R. Wenzel: Das Ringen um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland

Cover
Titel
Die große Verschiebung?. Das Ringen um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland von den ersten Vorarbeiten bis zur Verabschiedung des Gesetzes 1952


Autor(en)
Wenzel, Rüdiger
Reihe
Historische Mitteilungen, Beihefte 70
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
262 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Schwartz, Institut für Zeitgeschichte München

Die Arbeit von Rüdiger Wenzel über das Zustandekommen des Lastenausgleichsgesetzes in Westdeutschland zwischen 1945 und 1952 ist in mehrfacher Hinsicht ein merkwürdiges Buch. Zunächst deshalb, weil Wenzels Studie den Anspruch erheben darf, akribisch und aktengestützt unzählige Verästelungen jenes Entscheidungsprozesses, der zum Lastenausgleich führte, dargestellt zu haben. Merkwürdig zugleich deshalb, weil der Verfasser offenlässt, warum diese ungeheure Fleißarbeit nach dem schon vor einem Vierteljahrhundert entstandenen Standardwerk von Reinhold Schillinger1 überhaupt geschrieben worden ist: Gewiss, aktengestützte Empirie ist das Novum von Wenzels Arbeit, aber zugleich bleibt völlig offen, ob diese Arbeit auch zu signifikant neuen Schlussfolgerungen gelangt ist. Denn Wenzel geht auf die Thesen von Schillinger nirgendwo ein.

Merkwürdig ist Wenzels Arbeit schließlich deshalb, weil die zugrunde liegenden Quellenstudien zu Beginn der 1980er-Jahre erfolgt sind. Zwischen Arbeitsbeginn und Drucklegung liegen somit fast drei Jahrzehnte, was aber keineswegs als Chance zur Selbst-Kritik (etwa mit Blick auf veränderte Fragestellungen) diskutiert wird. Der Leser gewinnt sehr bald den Eindruck, dass die Entwicklungen nach dem Epochenjahr 1989 in dieser Arbeit bemerkenswert wenige Spuren hinterlassen haben.

Das gilt in erster Linie für den Frage- und Forschungsansatz des Buches. Zwar behauptet dessen Untertitel, es gehe „um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland“, doch ist dieses „Nachkriegsdeutschland“ fast immer nur die „alte“ Bundesrepublik, während sowjetische Besatzungszone und DDR kaum Erwähnung finden, geschweige denn gleichberechtigt in eine gesamtdeutsche Forschungsperspektive einbezogen werden. Der Leser erfährt nur nebenbei etwas über die parallele mit Westdeutschland konkurrierende Politik im SED-Staat – etwa dass sich die Vertriebenen dort nicht einmal so hätten nennen dürfen (S. 129) oder dass in der SBZ/DDR den stattdessen „Umsiedler“ Genannten und den Bombengeschädigten zwar kein Lastenausgleich gewährt worden sei, wohl aber eine Soforthilfezahlung und ein Wohnbedarfskredit (S. 212). Diese bruchstückhaften Informationen werden nie in ein Gesamtbild eingeordnet und sind zuweilen ungenau – so wurde der Wohnbedarfkredit, 1950 im Rahmen eines umfassenderen DDR-Umsiedlergesetzes aufgelegt, nur bestimmten Gruppen von Vertriebenen gewährt, während Bombengeschädigte grundsätzlich ausgeschlossen blieben.2 Nur ein einziges Mal kommt der Verfasser auf eine Wechselwirkung zwischen West und Ost zu sprechen – bei einem der „Nebengesetze“ des Lastenausgleichs, dem „Währungsausgleichsgesetz“ von 1952, dem eine Anerkennung von Vertriebenen-Sparguthaben durch die Sowjets 1948 vorausgegangen sei; dies habe dazu geführt, dass in Westdeutschland lebende Vertriebene ebenfalls Ausgleichsanträge „bei Ostberliner Stellen“ eingereicht hätten (S. 188f.).

Diese Handlungsdruck im Westen erzeugende Vorbildwirkung einer ostdeutschen Maßnahme – die allerdings, anders als Wenzel behauptet, nicht für Vertriebene aus allen „abgetrennten Gebieten“ galt, sondern nur für Reichsdeutsche3 – war keineswegs der Einzelfall, als der sie bei Wenzel zwangsläufig erscheint. Unschwer hätte aufgezeigt werden können, dass dies auch in vielen anderen relevanten Fragen der Fall war, vom Wohnbedarfkredit über die Flüchtlingssiedlung bis hin zu den umstrittenen Hausratabgaben, die in den 1940er-Jahren – anders als in Wenzels lückenhafter Darstellung – nicht nur gesamtdeutsch diskutiert wurden, sondern sowohl im westdeutschen Hessen und Bremen als auch im sowjetzonalen Thüringen in Landesgesetze gegossen wurden.4

Die „Einbeziehung des Hausrats in die Abgabepflicht“ (S. 96), die bei Wenzel erst in den Regierungsberatungen von 1950 auftaucht, hatte somit eine längere gesamtdeutsche Vorgeschichte. Diese fehlt jedoch in Wenzels Studie ebenso wie die wiederum gesamtdeutsch verflochtene Vorgeschichte des von ihm kurz erwähnten Flüchtlingssiedlungsgesetzes von 1949 (S. 62). Man kann diese Maßnahme – deren Unzulänglichkeit von Vertriebenenverbänden jahrzehntelang beklagt wurde – nur richtig einordnen, wenn man das sowjetzonale Gegenmodell entschädigungsloser Enteignung landwirtschaftlichen Großbesitzes, die so genannte „Bodenreform“ von 1945, berücksichtigt; doch von dieser lastenausgleichsrelevanten Gewaltmaßnahme der „Ostzone“ erfährt der Leser ebenso wenig wie von den gemäßigteren und trotzdem gescheiterten Bodenreform-Versuchen in Westdeutschland vor 1949.5

Fazit: Nur wer sich mit einer auf den westdeutschen Lastenausgleich von 1952 zugeschnittenen Engführung begnügt, kann mit der Darstellung von Wenzel einigermaßen zufrieden sein. Diese ist insgesamt gründlich, aber in dieser Akribie und ihrer weitgehend chronologischen Struktur auch ermüdend. Der Leser muss mit Kapitelüberschriften leben wie „Die erste Lesung im Bundestag“ oder „Die dritte Beratung im Bundestagsausschuss“. Er muss gelegentliche Stilblüten akzeptieren wie „Die Gerüchteküche begann wieder zu kochen.“ (S. 60) Nur selten sind sachliche Fehler zu finden – wie die Aufwertung der Reichsleitung des Kaiserreiches zur „Reichsregierung“ (S. 29). Wer all das erträgt, wird mit einem Fundus an Detailwissen belohnt – darunter die begriffsgeschichtliche Rückführung des „Lastenausgleichs“ auf Ludwig Erhard (S. 31) oder polemisch-schöne Zitate von Heinrich Albertz (S. 46). Vor allem aber bekommt der Leser gute Einblicke in die Interessenkonflikte zwischen Einheimischen und Vertriebenen, die insbesondere die Kanzlerparteien CDU/CSU damals tief spalteten und dennoch zu Kompromisslösungen führten.

Drei Mankos aber bleiben: Erstens die fehlende gesamtdeutsche Perspektive, die „Lastenausgleich“ nicht nur vom westdeutschen Endergebnis von 1952 her denkt. Zweitens die Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes.6 Drittens eine kurze Antwort auf die Kernfrage: Wozu insgesamt dieses Buch?

Anmerkungen:
1 Reinhold Schillinger, Der Entscheidungsprozess beim Lastenausgleich 1945-1952, St. Katharinen 1985.
2 Michael Schwartz, Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, München 2004.
3 Michael Schwartz, Diskriminierung oder Gleichstellung? Das Entschädigungsproblem von Vertriebenen-Sparguthaben in der Umsiedlerpolitik der SBZ/DDR, in: Thomas Großbölting / Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Die Errichtung der Diktatur. Transformationsprozesse in der Sowjetischen Besatzungszone und in der frühen DDR, Münster 2003, S. 223-249.
4 Michael Schwartz, Lastenausgleich: Ein Problem der Vertriebenenpolitik im doppelten Deutschland, in: Marita Krauss (Hrsg.), Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945, Göttingen 2008, S. 167-193.
5 Ulrich Enders, Die Bodenreform in der amerikanischen Besatzungszone 1945-1949 unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, Ostfildern 1982; Arnd Bauerkämper (Hrsg.), „Junkerland in Bauernhand“? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, Stuttgart 1996.
6 So wird Michael Hughes mit einem Aufsatz von 1991 berücksichtigt, nicht aber mit seiner umfassenden Monographie: Michael L. Hughes, Shouldering the Burdens of Defeat. West Germany and the Reconstruction of Social Justice, Chapel Hill 1999; auch neueste deutsche Arbeiten fehlen, etwa Paul Erker (Hrsg.), Rechnung für Hitlers Krieg. Aspekte und Probleme des Lastenausgleichs, Heidelberg 2004, oder die einschlägigen Artikel in den Bänden 2, 3 und 8 der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung / Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 11 Bde., Baden-Baden 2001-2008.

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