Jubiläen bieten immer wieder Anlass, historische Ereignisse, traditionsreiche Institutionen und bedeutende Persönlichkeiten einer intensiven Betrachtung zu unterziehen, neue Fragestellungen zu verfolgen und scheinbar vertraute Quellen aus ungewohnter Perspektive zu sehen. Dies gilt auch für die Reformationsforschung. Neben umfangreichen Ausstellungskatalogen, wie etwa zum Augsburger Religionsfrieden (2005), fördern Jubiläen auch die Publikation von Biografien wichtiger Protagonisten ihrer Zeit, so z.B. zu Karl V. (2000), Ferdinand I. (2003), Moritz von Sachsen (2003), Ignatius von Loyola (2006) oder Jean Calvin (2009).
Der 450. Todestag Martin Bucers hat im Jahre 2001 allerdings nur ein vergleichsweise bescheidenes Echo hervorgerufen. Zu unrecht, wie die hier anzuzeigende Darstellung belegt. Der aus Schlettstadt stammende Dominikaner, der sich früh der reformatorischen Bewegung anschloss, 1522 eine ehemalige Nonne heiratete, exkommuniziert wurde und sich dann zum Wortführer der Straßburger Reformation entwickelte, gehörte zu den führenden und einflussreichsten Theologen des 16. Jahrhunderts. 1990, also ein Jahr vor dem 500. Jahrestag von Bucers Geburt, hat Martin Greschat in seiner umfassenden Biographie die herausragende Bedeutung dieses elsässischen Reformators eindrucksvoll beschrieben. Er zeichnete damals das Bild eines Anwalts der protestantischen Einheit, der sich mit unerschöpflicher Energie dafür einsetzte, theologische Gegensätze im Lager der Reformatoren zu überbrücken; eines Theologen, der seinen Überzeugungen treu blieb und selbst im englischen Exil für eine ganzheitliche Reform der Kirche eintrat.
Dass sich die historische Forschung in den folgenden Jahren intensiv mit Leben und Werk Martin Bucers beschäftigt hat, ist zu einem erheblichen Teil auf die Arbeiten Martin Greschats zurückzuführen. Insbesondere die historisch-kritischen Editionen der deutschen und lateinischen Werke Bucers sowie seines Briefwechsels sind vorangetrieben worden. Sie bieten mittlerweile für die Erforschung von Leben und Werk des Reformators eine deutlich erweiterte Grundlage. Eine Vielzahl von Publikationen in Zeitschriften und Sammelbänden, aber auch der internationale Kongress von Emden (2001) belegen, dass Martin Bucer in Fachkreisen mittlerweile zu einer festen Größe der Reformation geworden ist. Die von Martin Greschat vor zwei Jahrzehnten verfasste Lebensbeschreibung Bucers hat hierzu wesentliche Anstöße geliefert.
Diese Biographie ist nun, zum 75. Geburtstag des Autors, in einer zweiten Auflage erschienen. Martin Greschat kann im Vorwort mit gewissem Stolz sagen, dass die Ergebnisse der zurückliegenden knapp 20-jährigen Reformationsforschung seine damalige Darstellung des Reformators bestätigt haben. Diese sachlich richtige Einschätzung dürfte vermutlich der Grund dafür sein, dass die zweite Auflage sich nur marginal von der ersten unterscheidet. Der Text ist über weite Strecken unverändert geblieben. Dies gilt auch für den Anmerkungsapparat. Von den zahlreichen jüngeren Publikationen zu Martin Bucer, die Eingang in das Literaturverzeichnis gefunden haben, werden nur wenige erkennbar eingearbeitet. Die zweite Auflage verzichtet auf Karten und Pläne, nimmt dafür aber zahlreiche Abbildungen auf, die allerdings ausschließlich illustrierenden Charakter haben. Eine wertvolle Bereicherung stellt die chronologische Zusammenstellung der deutschen und lateinischen Schriften Bucers dar. Bedauerlich ist demgegenüber, dass das Register im Gegensatz zur ersten Auflage ausschließlich Personennamen verzeichnet. Orte wie Augsburg, Zürich oder Wittenberg sucht man ebenso vergeblich wie „confessio augustana“, „Interim“ oder „Religionsgespräche“.
Die Reformationsgeschichtsforschung der vergangenen Jahre hat sich intensiv mit Fragen der Konfessionalisierung beschäftigt, hat die Theorie des Kommunalismus diskutiert oder – um noch ein drittes Beispiel zu nennen – die Beharrungs- und Erneuerungskräfte der römisch-katholischen Kirche erforscht. Die damit verbundenen Namen – Heinz Schilling, Peter Blickle und Walter Ziegler seien exemplarisch genannt – sucht man im Literaturverzeichnis Greschats entweder vergebens oder findet nur ältere Titel. Lokal- und regionalgeschichtliche Forschungen haben nachweisen können, dass die Straßburger Kirche Bucers sehr viel länger als ursprünglich vermutet, teilweise bis in die 1570er-Jahre hinein, Maßstab, Vorbild und Orientierungspunkt für die evangelischen Gemeinden in Südwestdeutschland war. Von alledem erfährt man in der zweiten Auflage der Biographie Martin Bucers kaum etwas.
Der am Stand der aktuellen reformationsgeschichtlichen Forschung Interessierte wird daher andere Werke konsultieren müssen. Wer aber eine der zentralen Figuren der Reformationszeit kennen lernen möchte, wer dem Menschen, dem Theologen und dem Politiker Martin Bucer begegnen will, dem sei diese zweite Auflage einer längst vergriffenen Biographie empfohlen. Sie hat auch knapp zwanzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen nichts an Präzision und Treffsicherheit in der Charakteristik des Straßburger Reformators verloren.