J. Auler (Hrsg.): Richtstättenarchäologie

Titel
Richtstättenarchäologie.


Herausgeber
Auler, Jost
Erschienen
Dormagen 2008: archaeotopos-Verlag
Anzahl Seiten
563 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kathrin Misterek, Institut für Ur- und Frühgeschichte, Universität Wien

Richtstättenarchäologie – der Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, Jost Auler, definiert sie in seinem Vorwort als jenen „Teil der Rechtsarchäologie“, der sich „mit den dinglichen Hinterlassenschaften der Strafrechtspflege“ (S. 8) befasst. Genauer: den „auf uns gekommenen Spuren der eigentlichen Richtstättenanlage [...] und ihrer Funktionen als Ort des Hinrichtungsvollzuges [...], als Sonderfriedhof [...] und gegebenenfalls als Abdeckerplatz“ (ebd.). Ihm zufolge werden hierbei außer Baubefunden wie etwa Galgengrundrissen auch „isoliert auftretende Phänomene“ erfasst – neben „Moorleichen oder gepfählte[n] Humanschädel[n], auch Befunde, die aus der Durchführung von Leibesstrafen resultieren [...] sowie Relikte medizinischer Aktivitäten der Nachrichter [...] oder auch Hinweise auf Volksmedizin und Aberglaube“ (ebd.).

Der von der Richtstättenarchäologie erforschte Zeitraum beginnt nach Aulers Definition somit erst „mit der regelmäßigen Etablierung von Richtplätzen als ortsfeste Institutionen etwa im 13. Jahrhundert“ und „endet mit der endenden Aufklärung um 1800“ (ebd.). Hier ist allerdings anzumerken, dass einige der in seinem Sammelband enthaltenen Beiträge (etwa Dietrich Alsdorf, Marita Genesis, Andreas Motschi und Christian Muntwyler) hinsichtlich ihrer behandelten Zeiträume durchaus in das weitere 19. Jahrhundert streuen. Das Spektrum an vorgestellten Befunden bzw. Fundplätzen sowie Boden- und Baudenkmalen umfasst dabei Beispiele aus weiten Bereichen Mitteleuropas: Vertreten sind Dänemark, Deutschland, Österreich, Polen, die Schweiz und Tschechien.

Das Sammelwerk „Richtstättenarchäologie“ versteht sich als ein „Buch, das sich sowohl an die Fachwelt als auch an interessierte Laien richtet“ (Klappentext, ähnlich auch im Vorwort) und in dem „vielerlei Aspekte des großen Themas angerissen werden“ sollen (S. 8).

Entsprechend dieser Zielsetzung ist der thematische Bogen weit gespannt. Er beginnt mit einer ausführlichen Vorstellung älterer wie neuerer archäologischer Beobachtungen an Richtstätten. Darunter finden sich sowohl frühe Fundmeldungen beispielsweise des 19. Jahrhunderts als auch die Resultate jüngerer „Altgrabungen“ und aktueller Projekte (Abteilungen I bis III). Anschließend werden weitergehende Bereiche des Themas in teils umfassendem Maße behandelt. Hier finden sich: „Regionale Betrachtungen zu Richtstätten“ (Abteilung IV), „Richtstätten und [physische] Anthropologie“ (Abteilung V) sowie „Historische Aspekte zu Richtstätten“ (Abteilung VI).

Diese sechs Abschnitte bieten einen bemerkenswert tiefen Ein- und breiten Überblick in bzw. über die Richtstättenarchäologie, die in einer derartigen Konzentration und in einem solchen Umfang bislang einmalig sind. Dass die Beiträge der ersten beiden Abteilungen hauptsächlich aus bereits andernorts publizierten Resultaten bestritten werden, mag als Doppelung gesehen werden. Ohne Zweifel nützt diese Vorgehensweise jedoch dem Ziel einer Zusammenfassung möglichst vieler der bislang im gewählten zeitlichen und räumlichen Rahmen erfolgten Untersuchungen zum Thema in einer Publikation. Ein lobenswerter Ansatz, der Interessierten, sowohl Fachwissenschaftler/innen wie auch Laien, den Zugang zur Richtstättenarchäologie deutlich erleichtert – wurden entsprechende Arbeiten bisher doch häufig genug in sehr verstreuten und oft auch schwer aufzuspürenden Kontexten publiziert.

Unter den enthaltenen Beiträgen finden sich dabei nicht nur Vorstellungen einzelner archäologisch untersuchter Richtstätten und deren regionaler, topographischer sowie rechtlichen Verortung. Auch Untersuchungen einiger aus Schriftquellen bekannter Rechtsfälle, die teils mit archäologischen Befunden in Zusammenhang gebracht werden konnten, sind vertreten (so Alsdorf zum Himmelpforter Blutgericht). Hier zeigt sich eine Stärke der historischen Methode der Richtstättenarchäologie, die exemplarisch auch andere Gebiete der Historischen Archäologie zur Spezifizierung ihrer Erkenntnismöglichkeiten heranziehen kann.

Mehrere Beiträge erörtern archäologisch wie auch historisch rechtliche Hintergründe des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Strafvollzuges sowie seine Zusammenhänge mit dem Abdeckereiwesen (Marita Genesis, Gisela Wilbertz). Auch Positionierungen hinsichtlich der Möglichkeiten einer ergänzenden Nutzung der Methoden verschiedener Natur- und Geisteswissenschaften finden sich in mehreren Arbeiten. So erörtern Thomas Becker und Ursula Ullrich-Wick Potentiale von airborne laser scanning, während Motschi und Muntwyler Resultate archäologischer, anthropologischer und archäozoologischer Untersuchungen vorstellen. Dagegen behandelt Evers in seinem Beitrag allgemein Darstellungen von Richtstätten in zeitgenössischen Bildquellen, wobei er die Möglichkeiten entsprechender Forschungen aufzeigt. Ebenfalls auf historischen Quellen fußen weiterhin auch die Untersuchungen von Daniel Wojtucki zum Breslauer Rabenstein und Robert Zagolla zur Rechtspraxis der Folter.

Der Herausgeber Auler benennt es als „Ziel der Archäologie [in der Erforschung von Richtstätten], mit den modernsten wissenschaftlichen Methoden des Faches und in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit anderen geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen die historischen Quellen zu überprüfen und ergänzen“ (S. 8). Allerdings ist hier kritisch anzumerken, dass die Archäologie hier in die Rolle einer Hilfswissenschaft gedrängt wird, die die Schriftquellen zwar korrigieren könne, jedoch kaum ohne sie denkbar erscheint. Selbstverständlich ist eine historische Archäologie ohne die Nutzung von erhaltenen Schriftquellen wenig sinnvoll, dennoch ist entgegenzuhalten, dass sich die Archäologie mit ihren Methoden auch und gerade jener Befunde annehmen kann und muss, deren Ursprünge eben nicht durch Schriftquellen überliefert oder erklärbar sind. Die Arbeit mit historischen Schrift- und Bildquellen im Kontext archäologischer Untersuchungen von Richtstätten (wie allen anderen Befunden auch) sollte vielmehr die archäologische Methode an sich optimieren helfen, um mit zunehmenden interpretativen Potenzialen auch aus historisch schlechter dokumentierten Überresten entsprechender Funde und Befunde weitergehende Schlüsse ziehen zu können.

Indes nutzen die enthaltenen Beiträge die Archäologie und ihre Nachbarwissenschaften in der Regel gleichberechtigt und auch in (gleicher) angemessener Weise kritisch – und dies nicht nur in jenen beiden Abteilungen, in denen dies zu vermuten wäre (Abteilung V und VI zu anthropologischen und historischen Aspekten). Dass ein solches Vorgehen sowie die teils erfreulich deutlich formulierte Verortung der Archäologie als ein Teil der Geschichtswissenschaften (so z.B. Wilbertz S. 523) eine klar definierte und reflektierte eigene Methodik verlangt, versteht sich von selbst und findet sich auch in den einzelnen Beiträgen wieder (so unter anderem Thies Evers; Gisela Wilbertz). Denn sonst bestünde schließlich die Gefahr, dass unser Geschichtsbild durch Zirkelschlüsse konstruiert würde, die auf Grundlage unreflektierter gegenseitiger Übernahmen der jeweils opportun erscheinenden Ergebnisse von Nachbarwissenschaften fußen.

Die 34 Beiträge präsentieren in der Gesamtschau die Resultate und Möglichkeiten einer in methodischer Hinsicht interdisziplinär agierenden Geschichtswissenschaft, die jedoch technologisch wie auch in Bezug auf die rein archäologischen Methoden der Grabung und Prospektion bislang eher konservativ arbeitet. Dies ist sicher nicht zuletzt auf die angespannte finanzielle Situation zurückzuführen, innerhalb derer der hier aktiven Archäolog/innen gezwungenermaßen agieren müssen. So war eben leider nicht immer beispielsweise eine Prospektion des jeweiligen Untersuchungsgeländes mittels airborne laser scanning möglich – wie glücklicherweise der Fall bei dem von Becker und Ullrich-Wick beschriebenen Projekt.

Kritisch anzumerken sind einige redaktionelle Schwächen. So ist etwa die inhaltliche Untergliederung in Themenbereiche grundsätzlich gut und sinnvoll, die Zuordnung einzelner Beiträge kann jedoch nur mühsam nachvollzogen werden. Beispielsweise wäre Wojtuckis praktisch vollständig auf Schrift- und Bildquellen fußender Beitrag zum „Breslauer Rabenstein und Hochgericht“ aus Abteilung IV (Regionale Betrachtungen zu Richtstätten) in Abteilung VI (Historische Aspekte zu Richtstätten) vermutlich besser aufgehoben. Ferner scheint der Publikationsstand von Grabungsergebnissen, sprich: eine entweder bereits erfolgte oder aber noch nicht erfolgte Veröffentlichung, den definitorischen Unterschied zwischen Abteilung II (Altgrabungen an Richtstätten) und III (Aktuelle Untersuchungen an Richtstätten) zu begründen. Darüber hinaus sind die Abbildungen häufig zu klein geraten und/oder von zu schlechter Qualität. Letzteres gilt insbesondere für die zahlreichen enthaltenen Tabellen, deren Lesbarkeit darunter teils deutlich leidet. Schließlich finden sich auch immer wieder Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das betrachtete Werk dem vom Herausgeber gewählten Anspruch, eine inhaltlich ebenso informative wie umfassende und zudem gut lesbare Darstellung zur Richtstättenarchäologie zu bieten, vollauf gerecht wird. Die genannten formalen Mängel sind dabei keinesfalls zu hoch zu bewerten, sollten sie doch im Rahmen einer Neuauflage zweifelsohne problemlos zu bereinigen sein. In einem solchen Kontext wäre schließlich eine Erweiterung im Sinne einer auch methodologisch umfassenden Betrachtung wünschenswert. Dies könnte beispielsweise in Form eines einleitenden Kapitels erfolgen, das die im Vorwort angeführten und in den einzelnen Beiträgen durchaus angewandten methodischen Grundlagen moderner Archäologie auf Richtstätten zusammenfassend darlegt und erläutert. Ein solches würde den insgesamt schon sehr guten Eindruck, den der vorliegende Sammelband hinterlässt, zweifelsohne abrunden.

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