Im Archiv ihrer Ursprünge hatten die Deutschen während des 19. Jahrhunderts viel Platz: Selbst Indien gehörte dazu. Diese Erkenntnis – als Antwort auf die Frage, was die Deutschen nach 1800 so sehr an Indien, seiner Kultur, seiner Literatur und vor allem seiner alten Kultsprache Sanskrit faszinierte – ist keineswegs neu. Schon Raymond Schwab1 hat 1950 festgestellt, dass die Deutschen seit Friedrich Schlegel in Indien nicht nur „das höchste Romantische“ suchten, sondern auf dem indischen Subkontinent und in den heiligen Texten der alten Inder, den Vedas, ihre geographische und kulturelle Herkunft vermuteten. Voraussetzung für diese Sichtweise war eine sprachwissenschaftliche Entdeckung: die Verwandtschaft des Sanskrit mit dem Griechischen und Lateinischen, die zur Konstruktion der indoeuropäischen bzw. in Übernahme eines brahmanischen Ausdruckes zur arischen Sprachfamilie führte und dank der anthropologischen Dimension innerhalb der deutschen Philologie zum Bild der indoeuropäischen Völkerfamilie erweitert wurde.
Neu im hier zu besprechenden Buch von Pascale Rabault-Feuerhahn mit dem Titel „L’Archive des origines“ ist nicht die Nacherzählung dieser Genese, sondern die Bedeutung, die die Pariser Autorin dieser Aneignung Indiens als Teil der eigenen Geschichte für den wissenschaftlichen Fortschritt beimisst. Sie identifiziert diese geistige Vereinnahmung des an sich Fremden als die zentrale und dauerhafte methoden- und erkenntnisfördernde Innovationskraft der deutschen universitären Indologie während des 19. Jahrhunderts: „Le dessus dans l’ordre de priorités érudites des indianistes allemands“ – so Rabault-Feuerhahn – war „la question des origines“ (S. 387-388). Indem sie diese Rückbezüglichkeit der indologischen Forschung auf die Vergangenheit und Herkunft der Deutschen betont, grenzt sie sich ausdrücklich gegen zwei ihr gleichermaßen unzutreffend erscheinende Interpretationen ab. Für Rabault-Feuerhahn stellen die Ergebnisse und Erkenntnisse der deutschen akademischen Indologie weder das Produkt einer zweckfreien, nur dem inneren Erkenntnisfortschritt verpflichteten Disziplin noch ein wissenschaftliches Instrument in der imperialistischen Beherrschung des „Orients“ dar, wie die Anhänger der Orientalismus-These immer wieder behauptet haben.
Am Ausgangspunkt der vorliegenden Disziplingeschichte der deutschen Indologie – als Sammelbegriff für die Philologien verschiedener indischer Sprachen, insbesondere des Sanskrit – stand die Frage nach Grund und Zweck der das ganze 19. Jahrhundert andauernden, intensiven Beschäftigung deutscher Universitätslehrer mit den alten Sprachen Indiens. Wenn es eine Kritik an Rabault-Feuerhahns Antwort auf diese Frage gibt, dann lässt sie sich mit dem von Indra Sengupda2 schon 2005 erhobenen Einwand formulieren: Nicht alle Forschung zum Sanskrit und anderen indischen Sprachen war vom Gedanken beseelt, mittels der Komparatistik in die Ursprünge der germanischen oder europäischen Kultur einzudringen. Gerade nach der Reichgründung werden die Sanskrittexte zunehmend als „indisch“ und nicht mehr als „indogermanisch“ wahrgenommen. Rabault-Feuerhahn geht darauf im dritten Teil ihrer Studie ebenfalls ein, bleibt dort aber schuldig zu erklären, wieso die Komparatistik und damit die Bedeutung der indischen Sprachen und Texte für die deutsche Nation innerhalb der deutschen Indologie gerade im Moment der nationalen Einigung an Kraft verlieren. Ihre zentrale wissenschaftsgeschichtliche Frage hängt an einem grundsätzlichen Befund: „Le domaine indo-européen restait la clé de voûte de l’indianisme allemand.“ (S. 388) Doch wie, so fragt sie, erwuchsen aus dieser identitätsrelevanten „imaginaire indo-européen“ im Zeitalter des Nationalismus eigentlich penible, kleinteilige Forschung und philologische Editionen, die auch jenseits der nationalen deutschen Grenzen höchstes Ansehen genossen?
Nun kommt Rabault-Feuerhahn aus dem französischen Elitezentrum CNRS und arbeitet dort unter anderem in enger Verbindung mit Michel Espagne. Die methodischen Anregungen dieses Forschers sind nicht zu übersehen. Erst die in Paris gepflegte interkulturelle (deutsch-französische) Transfer-Geschichte vervollständigt denn auch die zentrale These ihres Buches: Wenn der paradoxe Befund vom hohen Ansehen deutscher Forschung stimmt, die sich zum einen in kleinteiliger Philologie und zum anderen in Beiträgen zur deutschen Identität äußerte und beides nicht als Widerspruch, sondern als Ergebnis einer permanenten Wechselwirkung erfasst werden soll, dann ist das nur möglich, wenn der beständige Bezug auf die eigene Geschichte nicht als Erstarrung, sondern als ein ungeheuer flexibles, offenes, innovationsfreundliches Konzept aufgefasst wird: Die spezifische deutsche Indologie – so Rabault-Feuerhahn – ist keine „singularité irréductible, liée à un hypothétique 'caractère nationale allemand'“ , sondern eine nationale Wissenschaftstradition, die sich nicht nur im Wechselspiel mit der sozialen, politischen und disziplinären Umwelt konstruierte, sondern vor allem „dans l’interaction avec d’autres traditions étrangères elles aussi spécifiques" (S. 29). Zugespitzt formuliert bedeutete das, dass gerade weil die deutschen Indologen ihre Forschungen als Beitrag zu „leur propre passé, leur propre langue, leur propre univers intellectuel“ (S. 397) betrachteten, sie wissenschaftlich so ungeheuer produktiv und innovativ waren: Denn zum einen musste diese Konstruktion des Eigenen ständig erneuert werden und zum anderen galt es auf jede inhaltliche und methodische Anregung jenseits der eigenen Nation als Herausforderung zu reagieren.
Um diese These zu belegen hat Rabault-Feuerhahn ihre Untersuchung in drei Teile gegliedert, die jeweils aus zwei Kapiteln bestehen und sich an den inneren methodischen Veränderungen des Faches orientieren. Der erste Teil ist dem europäischen Sanskritstudium und der philologischen Tradition in Deutschland gewidmet. Dabei geht es zum einen um die Entstehung des europäischen Wissens über Indien in England, Bengalen und Frankreich und seinem Transfer nach Deutschland, zum anderen handelt dieser Teil vom Prozess der Institutionalisierung erster Lehrstühle für Sanskrit an den deutschen Universitäten. Der zweite Teil, überschrieben mit dem Titel „Die Hegemonie der Komparatistik“, bildet das Zentrum der Untersuchung. In ihm widmet sich die Autorin der Durchsetzung der vergleichenden Methode unter den deutschen Indologen und der zentralen Rolle der Veda-Forschung bei der Suche nach den Ursprüngen der indoeuropäischen Sprachen und Völker unter Einfluss des französischen Indologen Eugène Burnouf. Im Mittelpunkt steht dabei „le passage d’un comparatisme d’ordre linguistique à un comparatisme visant à éclairer des faites culturels tel que la mythologie et la religion et la manière dont le paradigme comparatiste a alimenté la dimension anthropologique inhérente au travail philologique“ (S. 27). Der dritte Teil nimmt schließlich die Herausforderungen durch die Anthropologie in den Blick. Er zeigt, wie das Aufkommen anthropologischer Zugänge zugleich Kritik am Siegeszug der Komparatistik hervorruft und den Beginn einer neuen Interpretation markiert, die Indisches nicht mehr länger als Teil der Indogermanistik, sondern als individuelle historische Erscheinung wahrnimmt.
Die drei Teile lassen sich auf den ersten Blick als chronologische, spezifisch deutsche Abfolge lesen. Doch Rabault-Feuerhahn verweist in jedem ihrer Kapitel darauf, dass weder die Hegemonie des Vergleichens innerhalb der deutschen Indologie je unangefochten, noch überhaupt etwas ausschließlich Deutsches war. Mit dem Ausblick auf die „sciences sociales françaises“ um 1900 endet der Blick auf eine deutsche Wissenschaft, die nicht trotz, sondern wegen ihrer nationalen Selbstbezüglichkeit nie aus dem internationalen Kreislauf des Wissens ausgeschlossen war.
Pascale Rabault-Feuerhahn hat eine anspruchsvolle und mit einer wissenschaftsgeschichtlich anregenden These argumentierende Disziplingeschichte der deutschen Indologie im 19. Jahrhunderts vorlegt. In der sich zuweilen der postmodernen Beliebigkeit hingebenden Debatte über den „deutschen Orient“ hat sie damit ein klares Plädoyer für die Eigenwertigkeit der wissenschaftlich-akademischen Auseinandersetzung mit dem Orient abgelegt, die sich sehr wohl von literarischen oder philosophischen Adaptionen unterschied. So ist zu hoffen, dass mit dieser Studie endlich die Disziplingeschichte der deutschen, universitären Orientalistik aus dem Schatten einer zum Teil erstickenden, politisch korrekten Orientalismus-Debatte heraustritt und sich der Wissenschaftsgeschichte öffnet, wie dies z.B. von Indra Sengupda und anderen jüngeren Forschern bereits begonnen wurde.
Auch die deutsche Wissenschaftsgeschichte könnte von diesem transnationalen Blick profitieren: Denn hier – in Französisch von einer französischen Wissenschaftlerin – lässt sich nachlesen, was die deutsche Wissenschaft einst so innovativ, so grenzüberschreitend anregend (und was das Beherrschen des Deutschen als Wissenschaftssprache so unerlässlich) machte: Es war die Kombination aus nationaler Relevanz und Freude an wissenschaftlichen Neuentdeckungen, die sich im unablässigen Austausch über nationale Grenzen hinweg auftaten. Kurz, Pascale Rabault-Feuerhahn präsentiert dem Leser eine überaus spannende Disziplin, der Wissenschaft eine „aventure“ war: die große Lust am gefährlichen Abenteuer.
Anmerkungen:
1 Raymond Schwab, La Renaissance orientale, Paris 1950.
2 Indra Sengupta, From Salon to Disciplin. State, University, and Indology in Germany, Würzburg 2005.