W. E. Wagner: Die liturgische Gegenwart des abwesenden Königs

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Titel
Die liturgische Gegenwart des abwesenden Königs. Gebetsverbrüderung und Herrscherbild im frühen Mittelalter


Autor(en)
Wagner, Wolfgang Eric
Reihe
Brill’s Series on the Early Middle Ages 19
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 378 S.
Preis
€ 140,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Werner Goetz, Historisches Seminar, Arbeitsbereich Mittelalterliche Geschichte, Universität Hamburg

Die Herrscherbilder der ottonischen und salischen Zeit, die sich fast durchweg in liturgischen Handschriften finden, sind von der Forschung zu Recht viel beachtet und behandelt, ihre Codices sind mit Vorliebe in einen Zusammenhang mit Stiftungen gestellt worden. Erst recht erfreut sich (nicht nur in Deutschland) die Memorialforschung einer großen Beliebtheit. Dennoch sind beide Themen bislang erst ansatzweise, in der Wertung als „Memorialbilder“ (O.G. Oexle)1, in einen Zusammenhang gebracht worden. Dieser Verbindung geht nun ebenso gründlich wie gedankenreich die Rostocker Habilitationsschrift von Wolfgang Eric Wagner unter einem spezifischen Blickwinkel nach. Wie behauptet sich, so lautet die Frage, Herrschaft, wenn der König nur selten anwesend ist? Das hat bisher vor allem die Itinerarforschung beschäftigt. Hier kommt aber auch dem Gebetsgedenken eine wichtige (politisch-religiöse) Funktion zu. In diesen Kontext werden nun die liturgischen Codices gestellt, die Herrscherbilder enthalten, indem Wagner, anders als die bisherige Forschung, sich jedoch nicht mit einem generellen Zusammenhang zufrieden gibt, sondern die Verbindung mit einer Gebetsverbrüderung (und nicht nur einer Stiftung oder Schenkung) vermutet. Auf eine solche Deutung des Königs als „Bruder der Mönche“ hatte seinerzeit bereits Joachim Wollasch aufmerksam gemacht.2 Ein entsprechender Zusammenhang darf allerdings nicht vorausgesetzt werden, sondern ist konkret nachzuweisen. Die Verbrüderung ist von der einfachen Schenkung zu trennen. Daher fragt Wagner speziell nach der konkreten Funktion und vor allem nach dem konkreten Anlass und Auslöser des Buchgeschenks und der Verbrüderung. Damit kommt nicht zuletzt der Datierung der Codices eine entscheidende Bedeutung zu.

Vorab werden die Aussagen über den konkreten Ablauf einer solchen Verbrüderung – erstaunlicherweise erstmals – ausführlich aus einer Vielzahl von Zeugnissen verschiedener Quellenarten zusammengetragen und idealtypisch verortet. Strukturell ist danach die persönliche Anwesenheit des Königs bei der in geregelten rituellen Formen stattfindenden Verbrüderung notwendig, die auf dem Prinzip des Gabentausches beruht; den historischen Hintergrund der Buchstiftung und Verbrüderung aber bildet nicht selten ein Konflikt oder eine fragile Situation, etwa nach einem Herrschaftsantritt. Die Gebetspflicht der Mönche beginnt nicht erst nach dem Tod des Herrschers (und zeigt somit ihre Wirkung auf die Regierung). Gegen Wollasch macht Wagner deutlich, dass nicht jeder Nekrologeintrag bereits auf eine Verbrüderung deutet; es ist vielmehr im Einzelfall zu prüfen, ob eine solche vorliegt. Sie macht den Herrscher dann aber durch die Gebete permanent gegenwärtig, wozu das Herrscherbild beiträgt.

Vor diesem Hintergrund analysiert Wagner nun drei ebenso bekannte wie wichtige Fallbeispiele (mit fünf Herrscherbildern): das Evangeliar Lothars I. für St. Martin vor Tours, das Regensburger Evangeliar Heinrichs II. für Montecassino und das Echternacher Evangelistar Heinrichs III. In jedem Einzelfall wird die Handschrift beschrieben, neu datiert und, zumeist gegen die bisherige Forschung, in ihren historischen Kontext eingeordnet, auf den Zusammenhang von Herrscherbild und Gebetsverbrüderung geprüft und nach dem funktionalen Kontext, dem liturgischen Gebrauch der Handschrift, untersucht. Im Fall der Handschrift von Tours kann Wagner so einen völlig anderen Zusammenhang erschließen, als er bisher gesehen wurde: Das Evangeliar entstammt nicht dem Motiv der Versöhnung der Brüder, sondern soll Lothar gerade den Beistand des Klosters im Konflikt mit Karl dem Kahlen sichern. Die Neudatierung auf den Januar 842 setzt das Evangeliar zeitlich vor die Viviansbibel dieses Herrschers, der folglich auf das Vorgehen seines Bruders reagiert (und nicht umgekehrt). Beim Evangeliar für Montecassino ist zunächst zu zeigen, dass es Heinrich II. und nicht Heinrich III. zuzuordnen ist. Wagner datiert es auf die Anwesenheit des Kaisers im Kloster Ende Juni 1022, in einem Moment, in dem das Kloster zwischen kaiserlicher Loyalität und dem Fürsten von Capua gespalten war. Das Echternacher Evangelistar Heinrichs III. schließlich wird auf Juni 1040 datiert und in den Zusammenhang der Entfremdung von Klostergütern durch den Vogt gestellt.

Die Herrscherbilder als Memorialbilder zu werten, ist kein gänzlich neuer, aber bislang kaum konsequent verfolgter Gedanke. Argumentation und Ergebnisse wirken insgesamt bestechend überzeugend, wenngleich – und dessen ist sich Wagner bewusst – natürlich Unsicherheiten bleiben. Was sich argumentativ logisch entwickeln lässt, muss nicht auch historisch so abgelaufen sein, so dass die einzelnen „Beweisschritte“ nicht nur aufeinander aufbauen, sondern sich auch gegenseitig bedingen. Das erweckt den Eindruck einer geschlossenen Beweisführung, würde aber an Gewicht verlieren, wenn ein Glied der Beweiskette falsch wäre. So beruht die Datierung der Handschrift nicht zuletzt auf der Prämisse einer bezeugten Anwesenheit des Herrschers. Auch bleiben wichtige Fragen offen: Weshalb etwa ist die persönliche Anwesenheit des Herrschers bei der Verbrüderung erforderlich, wenn die Klöster selbst doch andauernd einfach Mönchslisten hin- und hergeschickt haben? Und weshalb bedarf es überhaupt einer Verbrüderung, wenn die Gebetspflicht selbst doch auch in zahlreichen Herrscherurkunden als Gegenleistung für eine Schenkung dokumentiert ist? Das soll keine Kritik sein, zeigt aber, wie schwierig der Sachverhalt letztlich zu erweisen ist. Gerade deshalb verdient der Scharfsinn der Überlegungen Anerkennung, und man darf auf die Reaktion der Detailforschung zu den behandelten Handschriften gespannt sein. In jedem Fall sind hier wichtige Denkanstöße gegeben und exemplarisch stringent verfolgt worden, die unser Wissen um die Herrscherbilder ebenso erweitern wie die Reichweite der Memorialforschung. Kritischer bliebe anzumerken, dass die Arbeit ihrem engeren Themenkreis verhaftet bleibt und nicht den Versuch unternimmt, die Ergebnisse am Ende in ihren Auswirkungen auf die übergreifenden Sachverhalte hin einzuordnen: auf die Memorialforschung selbst, auf die Herrscherbilder, die sich ja auch anders deuten lassen, wie bei Ludger Körntgen3 – zu Recht weist Wagner aber darauf hin, dass sich ein hier verfolgter, konkreter Anlass und eine übergreifend-allgemeine Funktion der Bilder nicht ausschließen müssen –, schließlich aber auch auf die Strukturen der Königsherrschaft, die ja auch politisch in einem Spannungsfeld zwischen Anwesenheit und Abwesenheit des Herrschers steht. Nur bei der Entwicklung der Fragestellung ist das kurz angesprochen. Vielleicht reicht das Material von drei Handschriften dazu noch nicht aus. Es bietet aber eine willkommene Grundlage für weitere Forschungen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Otto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialbild, in: Karl Schmid / Joachim Wollasch (Hrsg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert liturgischen Gedenkens, München 1984, S. 384–440.
2 Joachim Wollasch, Kaiser und Könige als Brüder der Mönche. Zum Herrscherbild in liturgischen Handschriften des 9. bis 11. Jahrhunderts, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40 (1984), S. 1–20.
3 Ludger Körntgen, Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonisch-frühsalischen Zeit, Berlin 2001.