Der vorliegende Band ist im Rahmen einer Konferenz zum Thema „Tempelprostitution im Altertum“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg im Juli 2007 entstanden und könnte eigentlich auch den Titel „Keine Tempelprostitution im Altertum“ tragen, denn dies ist – das sei hier bereits vorausgeschickt – das wesentliche Ergebnis der 13 Studien, welche von namhaften Vertretern aus den Disziplinen Alte Geschichte, Altphilologie, Assyriologie, Ägyptologie, Theologie und Indologie verfasst wurden. Der fachübergreifende Ansatz der Tagung und des Bandes stellt schon einen Wert an sich dar, gewinnt indessen durch das spezielle Thema zusätzlich an Reiz – und ist bei dieser Thematik durchaus auch notwendig. An mehreren Stellen wird zu Recht auf Zirkelschlüsse in der Forschung hingewiesen, die durch mangelnden Austausch innerhalb der verschiedenen Disziplinen entstanden sind (so z.B. S. 9). Gleichzeitig zeigt der Band aber auch vorbildlich, dass die Erforschung von kulturellen Einrichtungen im weiteren Sinne besonders da spannende Ergebnisse bringt, wo ganz unterschiedliche Kulturen und Regionen vergleichend untersucht werden.
Die meisten Beiträge ähneln sich im Aufbau und Ergebnis: Nach einer Diskussion der älteren Forschung (wobei auch die jüngste Forschung in allen Artikeln berücksichtigt wurde), die in der Regel die Existenz von Tempelprostitution annahm, folgt zumeist eine detaillierte Untersuchung der zum Thema vorliegenden Quellen. Für den Alten Orient weist Julia Assante am Beispiel des Ishtar-Kultes nach, dass die Annahme von Tempelprostitution „little more than the products of biased imagination“ (S. 49) ist. Für das Alte Israel kommt die Theologin Marie-Theres Wacker zu dem Schluss, dass die Hypothese einer Kultprostitution in vorexilischer Zeit ihre Plausibilität lediglich aus der Annahme, „dass diese Institution in Mesopotamien als zweifelsfrei nachgewiesen galt“, bezogen hat; ein weiteres Beispiel für einen Zirkelschluss. Für Ägypten kommen Johann F. Quack und Reinhold Scholl ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es kein „sicheres Zeugnis für irgendeine Form der Tempelprostitution“ (S. 194) gibt. Gleiches belegt Maria Brosius in ihrer Untersuchung für das Perserreich. Stephanie Buden, Martin Lindner, Tanja S. Scheer, Joachim Losehand und Annette Hupfloher weisen in ihren Artikeln schließlich stimmig nach, dass die Quellen auch für die Mittelmeerwelt keine Tempelprostitution bezeugen können.
Um diese Beiträge, die die Existenz von Tempelprostitution hinterfragen, sind Artikel gruppiert, die das zentrale Problem durch die Untersuchung von verwandten Themen ergänzen. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Daniel Odgen, der die Verbindung zwischen Kurtisanen und der göttlichen Sphäre am Beispiel der frühen hellenistischen Königshöfe untersucht. Dabei ist insbesondere die Figur der Bilistiche interessant: Ihr gelang es nicht nur, ein Wagenrennen in Olympia zu gewinnen, sondern sie erreichte es auch, dass ihr Liebhaber Ptolemäus II. sie kultisch zur Aphrodite Bilistiche erhöhen ließ (S. 345f.). Damit wurde die Geliebte zwar nicht zur Göttin, aber immerhin zu einer Art Manifestation der Aphrodite.
Im letzten Artikel des Bandes behandelt die Münchner Indologin Renate Syed das Devadasis-System Indiens. Damit ist der Beitrag gleich in zweifacher Hinsicht einzigartig: Lediglich für Indien lässt sich eine Art von Tempelprostitution belegen – und dies nicht nur im Altertum, sondern bis in die Gegenwart (S. 399). Bei einer Devadasi handelt es sich um ein Mädchen, welches von ihren Eltern an einen Tempel gegeben und dort unterrichtet wurde. Auch später blieb sie in räumlicher Nähe zum Tempel und hatte dort Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern, darunter befanden sich oft die Priester, aber auch Patrone von außerhalb, die dem Tempel Spenden zuführten und dafür mit einer Devadasi verkehren durften. Allerdings stellt Syed provokativ fest: „In Indien war und ist meist alles anders, als man es sich im Westen vorstellt“ (S. 377). Tatsächlich hatten die Devadasis auch für die Dauer einer Beziehung nur einen Partner. Insofern müsste man korrekter von einem „Tempelmätressentum“ sprechen. Bekam eine Devadasi während einer solchen Beziehung ein Kind, dann wurde dieses ihren Eltern übergeben, die so beispielsweise die Chance bekamen, doch noch einen männlichen Erben großzuziehen. In jedem Fall aber war der Vater des Kindes nicht für dieses verantwortlich und kam so auch nicht in die Verlegenheit, uneheliche Kinder versorgen zu müssen. Syeds Artikel illustriert dabei zugleich auch bestens den Reiz der interdisziplinären Forschung.
Die Grundthese des Bandes liegt auf der Hand: In der alten Welt gab es keine Tempelprostitution. Lediglich in Indien kannte man eine Form der Sakralprostitution, allerdings findet Indien und auch China ohnehin leider zu selten Beachtung in interdisziplinären Projekten zur Alten Welt. Umso erfreulicher ist Syeds Beitrag in diesem Band. In jedem Fall lassen die klugen Artikel erwarten, dass die Verneinung der Existenz der Tempelprostitution im Altertum zur Lehrmeinung werden wird, sollten nicht neue Funde aussagekräftigeres Quellenmaterial zu Tage bringen. Allerdings wird die Beschäftigung mit der Tempelprostitution in ihren unterschiedlichen Facetten durchaus weiterhin interessant bleiben. Als ein Beispiel für historische Zirkelschlüsse, Legenden- und Kulturtransfer und schließlich als Einstieg und Anknüpfungspunkt für eine ganze Reihe von interessanten Themenkomplexen kann die Problematik der „Tempelprostitution im Altertum“ auch zukünftig dienen. Das Buch ist mit einem umfangreichen Index versehen und – wie für den Verlag Antike üblich – sehr gut verarbeitet.