Das Buch versammelt die „Vorträge der Tagung der Historischen Kommission für die böhmischen Länder (vormals: der Sudetenländer) in Brünn vom 1. bis 2. Oktober 2004 aus Anlass ihres fünfzigjährigen Bestehens“ und dokumentiert einen selbstreflexiven Läuterungsprozess der durch ihre Geschichte und ihren Namen „belasteten“ Kommission. Neben der kritischen historischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte stand für die Kommission gemäß dem Vorwort ihres damaligen Obmanns Ralph Melville auch die Positionierung in der Wissenschaft und letztlich in der internationalen Öffentlichkeit auf der Tagesordnung: Im Jahr 2000 war die „Historische Kommission der Sudetenländer e.V.“ in „Historische Kommission für die böhmischen Länder e.V.“ umbenannt und gleichzeitig der Beschluss gefasst worden, den so genannten „Traditionsparagrafen“ der Vereinssatzung einer Prüfung zu unterziehen. Der Paragraf nahm nämlich Bezug auf Institutionen und Vereine, die in den 1930er- und 1940er-Jahren bis zu ihrem Ende 1945 mehrheitlich von nationalsozialistisch orientierten Mitgliedern beherrscht und auch von der Politik nutzbar gemacht wurden.1 Nach dem Vorliegen der Tagungsergebnisse wurde 2007 beschlossen, in der Satzung auf die Nennung der Institutionen und Vereine zu verzichten.
In der Tagung sollten diese Institutionen und Vereine, aber auch die Gründungsmitglieder der Kommission wissenschaftsgeschichtlich porträtiert werden: Ihr „wissenschaftliches Werk sowie ihre weltanschaulich-politische(n) Orientierung“ standen im Mittelpunkt (S. X). Da die Kommission 1954 aus 40 Mitgliedern gebildet wurde und vielfach Vorarbeiten zu diesen Personen ebenso wie zu den Institutionen und Vereinen fehlten, konnte nur ein Ausschnitt des umfassenden Vorhabens verwirklicht werden. Die im vorliegenden Band behandelten Themen lassen sich grob in vier Gruppen gliedern: Institutionengeschichte, Biografien, Disziplinengeschichte, Verhaltensmuster.
Als schwierig dürften sich die biografiegeschichtlichen Arbeiten erwiesen haben. Zwar waren von den Gründungsmitgliedern einige vor 1945 nicht in Böhmen und Mähren tätig und fielen aus dem Untersuchungsraster, aber es gelang trotzdem nur neun Personen abzuhandeln. Dabei ist die Einreihung Bertold Bretholz’ (†1936) unter eine „sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ nicht unproblematisch, und Wilhelm Wostry, einer der zentralen Historiker einer deutschböhmischen/sudetendeutschen Geschichtswissenschaft, starb bereits 1951. Dass letztlich andere zentrale Figuren wie Anton Ernstberger, Eugen Lemberg, Kurt Oberdorffer, Bruno Schier, Rudolf Schreiber, Ernst Schwarz oder Heinz Zatschek fehlen, ist zu bedauern. Unter den Institutionen fehlt die Prager Deutsche Akademie der Wissenschaften, während etwa der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen in dem Porträt seines Obmanns Wostry behandelt wird. Nimmt man jedoch Abstand von dem, was erreicht werden sollte oder könnte, bietet das Buch fast durchgehend sehr wertvolle und anregende Beiträge!
Im einleitenden Beitrag „Zu den Anfängen der Historischen Kommission der Sudetenländer“ (S. 1-9) skizziert Stephan Dolezel kritisch Entstehung, Ziele und erste Arbeiten der Kommission, die gemäß ihrer Satzung von 1954 „im Sinne des Völkerverständigungsgedankens und der Toleranz“ die „wissenschaftliche Erforschung der Sudetengebiete“ angehen wollte. Im Zuge der Bildung der Kommission wurde auch darauf verzichtet, bis 1945 im „Protektorat Böhmen und Mähren“ und im „Sudetengau“ existierende Institutionen und Vereine wiederzubeleben. Die Kommission konnte den Großteil der geisteswissenschaftlichen sudetendeutschen Elite versammeln, wobei nach der politischen Tätigkeit der Mitglieder vor 1945 nicht gefragt wurde. Mag man da und dort beharrlich an alten Geschichtsauffassungen festgehalten haben, so konnte sich die Kommission in der demokratischen BRD längerfristig nicht einer Öffnung zur (gesamten) tschechischen Geschichte unter Integration tschechischer Lehrmeinungen verschließen. Ein weiteres institutionengeschichtliches Thema bietet Ota Konrád mit „Die Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung 1940-1945: ‚Wissenschaftliche Gründlichkeit und völkische Verpflichtung’“ (S. 71-95). Die in Reichenberg (Liberec) angesiedelte außeruniversitäre Anstalt wird von ihm auf Grundlage archivalischer Quellen überzeugend beschrieben und ihre auch ausgeprägt auf politischen Zielsetzungen und einem weit gespannten Netzwerk beruhende Bedeutung innerhalb der sudetendeutschen Geschichtswissenschaft dargelegt. In der „praktischen Umsetzbarkeit […] der Erkenntnisse der Geisteswissenschaften für politische Zwecke“ erblickt Konrád „geradezu die Existenzberechtigung der Anstalt“. Die Anstalt sollte etwa eine zehnbändige Quellenedition zum „Volkstumskampf“ in den „Sudetenländern“ herausgeben und helfen, den „tschechischen Geschichtsmythos“ zu liquidieren. Konrád verweist auch auf das „hohe Maß(es) an personeller Kontinuität zwischen der Reichenberger Anstalt und den wichtigsten wissenschaftlichen Institutionen der Sudetendeutschen nach 1945“, deren Auswirkungen noch genauer zu untersuchen wären. Nicht zutreffend ist jedoch die Feststellung: „Für die deutschen Wissenschaften in den böhmischen Ländern spielte nach 1938/39 auch die Tatsache [sic!] eine besondere Rolle, dass die zielgerichtete Forschung an der deutschen Universität in Prag in Folge ihrer Gleichschaltung, die schon im Herbst 1938 einsetzte, durch tiefgreifende Veränderungen im Lehrkörper und durch die Ungewissheit über ihre künftige Ausrichtung mindestens bis 1942 fast gänzlich lahmgelegt wurde. Daher übernahmen zwei […] Forschungseinrichtungen […] – die Reichenberger Anstalt und die 1942 gegründete Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag – im Großen und Ganzen die Forschungsrolle der Universität.“ Eine „zielgerichtete Forschung“ wurde nämlich erst mit der Gleichschaltung konzeptionell auf den Plan gebracht und sollte eben durch einen Umbau des Lehrkörpers überhaupt ermöglicht werden. Die Reinhard-Heydrich-Stiftung konnte bekanntlich erst im Sommer 1943 ihre Tätigkeit aufnehmen und hat nur noch wenige schriftliche „Forschungs“-Ergebnisse vorlegen können. Zudem muss beachtet werden, dass die Anstalt und die Stiftung zuvorderst mit Universitätsangehörigen besetzt wurden und so Überschneidungen bzw. Schnittmengen entstanden. Die aus dem Postulat Konráds ableitbare Frage, wo, wann und von wem welche geisteswissenschaftlichen Forschungen geleistet wurden, ist freilich höchst interessant und bedarf einer eingehenden Antwort.
Die biografischen Beiträge eröffnet Zdeňka Stoklásková mit „’Stets ein guter und zuverlässiger Deutschmährer’. Zur Laufbahn von Bertold Bretholz (1862-1936)“ (S. 25-41). Der Mährer Bretholz, von deutschjüdischer Abstammung, war während seiner Karriere ungeachtet seiner großen Leistungen als Historiker und Archivar in Mähren immer wieder mit Antisemitismus konfrontiert, wandte sich schließlich der jüdischen Geschichte zu und verübte 1936 wahrscheinlich Selbstmord. Seine Frau starb 1942 in Theresienstadt (Terezín). Reto Heinzel untersucht in „Von der Volkstumswissenschaft zum Konstanzer Arbeitskreis. Theodor Mayer und die interdisziplinäre deutsche Gemeinschaftsforschung“ (S. 43-59) einen aufschlussreichen Aspekt aus der ereignisreichen Laufbahn des Mediävisten Mayer und zeigt auf, wie stark der von diesem 1951 begründete „Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte“ auf sein Wirken während der 1920er- bis 1930er-Jahre, also noch vor seiner Leitungsfunktion innerhalb des „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften“, zurückgriff. Allgemein resümiert Heinzel, dass man bei der Historisierung damaliger Forschungsergebnisse „nicht darum herumkommt, die konkreten Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und den außerwissenschaftlichen Anschauungen und Überzeugungen eines Historikers zu erforschen“. Diesem Postulat wird Thomas Krzenck mit „Wilhelm Weizsäcker – Ein Gelehrter zwischen Schuld und Verstrickung“ (S. 97-112) nicht gerecht. Weder gelingt Krzenck eine schlüssige Positionierung Weizsäckers als Wissenschaftler noch vermag er diesen in seiner Partizipation am NS-Regime einzuordnen und dabei „Schuld und Verstrickung“ zu problematisieren. Das überrascht insofern nicht, als der Autor nicht konsequent auf Archivmaterial zurückgegriffen hat und weit hinter den nur etwas älteren Arbeiten von Joachim Bahlcke und Karel Hruza verbleibt. Fragwürdig wird Krzencks Vorgehen allerdings dann, wenn er mit handwerklich unsauberem Zitieren Kollegen unberechtigte Meinungen zuweisen will (S. 98, 111f.). Jiří Němec betritt Neuland mit „Eduard Winter und sein Prager Kreis“ (S. 113-125) und zeigt den Einfluss des selbst noch verhältnismäßig jungen Winter auf Gruppierungen der deutschen katholischen Jugend (so der „Staffelsteiner“) in den 1930er-Jahren in der ČSR. Winter war etwa mit Rudolf Schreiber, Eugen Lemberg, Josef Hemmerle oder Paulus Sladek gut bekannt. Die Pläne eines friedlichen deutschnationalen Wirkens im katholischen Sinn fanden 1938 ihr abruptes Ende. Nina Lohmann widmet sich in „’Heimat und Volk’. Der Historiker Wilhelm Wostry zwischen deutschböhmischer und sudetendeutscher Geschichtsschreibung“ (S. 128-149) vor allem der wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit und der Positionierung Wostrys an der Prager Deutschen Universität und im von ihm jahrelang geleiteten Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen. Diskussionswürdig ist Lohmanns Feststellung, dass sich nach 1939 „der stets loyale Staatsbeamte Wostry […] willig instrumentalisieren“ ließ und als „’williger Helfer’ des NS-Regimes bezeichnet“ werden kann. Mirek Němec porträtiert in „Emil Lehmann und Anton Altrichter – Zwei deutsche Erzieher aus der Tschechoslowakei“ (S. 152-166) zwei bisher kaum erforschte Personen. Der Germanist, Gymnasiallehrer, Heimatforscher und „Volksbildner“ Lehmann gehörte seit 1918 der DNSAP an, arbeitete mit Erich Gierach in Reichenberg in der „Anstalt für sudetendeutsche Heimatforschung“, wirkte aktiv für deutsche Volksbildung und im „Volkstumskampf“. Er floh 1936 als fanatischer Nationalsozialist aus der ČSR, um in Dresden zu arbeiten. Altrichter, Heimatforscher und Historiker, lehrte jahrelang an Gymnasien in Mähren und war zuvorderst als Pädagoge tätig. Als Historiker betonte (bzw. erfand) er ein „Mährertum“, in das er die tschechisch- und die deutschsprachige Bevölkerung integrierte, schloss sich aber auch der nationalsozialistischen Ideologie an. Andreas Wiedemann untersucht in „Karl Valentin Müller – Ein Rassenhygieniker im Dienste der Volkstumspolitik“ (S. 167-182) den mittlerweile bekanntesten sudetendeutschen „Sozialanthropologen“, der seine „Forschungen“ bewusst als politikberatend verstand und diese zuletzt vor allem in der Reinhard-Heydrich-Stiftung erarbeiten wollte. Dass die Dimension seiner Arbeiten und Planungen in der BRD der Nachkriegszeit nicht thematisiert wurde, überrascht indes wenig. Stefan Albrecht porträtiert in „Helmut Preidel – Zwischen deutscher und tschechischer Archäologie“ (S. 201-217) einen nicht leicht zu verortenden sudetendeutschen Prähistoriker, der hauptberuflich als Gymnasiallehrer arbeitete, politisch eher liberal eingestellt war und gute Kontakte zu tschechischen Kollegen unterhielt. 1939 von den Deutschen zwangspensioniert, kooperierte er dennoch eng mit Fritz Valjavec zusammen und konnte weiterhin publizieren. In der Nachkriegszeit war er Mitglied sudetendeutscher Organisationen in der BRD und genoss und genießt auch in Tschechien Anerkennung.
Ein Thema der Disziplinengeschichte behandelt Miroslav Kunštát mit „’Sudetendeutsche’ Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der ehemaligen Deutschen Universität in Prag“ (S. 61-70) und bietet Material zum Wirken August Naegles, Eduard Winters, Augustin Kurt Hubers und anderer Theologen. Martin Zückert verfolgt in „Die Volkskunde als Nachbardisziplin der ‚sudetendeutschen’ Geschichtsschreibung. Gegenseitige Beeinflussung und parallele Forschungsinteressen“ (S. 183-199) Aspekte der Disziplin wie das Verhältnis zur „Volksgeschichte“ und liefert zugleich einen Beitrag zu den Biografien der späteren Kommissionsmitglieder Josef Hanika und Bruno Schier.
Ein kleines Lexikon von erheblichem Wert bilden die „Biogramme der Mitglieder der Historischen Kommission der Sudetenländer im Gründungsjahr 1954“ (S. 219-276), die von K. Erik Franzen und Helena Peřinová erarbeitet wurden und für manche Person die primäre Informationsbasis darstellen. Zu erwähnen sind zuletzt die hervorragenden Register (Personen, Orte, Institutionen) der Buches.
Was bietet das Buch? Bis auf eine Ausnahme überzeugende wissenschafts-, institutionen- und biografiegeschichtliche Beiträge, die einige wesentliche Bereiche der Vorgeschichte der Kommission analysieren. Eine Fortführung der Arbeiten ist sehr wünschenswert, denn der eingeschlagene Weg, Institutionen, Disziplinen und Protagonisten einer bestimmten wissenschaftlichen Produktion nebeneinander und auch überschneidend zu untersuchen, führt letztlich zu einem umfassenden Ergebnis.2
Anmerkungen:
1 „Der Verein steht in der Tradition der früheren Deutschen Akademie der Wissenschaften in Prag, namentlich ihrer Historischen Kommission, der Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung in Reichenberg und ihrer Kommission für Geschichte, sowie der deutschen Geschichtsvereine von Böhmen und Mähren-Schlesien.“
2 Hinzuweisen ist auch auf die Sammelbände: Lemberg,Hans (Hrsg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 86, München 2003); Brenner, Christiane; Franzen, K. Erik; Haslinger, Peter; Luft, Robert (Hrsg.), Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen – Institutionen – Diskurse (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 28, München 2006).