzten Abschnitts (S. 467-557) untersucht anhand von Klimazonenkarten, Siegeln und Architekturformen „Aspekte und Bedingungen von Hybridisierung in transkulturellen Kontaktsituationen des Mediterraneums“ (S. 472). Der Vergleich führt dabei unter anderem zur Einsicht, dass Herrschafts-, Handels- und Wissenseliten intentional oder nicht-intentional wichtige Auslöser für Hybridisierungsprozesse waren und Seestädte als Handelszentren wohl in besonderer Weise die Vermischung kultureller Elemente beförderten (S. 541).

Alle Kapitel veranschaulichen, wie sehr neben theoretischer Reflexion auch Teamwork sowie komparatistisches Arbeiten für die Komplexität der untersuchten Phänomene und Prozesse sensibilisieren. Bandübergreifend wird zudem deutlich, dass der historische Vergleich bei aller Kritik für transkulturell und transdisziplinär ausgerichtete Forschungen fruchtbar gemacht werden kann. Selbst wenn die Heterogenität der Teilstudien nur in begrenztem Maße eine Typisierung des Verglichenen ermöglicht, so kann doch unter bewusstem Verzicht auf Angleichung unterschiedlicher Untersuchungsgegenstände, Arbeitsweisen und Methoden eine stark fallorientierte und fragengeleitete Vergleichsstrategie angewendet werden. Es ist deshalb auch kein Manko, sondern vielmehr eine Stärke, wenn die herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten (und Divergenzen) immer wieder Relativierungen erfahren, unter Hinweis etwa auf die Kontextgebundenheit der untersuchten Texte, die Problematik der Quellenauswahl, die durch die Fragestellung geleitete Perspektive etc. An manchen Stellen hätte vielleicht der aus der Verzahnung von Einzelfallanalysen und kollektiv verfassten Beiträgen resultierende Erkenntnisgewinn durch einen (über den Methodendiskurs hinausgehenden) stärkeren Bezug zum aktuellen Forschungsstand deutlicher gemacht werden können.

Das hohe reflexive Niveau der Beiträge, die intensiven Überlegungen zu verwendeten Begriffen, methodischen Grundlagen und thematischen Zuschnitten sowie die praktische Umsetzung in Detailstudien lassen den Band zu einer anspruchsvollen und anregenden Lektüre werden. Zumindest in einem Punkt sollten sich nicht nur Vertreter/innen der mediävistischen Disziplinen herausgefordert fühlen, es den Autor/innen dieses Bandes nachzutun: die Konsequenzen, die mit dem Abschied von einem holistischen Kulturbegriff einhergehen, ernst zu nehmen und zu versuchen, sich das komplexe, durch soziales Handeln immer wieder neukonstituierte „Bedeutungsgewebe“ (Clifford Geertz, Max Weber; S. 562) zu vergegenwärtigen, ohne bei der Analyse des „endlosen Spiel[s] der Differenzen“ (S. 563) den Mut zur Synthese zu verlieren.

Anmerkung:
1 Michael Borgolte u.a. (Hrsg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (Europa im Mittelalter 10), Berlin 2008.

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