Titel
Bürgerlichkeit und Religion. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der evangelischen Pfarrer in Baden 1860-1914


Autor(en)
Kuhlemann, Frank-Michael
Reihe
Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 20
Erschienen
Göttingen 2001: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
555 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ellen Ueberschär, Universität Marburg

Frank-Michael Kuhlemanns Habilitation steht im größeren Kontext der sozialgeschichtlichen Wiederentdeckung des Religiösen für eine Rekonstruktion historischer Prozesse in der Neuzeit. Sie entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums“ an der Uni Bielefeld. Kuhlemann tritt an, die bis Ende der 1970er Jahre historiographisch geradezu omnipräsente These vom Versagen des Protestantismus vor den Herausforderungen der Moderne gründlich zu revidieren. Die einleitende Frage, ob es „einen breiteren Traditionsstrang protestantischer Mentalitäten“ gab, der das 1951 gefällte Urteil Fritz Fischers vom „Fehlweg“ des deutschen – gegenüber Westeuropa auf einer „niederen Wertstufe“ existierenden – Protestantismus, relativieren könne (19), ist nach der Lektüre eindeutig mit ‚Ja’ zu beantworten und in ihrer vorsichtigen Formulierung als Understatement Kuhlemanns zu werten.

In den letzten Jahren hob die Erforschung des Kulturprotestantismus und nicht zuletzt die kühne These vom 19. Jahrhundert als dem „zweiten konfessionellen Zeitalter“ 1 den Protestantismus langsam vom Negativkonto gesellschaftlicher Modernisierung Deutschlands ab. Hingegen wurden die Pfarrer im Rahmen der Bürgertumsforschung ebendort verortet. Vorgängige Untersuchungen, wie die von Oliver Janz 2 hatten die Berufsgruppe der Pfarrer aus der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts exkommuniziert und damit die These von der obrigkeitlichen, sich der Moderne verschließenden Kirche verstärkt. Grundprobleme dieser neueren Untersuchungen bildeten aber die geringe regionale Differenzierung und die Konzentration auf kulturprotestantische „Galionsfiguren“ (19). Beidem hilft Kuhlemann ab – erstens durch eine reflektierte regionale Auswahl, die auf Baden fällt, und zweitens durch die Erhebung einer äußerst dichten Datenbasis, mit deren Hilfe eine auf mehrere Fragerichtungen hin auszuwertende Kollektivbiographie entstanden ist.

Aber nicht nur durch die Dichte der Datenbasis überzeugt die Untersuchung, sondern vor allem durch die synthetisierende Perspektive einer Mentalitätsgeschichte, die sozial-, organisations-, ideen- und kirchengeschichtliche Aspekte gleichermaßen zu einem schlüssigen Gesamtbild integrieren kann. Der von Kuhlemann präferierte und weiterentwickelte Mentalitätsbegriff umfaßt die „fest verankerten Grundüberzeugungen, die die Menschen gleich einer ‘Haut’ umschließen“ (38). Für den spezifischen Untersuchungsgegenstand empfiehlt sich der Begriff, weil er die Tiefendimension religiöser Problemlagen angemessen erfassen kann, weil er für die handelnden Individuen im Spannungsfeld von „Erfahrungsraum“ und Erwartungshorizont“ (38) Koordinaten absteckt, weil er auf die Lebenswelt abhebt, die sich in Form sozialkultureller Subsysteme darstellt, weil er kollektive geistige Strukturen und Verhaltensweisen erfassen kann.

Darüber hinaus gelingt mit dem Mentalitätsbegriff die inhaltliche Integration der sonst allenfalls in Theologenkreisen interessierenden kirchenpolitischen und theologischen Debatten, die Kuhlemann als ‚Mentalitätsthemen’, d.h. als zur Lebenswelt gehörende Elemente des bewußten Denkens einfügt. Diese Themen lassen sich unter der Frage nach der Kulturbedeutung des Protestantismus für die Gesellschaft bündeln. Kuhlemann schält einen ‚mentalen Kern’ heraus, an den sich Themen peripher anlagern, sich wechselseitig durchdringen oder auch konträr erscheinen. Ein Vorzug des Modells besteht darin, daß die material vertretenen Positionen zu einzelnen Mentalitätsthemen variabel sein können.

Das soziale, das religiös-kulturelle und das politische Selbstverständnis sind die drei Ebenen, auf denen die Untersuchung ihrer prinzipiellen These folgt, daß nicht ‚Entbürgerlichung’ und ‚Klerikalisierung’, sondern ‚Bürgerlichkeit’ und ‚Verbürgerlichung’ die zutreffenden Interpretamente für eine Mentalitätsgeschichte der Pfarrer im Kaiserreich sind. Das läßt nicht nur die Pfarrer, sondern den gesamten Protestantismus im Hinblick auf seine Modernitätsadäquanz in einem neuen Licht erscheinen.

Die Integrationskraft der Mentalitätsgeschichte offenbart sich in der Zuordnung von Mentalitätsthemen zu den einzelnen Mentalitätsebenen. Insbesondere im Abschnitt zur religiös-kulturellen Mentalität reihen sich die Themen wie Perlen auf eine kulturprotestantische Schnur des Bürgertums. 3 Nur weniges kann hier ausgewählt werden. Zuvor muß erwähnt sein, daß Baden insofern ein besonderes Beispiel bildet, als es bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Staat, Gesellschaft und Religion einen Liberalismus ausprägte, der es deutlich vom preußisch beherrschten Norden Deutschlands unterschied.

Sozialmentalität:
Am Beispiel der ‚Pastoraltheologien’, die eine Art Berufstheorie entfalteten und Leitbildentwürfe diskutierten, weist Kuhlemann nach, daß sie sich bis in Details hinein am bürgerlichen Ideal „einer individuellen und subjektiven religiösen Bildung“ orientierten (239). Dem Geistlichen kam keine Würde qua Amt zu, sondern allein aufgrund seiner wissenschaftlichen, sittlichen und religiösen Selbstbildung. In die Höhe geschraubt wurde der pastorale Bildungsanspruch zusätzlich durch die Konkurrenz zu den Lehrern – in sozialer und kultureller Hinsicht sollten sich die Geistlichen, insbesondere in ländlichen Gegenden, von den Schulmeistern abheben. Pastorale Statussicherung fand ihren Maßstab also im Vergleich mit anderen bildungsbürgerlichen Gruppen.

Religiös-kulturelle Mentalität:
Ein Konstituens vornehmlich des liberalen Protestantismus bestand in einem latent gepflegten Antikatholizismus, der sich 1859 lautstark im Protest gegen das Konkordat gerierte, während sich die konservativen Protestanten von Zeit zu Zeit auf politisch-praktische Bündnisse mit den Katholiken einließen, wenn es um den Erhalt kirchlichen Einflusses beispielsweise in der Schule ging. Die Liberalen wiederum stilisierten die Reformation zum Grunddatum der Moderne und vertraten eine „evangelisch aufgeladene Kulturträgertheorie“ (306), die ihr Janusgesicht darin zeigte, daß sie einerseits Werte der bürgerlichen Kultur wie Gewissensfreiheit, religiöse Subjektivität und Bildung enthielt, andererseits einem intoleranten protestantischen Überlegenheitsgestus und Kulturhegemonialismus zuneigte.

Im harten Streit um die moderne Theologie sowie das theologische Denken und Verhalten taten sich Gräben zwischen Konservativen und Liberalen auf. Jedoch sieht Kuhlemann keine „unüberwindlichen ‚Ekelschranken’“ aufgerichtet, die den beiden Strömungen andernorts bescheinigt werden (348 f). Das liegt einerseits in den besonderen badischen Verhältnissen begründet, andererseits aber vor allem in der Perspektive. Zwar akzentuiert auch Kuhlemann die Differenzen, in dem er die historiographische Dichotomie zwischen Liberalen und Konservativen in Baden mit Hilfe der Konstruktion zweier Partialmentalitäten auffängt. Die Liberalen befürworteten eine Historisierung des theologischen Denkens, und vertraten die Überzeugung, daß religiöser und damit weltlicher Kulturfortschritt durch Bildung und wissenschaftliche Forschung zu erzielen sei. Die Konservativen hielten demgegenüber an der normativen Orientierung der tradierten Glaubensgewißheiten fest, die wissenschaftliche Erforschung nur destruieren könnte. Aber: die Konservativen verschlossen sich der Modernisierung ihres theologischen und sozialen Denkens nicht vollständig, weswegen Kuhlemann ihnen ein „Konzept der moderaten Modernisierung“ zuschreibt (365). Gleichzeitig zeigt Kuhlemann auf, daß sich beide Partialmentalitäten um einen mentalen Kern herumgruppierten, den er in der fundamentalen Überzeugung von der Kulturbedeutung des Protestantismus verortet, die beide Seiten mehr oder weniger unausgesprochen teilten. Daß allerdings, wie Kuhlemann in diesem Zusammenhang behauptet, die Beschäftigung mit professionsspezifischen, nämlich theologischen Themen bereits für die Existenz eines gemeinsamen mentalen Kerns von Konservativen und Liberalen spricht, scheint etwas kühn und ist nur durch weitere stützende Argumente zu verifizieren (366).

Politische Mentalität:
Interessant wird die Theorie von Kern und Partialmentalität im Abschnitt über die soziale und politische Integration der Frauen in die Kirche und in das kirchennahe protestantische Milieu. In Baden nicht anders als in Preußen fanden Frauen ihre Wirkungsfelder zunächst im sozialen Protestantismus, bevor erst im neuen, 20. Jahrhundert ihre Integration in kirchliche Partizipationsstrukturen (Stimmrecht) überhaupt beantragt und besprochen wurde. Einig waren sich liberale und konservative Seite in der Ablehnung der bürgerlichen Frauenbewegung und „radikaler“ Emanzipationsforderungen. Unterschiedlich argumentierten sie in theologischer und verfassungsrechtlicher Sicht: Liberale tendierten zur Bejahung des kirchlichen Frauenstimmrechtes, weil das ihrem evolutionären Geschichts- und Religionsverständnis nahe kam, während die Konservativen in offenbarungspositivistischer Manier auf einer neutestamentlich gestützten „sozialen Vormachtsstellung des Mannes“ beharrten (406).

Kuhlemanns Untersuchung ist ein wesentlicher Beitrag zur Revision einer Forschungsmeinung, die das Urteil über den kaiserzeitlichen Protestantismus fast ein halbes Jahrhundert lang beherrschte und dementsprechende Einseitigkeiten in der Erforschung der Moderne generierte. Bürgerlichkeit und Religion müssen kein Gegensatzpaar sein, sondern können ein Pendant bilden. Auf dieser Basis lassen sich weitere Fragen erforschen. Genannt seien zwei: die nach der Vorgeschichte des Nationalsozialismus und die nach der Reichweite der Untersuchungsergebnisse.

Kuhlemann weist es zu Recht ab, die Beziehungen von Religion und Politik im Kaiserreich als Vorstufe zum NS zu interpretieren. Wenn aber das „Abrupte“, wie der kürzlich verstorbene kirchliche Zeithistoriker Kurt Nowak konstatierte, eine unwahrscheinliche Kategorie des Historischen ist 4, wird die Frage virulent, was die mentalen Tiefenströme des ausgeprägt liberalen Badens zum Halten brachte, um den illiberalen Gesellschaftskonzepten des NS bereitwillig die sozialen, politischen und kirchlichen Tore zu öffnen.

In der Schwebe bleibt, ob die Untersuchungsergebnisse auf badischer Datenbasis auf Preußen zu übertragen sind. Mit seiner langjährigen liberalen Regierung blieb das süddeutsche Land in kirchen- und theologiepolitischer Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. An einigen Stellen, wie z. B. bei den Streitfällen um das Bekenntnis, markiert Kuhlemann deutliche Unterschiede, andererseits legt er mehr oder weniger indirekt nahe, daß die Grundthese von der Verbürgerlichung der Kirche und ihres Personals auch für Preußen gilt, denn trotz illiberaler Kirchen- und Universitätspolitik führten preußische Pfarrer den Vorsitz in konfessionellen Vereinen, tendierten zur Hochschätzung von Bildung und Wissenschaft, beteiligten sich an Selbstverständigungsdebatten und waren von der Kulturbedeutung der Religion in ihrer protestantischen Erscheinungsform fest überzeugt. Es dürfte jedoch ein forschungslogistisches Problem darstellen, eine annähernde Datensammlung für das gesamte preußische Territorium zu erstellen. So bleibt es bei der vorläufigen, aber gut belegten Erkenntnis: badische Pfarrer waren Bürger ganz normaler Art und viele preußische wahrscheinlich auch.

Anmerkungen
1 Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert: Ein zweites konfessionelles Zeitalter? In: Geschichte und Gesellschaft 26, 2000, 38-75.
2 Oliver Janz, Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850-1914, Berlin 1994.
3 Gerade hier, wo sich die Mentalität in ihrer Komplexität plastisch zeigt, schränkt Kuhlemann die analytische Kraft seines Modells ein, wenn er anmerkt, daß sich politische und sozial-kulturelle Mentalität nicht sauber trennen lassen. Vgl. Fn 202, 307.
4 Kurt Nowak, Staat ohne Kirche? Überlegungen zur Entkirchlichung der evangelischen Bevölkerung im Staatsgebiet der DDR, in: Gert Kaiser/Ewald Frie (Hgg.), Christen, Staat und Gesellschaft in der DDR, Frankfurt/M 1996, 23-44, hier 30.

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