M. Graeser: Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat

Titel
Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880-1940


Autor(en)
Gräser, Marcus
Reihe
Bürgertum Neue Folge, Band 6
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kiran Klaus Patel, Department of History and Civilisation, European University Institute Florenz

Barack Obamas Versuche, in den USA eine Gesundheitsreform inklusive umfassender Krankenversicherung durchzusetzen, haben in den letzten Monaten auch einem breiteren Publikum wieder einmal die Unterschiede zwischen Umfang und Gestalt des Wohlfahrtsstaates dies- und jenseits des Atlantiks vor Augen geführt. Insofern kommt die nunmehr als Buch veröffentlichte Habilitationsschrift von Marcus Gräser zum rechten Zeitpunkt, in der er die Geschichte des „welfare state building“ in Deutschland und den USA zwischen 1880 und 1940 vergleichend untersucht.

Der Schwerpunkt der Studie liegt auf der Rolle des Bürgertums, das hier wie dort den Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Instrumente propagierte und wesentlich mit durchzusetzen half. Gräser verankert seine Analyse jeweils in einer Lokalstudie (für Deutschland Frankfurt am Main; für die USA Chicago – wobei der Autor sich wenig Mühe gibt, deren Vergleichbarkeit herauszuarbeiten) und bettet diese zugleich in die jeweiligen nationalen Debatten und Maßnahmen ein. Es gelingt ihm dabei, Tiefenbohrungen und übergreifende Tendenzen plausibel miteinander in Beziehung zu setzen und auszutarieren.

Gräsers Thesen zielen auf Ursprünge und Entwicklungsdynamik von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Er verdeutlicht, wie wertvoll es ist, den Blick von den großen staatlichen Institutionen des Wohlfahrtsstaates oder einzelnen Initiativen wie denen Bismarcks und des New Deal wegzulenken auf jene Gruppe von Mittlern, die das Persönliche und Lokale ebenso wie die staatliche Intervention im Prozess des „welfare state building“ gleichermaßen reflektiert. Als entscheidende Basis für die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Deutschland wie in den USA erscheint demnach der bislang unterbelichtete städtische Raum. Selbst wenn mich nicht alle Teilargumente dafür gleichermaßen überzeugen (zum Beispiel, dass Bismarcks Sozialversicherung primär die Rechte der liberalen Großstädte und ihrer bürgerlichen Elite aufs Korn nahm, das heißt auf einen Ausbau der Reichsgewalt gegenüber den Kommunen zielte und nicht so sehr auf die Pazifizierung der Arbeiterschaft; vgl. S. 259), ist diese These äußerst anregend. Darüber hinaus betont Gräser, dass das Beziehungsgefüge zwischen Reformern, städtischen Institutionen und staatlichen Instanzen auf beiden Seiten des Atlantiks unterschiedlich gewesen sei und dass dies eine zentrale Erklärung für die unterschiedlichen Wege des „welfare state building“ darstelle. Aus dieser Perspektive erscheinen die amerikanischen „middle classes“ eher als schwach, da sie nicht zuletzt aufgrund des allgemeinen gleichen Wahlrechts und der Zweiparteienstruktur des Landes von den Machtzentren der Städte weitgehend ausgeschlossen waren. In Deutschland dagegen half ausgerechnet das Klassenwahlrecht, die zentrale Stellung der bürgerlichen Sozialreformer in der Wohlfahrtsstadt zu sichern. Aber nicht nur die Bindung zwischen Reformbewegung und städtischen Institutionen war in Deutschland enger, dasselbe gilt laut Gräser auch für die nationale Ebene. Insgesamt streicht er heraus, dass es in Deutschland ein hohes Maß an Geschlossenheit der unterschiedlichen Ebenen – von privater Fürsorge, kommunalen und schließlich staatlichen Instanzen – gab, die zu Synergien ebenso führte wie zu (letztlich mobilisierenden) Reibungen. Dagegen war in den USA „der ,Raum’ zwischen Stadt und Staat (unter Einschluß etwaiger Mittelinstanzen) ebenso wie der zwischen Stadt und privater Fürsorge leer, wenig lud zur Interaktion ein“ (S. 278) – und just diese losere Verkoppelung reduzierte die Dynamik zur Errichtung eines umfangreichen Wohlfahrtsstaates in den USA.

Diese Fäden entspannt Gräser ungemein differenziert und facettenreich. Und wenngleich das Buch aufgrund seines etwas behäbigen und jargonverliebten Stils kein Lesevergnügen ist, sind Originalität und intellektuelle Breite des Werkes ungemein beeindruckend. Ein Beispiel dafür bieten die Ausführungen zur unterschiedlichen Darstellungspraxis sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse auf beiden Seiten des Atlantiks. Während es in den USA zu einer Visualisierung des Sozialen im Medium der Fotografie kam, beließ man es in Deutschland bei Text, Fußnote und Statistik. Den „pictoral turn“ und die damit verbundene massenkulturelle Öffnung in den USA erklärt Gräser wiederum nicht zuletzt aus der größeren Notwendigkeit amerikanischer Sozialreformer, ihr Handeln und ihre Position gegenüber einer breiten Öffentlichkeit zu legitimieren.

Gräser betritt nicht nur in vielen Fragen Neuland, sondern es gelingt ihm auch immer wieder, vorhandene Thesen zu hinterfragen oder durch neue Aspekte anzureichern. Zum Beispiel fordert er in überzeugender Weise die gender-historischen Implikationen der These heraus, dass in den USA Frauen in der Frühgeschichte des Wohlfahrtsstaates eine größere Rolle spielten: Seines Erachtens erklärt sich die tatsächlich feststellbare größere Bedeutung von Aktivistinnen in Amerika aus der relativen Machtlosigkeit der bürgerlichen Sozialbewegung in den Vereinigten Staaten.

Erwähnt werden muss allerdings, dass die Studie nicht ganz ausgewogen aufgebaut ist. In vielen Kapiteln bleiben die Ausführungen zur deutschen Seite vergleichsweise knapp und skizzenhaft. Die Geschichte von Wohlfahrtsstaat und Bürgertum in Deutschland gilt tendenziell als bekannt (etwa S. 167 ff.); wobei man sich fragen kann, ob man dieses Wissen beim deutschsprachigen Publikum tatsächlich voraussetzen kann.

In geradezu vorbildlicher Weise dagegen verbindet Gräser seinen transnationalen Vergleich mit einer Untersuchung wechselseitiger Wahrnehmungen und Transfers. Bezüglich der Professionalisierung sozialreformerischer Expertise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt er etwa zu dem ironischen Befund, dass in den USA wissenschaftliche Analyse und politische Praxis intentional eng miteinander vermischt wurden und man sich dabei mitunter positiv auf das Beispiel der deutschen Nationalökonomie bezog – während gleichzeitig in Deutschland die frühe Soziologie alles tat, um solche Verbindungen zu kappen. Ganz allgemein betont Gräser immer wieder die Grenzen und Blockaden transatlantischer Transferprozesse – gegenüber manchen Studien der zurückliegenden Dekade zu dieser Frage, welche stärker den Austausch und die Wechselwirkung betont hatten, handelt es sich dabei um eine erhellende Nuancierung.

Gräser hat ein vorzügliches Buch vorgelegt, das die Debatte über die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in den USA und Deutschland wesentlich erweitert.

Gibt es auch Kritik? Neben den kleineren, bereits angesprochenen Punkten erscheint mir die Fragestellung etwas zu einseitig aus der deutschen Perspektive heraus formuliert zu sein – da es eben um die Entstehung des Wohlfahrts_staates_ geht. Sicherlich, auch die Akteure, die Gräser für die USA untersucht, verfolgten oft eine staatszentrierte Agenda. Diese spielten in Amerika dennoch eine deutlich weniger wichtige Rolle als in Deutschland, während Instrumente und Ansätze privater Fürsorge (was Gräser Wohlfahrtsgesellschaft nennt), wie die „benefit societies“ ethnischer Gemeinschaften, die Fürsorgedimension vieler Berufsverbände oder etwa die Rolle der Kirchen in den USA immer einen wichtigeren Teil des Wohlfahrtsregimes darstellten. Da es Gräser nicht um die Herstellung von „welfare“ – gänzlich unabhängig von der Trägerschaft – geht und er ländliche Räume ausschließt, steht das Kernergebnis des Vergleichs von Anfang an fest: In der Sprache der Modernisierungstheorie, an die er sich zumindest anlehnt, zeichnet sich der amerikanische Weg demnach zumeist durch Defizite, Rückständigkeit oder Schwächen aus. Aufschlussreich und innovativ ist primär Gräsers Begründung für diese Unterschiede und seine Verschränkung von Bürgertum, Stadt und Staat. Zugleich: Eine bessere Basis und einen anregenderen Bezugspunkt für eine mögliche, noch breitere Debatte über die Geschichte von „welfare“ in den beiden Gesellschaften dürfte es zur Zeit nicht geben.

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