Alterswerke großer Gelehrter fallen in eine besondere Kategorie. Nicht jeder Wissenschaftler hat den Impetus, die Zeit nach der Entpflichtung vom oft erdrückenden universitären Alltag noch einmal zu nutzen, um eine große Monographie vorzulegen. Manchen fehlt schlicht die Kraft, andere widmen sich privaten Leidenschaften, die oft lange vernachlässigt wurden. Selbst denjenigen, die sich erneut ans Werk machen, mangelt es häufig an neuen Perspektiven, oft gar an kritischer Distanz zum Gegenstand. Im besten Fall entstehen Synthesen langjähriger Bemühungen, oft jedoch Zusammenstellungen bekannten Inhalts, deren Nutzen eher fraglich bleibt. Gelegentlich allerdings ist ein großer Wurf zu vermelden: Lebenslanges Interesse, gepaart mit ungebrochener Skepsis, reibt sich an einem großem Thema – und es gelingt eine Neuinterpretation, an der sich viele stören, weil sie völlig neue Akzente setzt. Sheldon Wolin vereint in seiner späten, gewaltigen Tocqueville-Deutung positive und negative Seiten eines solchen Alterswerks auf bemerkenswerte Art und Weise: Sein Buch ist ein höchst individuelles Zeugnis fruchtbarer Auseinandersetzung, das uns trotz mancher scharfsinniger Analysen dennoch mehr über Wolin und sein politisches Denken als über die Ideen von Alexis de Tocqueville sagt.
Sheldon Wolin, Jahrgang 1922, gehört seit Jahrzehnten zu den einflußreichsten amerikanischen Politikwissenschaftlern und gilt als Galionsfigur der kritischen Linken. Mit seinem 1960 erschienenen Klassiker „Politics and Vision“ 1 hat er das politische Denken unzähliger amerikanischer Studenten geprägt. Mitte der sechziger Jahre avancierte der überaus charismatische Wolin, einer der„extraordinary teachers“ seiner Generation 2, zeitweise zur Leitfigur der rebellierenden Studenten in Berkeley. Als Professor an der University of California at Berkeley, danach bis Anfang der neunziger Jahre an der Princeton University, kultivierte Wolin den Ruf als kritischer Außenseiter der Zunft und des politischen Denkens; mehrfach wurde seine große Wirkung auf die Schar ihm ergebener Schüler mit derjenigen von Leo Strauss in Chicago verglichen. 3 Wie Strauss greift Wolin zum Verständnis des Politischen auf die Tradition des politischen Denkens zurück; dessen Vielfalt bilde die Grundlage unseres Verständnisses der modernen Welt: „In the way we understand the world we are partly debtors of Marx, but also of de Maistre, partly of Lenin and also of managerialism.“ 4 Zugleich polemisierte der Skeptiker von Anfang an gegen den Wandel der Politikwissenschaft zur modernen Sozialwissenschaft, die Dominanz der Methoden und die Suche nach einfachen Lösungen. In seinem berühmtesten Aufsatz „Political Theory as a Vocation“ betont Wolin statt dessen die Bedeutung von „tacit knowledge“: „These extra-scientific considerations may be identified more explicitly as the stock of ideas which an intellectually curious person accumulates and which come to govern his intuitions, feelings, and perceptions. They constitute the sources of his creativity, yet rarely find explicit expression in formal theory.“ 5 Sein Skeptizismus und die Anerkennung metaphysischer Einflüsse wurden bereits in den frühen siebziger Jahren heftig attackiert. In ähnlicher Weise provozierte Wolin mit seinem radikalen partizipatorischen Demokratieverständnis und deutlicher Kritik am zunehmend undemokratischer werdenden politischen System der USA: „If the politics of the megastate is to be even minimally democratized, however, it will require a citizen who fulfills his or her civic role by doing something other than passively supporting those in authority.“ 6 Demokratie bedeute weniger eine konkrete Regierungsform als vielmehr die Vielfalt von Einstellungen und Aktivitäten unterschiedlichster Gruppen und einzelner Bürger. Im Zeitalter von Globalisierung und wachsender Staatsmacht sei Demokratie ein flüchtiges Gut und „doomed to succeed only temporarily“; dennoch bilde sie „a recurrent possibility as long as the memory of the political survives.“7 Trotz mancher Kritik, auch seiner Schüler, hat Wolins Konzept der „fugitive democracy“ eine fruchtbare Debatte eröffnet, die nach wie vor andauert. 8
Wolins intensive Auseinandersetzung mit dem Werk von Alexis de Tocqueville fand ihren Niederschlag schon Mitte der achtziger Jahre in der „Tocqueville Review“. 9 Ausgehend von dessen berühmtem Diktum „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft“ 10 konzentriert sich Wolin auf Tocquevilles Deutung des Spannungsverhältnisses zwischen alter und neuer Welt und bemüht sich, dessen Erkenntnisse für die Analyse der modernen amerikanischen Gesellschaft nutzbar zu machen. Neben der Klärung von Tocquevilles Gebrauch der Begriffe „alt“ und „neu“ sucht Wolin Antwort auf zwei Fragen: „The first is, in ‘Democracy in America’ what functions as the modern and what is the premodern? The second is, in contemporary American political society what signifies the premodern and the postmodern, and how do these stand in relation to their counterparts in Tocqueville’s work on America?“ 11 Sheldon Wolin geht es nicht um eine Rekonstruktion des Denkens von Tocqueville, sondern um die seiner Ansicht nach höchst gefährdete amerikanische Demokratie bzw. die Perspektiven der demokratischen Zivilgesellschaft in der globalisierten Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Davon handelt nun auch sein großes Alterswerk.
„Tocqueville Between Two Worlds“ beginnt mit einer individuellen, überblicksartigen Skizze zur Entwicklung des modernen politischen Denkens, in deren Verlauf Wolin Tocquevilles Diagnose der Machtlosigkeit zeitgenössischer Politik sowie „the paradox of power“ (S. 13) als Ausgangspunkt für seine Interpretation nimmt. In den sechs Kapiteln des zweiten Teils analysiert der Autor sodann die Entwicklung von Tocquevilles komplexem Demokratieverständnis anhand der Entstehung des ersten Teils von „De la Démocratie en Amérique“ und betont dabei die entscheidende Bedeutung von Gleichheit als Kern der Tocqueville’schen Theorie: „equality is a given in the modern world – a necessity, not a choice.“ (S. 166). Als unabdingbar für den Fortbestand einer Demokratie erachte Tocqueville seit dem Aufenthalt in den USA ferner die Existenz eines Elements politischer Utopie, dessen positive Auswirkungen er erlebt habe: „It did teach him that any hope for reviving the political in the modern world depended on promoting democratic participation.“ (S. 167) Die konstante Mitwirkung der Bürger stelle aus Sicht des französischen Aristokraten das Mittel dar, die einer modernen, egalitären Demokratie inhärenten Gefahren auszugleichen. Im dritten Teil folgen weitere Kapitel zum ersten Teil des Hauptwerks von Tocqueville, in deren Verlauf seine Deutung von Rousseau und Montesquieu sowie die Rezeption der „Federalist Papers“ zur Sprache kommen. Dabei untersucht Wolin zugleich ausgewählte Elemente von Tocquevilles Darstellung der USA; es geht ihm um „Tocqueville’s attempt to discover, not empirical America, but that ‘image of democracy’ to which he had referred in his introduction. That image was a theoretical composite designed to show what was worthy of emulation in the ‘democratic republic’ (positive paradigm) and what were the dangers and drawbacks to nationalized, majoritarian democracy (negative paradigm).“ (S. 281)
Der vierten Teil des Buchs ist dem zweiten Band von „De la Démocratie en Amérique“ gewidmet. Herausgearbeitet werden zunächst der Einfluß von Tocquevilles politischem Wirken auf seine Theorie und sein zentrales Anliegen in diesem Teil: „the significance of democracy was to be worked out in an different context than the political or, alternatively, (...) the political was to be contextualized differently.“ (S. 307) Im Blickpunkt stehe die „increasingly democratized civil society“ (ebd.). Wolin schildert Tocquevilles Unbehagen angesichts der immer homogener werdenden Gesellschaft und der dadurch wachsenden Staatsmacht: „ (...) he alone demonstrated the relationship between the importance of culture as expressing a conception of politics in which the dominant power was anonymous and the arrival of a modernity that diminished politics while professing to expand it.“ (S. 315). Er arbeitet heraus, daß die von Tocqueville genannten Gegenmaßnahmen – „encouraging civil associations, a free press, reviving local government, strengthening the judiciary (...), and defending private rights“ (S. 369f.) – letztlich nur verzögernden Charakter hätten: „Equality’s telos is toward centralization and hence the political has to be reconceived, not primarily as the citizenly practice of self-government but as an unrelenting struggle against conformity.“ (S. 373) Nach einem knappen Kapitel zu dem von Tocqueville und Gustave de Beaumont erstellten Gutachten über das amerikanische Gefängniswesen wendet sich Sheldon Wolin im letzten Teil des Buchs der Analyse der beiden Spätwerke „Souvenirs“ und „L’Ancien Régime et la Révolution“ zu.
Wolin unterstreicht den Charakter der „Souvenirs“ und ihrer Auseinandersetzung mit dem Problem der Revolution als selbstkritische Bekenntnisschrift eines Zweiflers, dem das neue egalitäre Zeitalter zuwider ist, und der an seinem eigenen Liberalismus zweifelt. Mit Blick auf „L’Ancien Régime et la Révolution“ verweist er zudem auf die Kontinuität in Tocquevilles Denken: „‘The Old Regime’ is a reaffirmation of his commitment to retrieving the political but, in contrast to its context in ‘Democracy’, the political is cautiously restated in a reactionary setting. (S. 543) Während „De la Démocratie en Amérique“ zwar von den USA handle, aber mit Blick auf die Zukunft Frankreichs geschrieben sei, analysiere „L’Ancien Régime“ nur vordergründig die französische Entwicklung und reflektiere tatsächlich die Zukunft der USA bzw. „the antipolitical consequences of modernization“ (S. 552). Aus Sicht Wolins ist Tocqueville ein schwer zu fassender Denker: Seine Auseinandersetzung mit der Moderne stecke voller unterschiedlicher Facetten und Widersprüche. Wurzelnd im Archaischen war er sich der Widersprüche der Moderne dennoch bewußt, der aristokratische Repräsentant der alten Welt wird zugleich zum Vordenker des Neuen, von Demokratie, Revolution und Postmoderne. Tocquevilles düstere Vorahnung eines „democratic despotism“ sei daher nicht auf die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts zu beziehen, sondern ganz im Gegenteil auf die zweifelhafte Zukunft postmoderner, demokratischer Gesellschaften – und das paradigmatische Beispiel der USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts: „democracy would come to be regarded by late-modern power elites as object, an indispensable yet malleable myth for promoting American political and economic interests among premodern and post-totalitarian societies. At home, democracy is touted not as self-government by an involved citizenry but as an economic opportunity. Opportunity serves as the means of implicating the populace in antidemocracy, in a politoeconomic system characterized by the dominating power of hierarchical organizations, widening class differentials, and a society where the hereditary element is confined to successive generations of the defenseless poor. Democracy is perpetuated as philanthropic gesture, contemptuously institutionalized as welfare, and denigrated as populism.“ (S. 571f.)
Sheldon Wolins großes Alterswerk gibt nur bedingt Auskunft über Leben und Denken von Alexis de Tocqueville. Seine Interpretation liegt quer zur aktuellen Debatte über den großen Theoretiker des Liberalismus. Wolin analysiert Tocqueville aus radikaldemokratischer Perspektive, provoziert und schießt mit seinem Versuch, die Ideen Tocquevilles für die postmoderne Zivilgesellschaft fruchtbar zu machen, mehr als einmal über das Ziel hinaus. Für Tocqueville-Forscher dürfte das Buch eher ein Ärgernis sein. Und doch ist es ein eindrucksvoller Beweis für die Vitalität amerikanischen politischen Denkens zu Beginn des zweiten amerikanischen Jahrhunderts.
Anmerkungen:
1 Vgl. Sheldon S. Wolin, Politics and Vision. Continuity and Innovation in Western Political Thought. Boston: Little, Brown, 1960.
2 Vgl. Benjamin R. Barber, The Truth of Power. Intellectual Affairs in the Clinton White House. New York, London: W.W. Norton, 2001, S. 220.
3 Vgl. Alan Ryan, Visions of Politics. In: The New York Review of Books, 49 (2002), H. 11, 27. Juni 2002, S. 37.
4 Wolin, Politics and Vision, S. 358.
5 Sheldon S. Wolin, Political Theory as a Vocation. In: American Political Science Review 63 (1969), H. 4, S. 1073f.
6 Sheldon S. Wolin, Democracy without the Citizen. In: Ders., The Presence of the Past. Essays on the State and the Constitution. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press, 1989, S. 191.
7 Sheldon S. Wolin, Fugitive Democracy. In: Seyla Benhabib (Hrsg.), Democracy and Difference. Contesting the Boundaries of the Political. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 1996, S. 43.
8 Vgl. die Beiträge in Aryeh Botwinick, William E. Connolly (Hrsg.), Democracy and Vision. Sheldon Wolin and the Vicissitudes of the Political. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2001.
9 Vgl. Sheldon S. Wolin, Tocqueville: Archaism and Modernity. In: Tocqueville Review 7 (1985/86), S. 77-88. Wieder abgedruckt als: Archaism, Modernity, and ‘Democracy in America’. In: Ders., The Presence of the Past, S. 66-81.
10 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Beide Teile in einem Band. Aufgrund der französischen historisch-kritischen Ausgabe hrsg. von Jacob P. Mayer in Verbindung mit Theodor Eschenburg und Hans Zbinden. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2. Auflage 1984, S. 9.
11 Wolin, Archaism, Modernity, and ‘Democracy in America’, S. 70.