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Titel
Der Jugendwerkhof Torgau. Das Ende der Erziehung


Autor(en)
Gatzemann, Andreas
Reihe
Studien zur DDR-Gesellschaft 11
Erschienen
Münster 2009: LIT Verlag
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Abteilung Bildung und Forschung, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU)

In der DDR kannte fast jeder Chiffren, die mit einem besonderen Schrecken verbunden wurden: „Schwedt“ stand für das berüchtigte Militärgefängnis, „Bautzen“ für schreckliche Haftzustände und politische Haft, „Prora“ für den Bausoldatendienst, „Eggesin“ für den schlimmsten aller denkbaren NVA-Dienstorte für Wehrpflichtige, „Magdalenenstraße“ und „Hohenschönhausen“ für furchterregende MfS-Haftorte und „Torgau“ für eine Art – im wahrsten Sinne des Wortes – Jugendzuchthaus. Noch immer herrscht in der Forschung nicht Klarheit über all solche Orte: Entsprach in der historischen Realität der ihnen von den Herrschenden gewünschten Abschreckung auch tatsächlich eine besonders brutale Praxis im Vergleich zu anderen ähnlichen „Standorten“? Für „Hohenschönhausen“ etwa kann dies heute mit Blick auf andere Haftorte genauso bezweifelt werden wie für „Prora“ oder „Bautzen“. „Schwedt“ wiederum konnte bislang nicht ausreichend erforscht werden. Erste Befunde, die in einem Forschungsprojekt zusammengetragen werden, scheinen den Mythos dieser Haftanstalt eher zu entblättern, auch wenn er durch die Historisierung natürlich nicht zu einem Erholungsort verkommen wird.1

Hingegen scheint der Jugendwerkhof Torgau historisch seinem Mythos stark zu ähneln. Der Schriftsteller und Dissident Jürgen Fuchs hatte darauf schon Anfang der Neunzigerjahre in einem noch immer lesenswerten und emotional aufwühlenden Essay hingewiesen.2 Die Schriftstellerin Grit Poppe hat jüngst darüber einen sehr gut recherchierten und eindringlichen Roman vorgelegt.3 Der Erziehungswissenschaftler Andreas Gatzemann beschäftigte sich nun wissenschaftlich mit der Geschichte des Jugendwerkhofes. Seine Arbeit basiert unter anderem auf Zeitzeugeninterviews, auf Unterlagen des Bundesarchivs und der SAPMO sowie auf den im Archiv der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Torgau verfügbaren Materialien.

Gatzemann interpretiert den Jugendwerkhof als extremste Ausgeburt des kommunistischen Versuchs, „sozialistische Menschen“, in diesem Fall minderjährige Jugendliche, zu schaffen. In den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau kamen sie meist nach Fluchtversuchen, renitenten Verhaltensweisen oder „politisch-ideologischer Differenzen“ aus so genannten offenen Jugendwerkhöfen. Gatzemann beschreibt Torgau als eine Art Hochsicherheitstrakt mit einem streng organisierten Tagesablauf, in dem es keinen Raum für Individualität und persönliche Entfaltung gab. Zwischen 1964 und Ende 1989 kamen 4046 Jugendliche nach Torgau; die wenigsten sind bereit, heute darüber zu sprechen. Dies hängt gewiss auch damit zusammen, dass – so wie im Fall Schwedt – nur eine Minderheit aus politischen Gründen nach Torgau bzw. in einen Jugendwerkhof kam. Dies macht dieses Zuchtsystem nicht besser, erklärt aber das Schweigen der meisten Insassen über diese für sie schlimme Zeit.

Gatzemanns Buch ist systematisch aufgebaut. In einem ersten Abschnitt stellt er die Grundlagen der DDR-Pädagogik dar, insbesondere die Heimerziehung. Er sieht ihre Grundlegung im Marxismus-Leninismus verankert und am Vorbild des sowjetischen Pädagogen Makarenko orientiert. Im Zentrum standen Kollektiverziehung und Arbeitsdisziplin, die beide als Garanten für den „neuen sozialistischen Menschen“ galten. Im zweiten Abschnitt stellt er das DDR-Jugendhilfesystem vor, wobei er sich auf Spezialheime und Jugendwerkhöfe konzentriert. Die nächsten beiden Kapitel sind die Interessantesten. Zunächst geht er auf das innere Regime im Jugendwerkhof Torgau ein. Anschließend wertet er die Zeitzeugeninterviews nach systematischen Gesichtspunkten (unter anderem Alltag, Ausbildung, Einweisungsgründe, Gewalt, psychische Langzeitfolgen) aus. Das letzte Kapitel resümiert die Ergebnisse. Es kommt zu dem naheliegenden Schluss, dass das kommunistische Erziehungskonzept in der DDR letztlich scheiterte und auch „Torgau“ daran nichts ändern konnte.

Das Buch stellt eine Reihe von aufbereiteten Fakten zur Verfügung, die für künftige Forschungen zu Jugendwerkhöfen ebenso dienlich sein dürften wie überhaupt für Arbeiten, die sich mit Disziplinierung, Repressalien und dem Versuch, den „sozialistischen Menschen“ zu kreieren, beschäftigen. Der Erkenntnisgewinn der Studie besteht in den zwei erwähnten Kapiteln, die plastisch die Realität des geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau exemplarisch vor Augen führen. Störend ist allerdings, dass es dem Autor nicht gelungen ist, einer inneren Entwicklung und Veränderung auf die Spur zu kommen. Seine Herangehensweise ist einigermaßen statisch. Es entsteht der Eindruck, dass er dynamische Prozesse ebenso wenig als historisches Phänomen zu thematisieren gewillt ist wie er den Veränderungen, die es in einem Untersuchungszeitraum von 25 Jahren fast automatisch gibt, nicht tiefschürfend nachgeht. Seine eigene theoretische Grundlegung hätte zur Vermeidung dieses Defizits beitragen können. Auch versäumt er es, hinter die Kulissen einer, zugegebenermaßen öden und spröden, aber dennoch existierenden pädagogischen Debatte in der DDR zu schauen. Auch wenn die Erziehungsziele unverändert blieben, daran kann es in diesem Untersuchungszeitraum nur wenige Zweifel geben, sind zumindest unterschiedliche Wege und Mittel dahin debattiert und auch zum Teil erprobt bzw. in die Praxis eingeführt worden.

So bleibt insgesamt ein zwiespältiger Eindruck, der aber, das muss relativierend hinzugefügt werden, aus der Sicht eines Historikers und nicht eines Erziehungswissenschaftlers entsteht. Beide Professionen aber werden sich über eine Kuriosität, die Andreas Gatzemann und sein Verlag bieten, wundern. Denn dieses hier vorgestellte Buch dient, wie der Autor bekennt, „als Begleitband zum Hauptwerk ‚Die Erziehung zum ‚neuen Menschen’ im Jugendwerkhof – ein Beitrag zum kulturellen Gedächtnis’, welches als Dissertation 2008 an der Universität Passau ebenfalls über den LIT-Verlag erschienen ist.“ (S. 1) Dort kam es in der Reihe „Diktatur und Widerstand“, die Manfred Wilke betreut, heraus. Wenn ich beim Abgleich beider Bücher nicht völlig geirrt habe, dann unterscheidet beide Ausgaben voneinander, dass das etwas umfangreichere „Hauptwerk“ auf etwa 40 Druckseiten noch Zeitzeugeninterviews aufweist. Aber damit nicht genug. Der Verlag hat das „Hauptwerk“ auch noch auf Englisch herausgebracht. Die Herausgeber der Buchreihen, der Verlag und wohl vor allem der Autor erblicken also in dieser Studie offenbar ein Standardwerk, dass den Untersuchungsgegenstand als einigermaßen endgültig und abschließend erforscht erscheinen lässt. Diesem Urteil würde ich mich nicht anschließen.

Anmerkungen:
1Das mehrjährige Forschungsprojekt läuft in der Forschungsabteilung der BStU seit 2008, es wird von Arno Polzin bearbeitet.
2Jürgen Fuchs, Der Schnürsenkel von Torgau oder Der Verlust der humanen Orientierung, in: Wolfgang Hardtwig / Heinrich August Winkler (Hrsg.), Deutsche Entfremdung. Zum Befinden in Ost und West. München 1994, S. 31-67, bes. S. 65-67.
3Grit Poppe, Weggesperrt, Hamburg 2009.

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