F. Grunert u. a. (Hrsg.): Historia literaria

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Titel
Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert


Herausgeber
Grunert, Frank; Vollhardt, Friedrich
Erschienen
Berlin 2007: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
XI, 278 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marian Füssel, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Während sie im frühen 18. Jahrhundert im Ruf einer regelrechten Mode-Wissenschaft stand, fristete die sogenannte Historia literaria in der modernen Wissenschaftshistoriographie lange Zeit eher eine Art Schattendasein. Erst seit einigen Jahren wird im Zuge einer neuen, kulturwissenschaftlich informierten Beschäftigung mit der Geschichte vormoderner gelehrter Wissensordnungen den dickleibigen Bänden aus dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, die mit keinem geringeren Anspruch antraten, als einen Leitfaden zur Erschließung des gesamten gelehrten Wissens der Menschheit zu erstellen, wieder anhaltendes Interesse gewidmet. Ein wesentliches Verdienst bei dieser Wiederentdeckung kam in den letzten Jahren zwei von Friedrich Vollhardt geleiteten SFB-Projekten in Gießen (SFB 434) und München (SFB 573) zu, die sich systematisch der Aufarbeitung des Historia literaria-Diskurses gewidmet haben und aus deren Arbeit auch der vorliegende Band entstanden ist.1 In drei Sektionen und einem Epilog widmen sich insgesamt zwölf Beiträge „Konzepten und Programmen“, „Praktiken und Ausführungen“ sowie „Alternativen und sachlichen Nachbarschaften“ dieser spezifischen Form frühmoderner Wissensgeschichtsschreibung.

Mit der Genese und Vorgeschichte der Historia literaria befasst sich Anette Syndikus, die zeigen kann, dass anders, als in einer verbreiteten Genealogie immer wieder konstatiert, weniger Daniel Georg Morhofs Polyhistor (1688) der Ausgangspunkt der Gelehrtengeschichte war als vielmehr bereits Francis Bacons De dignitate et augmentis scientiarum (1605/1623). Von Bacon ausgehend, entwickelten eine ganze Reihe von Gelehrten im 17. Jahrhundert Anfänge zu einer Systematik der Litterärgeschichte, die offenbar vor allem durch die Arbeiten von Gabriel Naudé vorangebracht wurden, welcher schließlich auch eine Reihe von Autoren im Reich, maßgeblich in Helmstedt, beeinflusste.

Mit den pragmatischen Dimensionen der Gelehrtengeschichte beschäftigt sich Merio Scattola, der einerseits darauf abhebt, wie sich eine primär topologisch organisierte Wissensordnung um die Kategorie der Zeit erweiterte und andererseits die Praxis einer „beschreibenden“ und „erzählenden“ Wissenschaft rekonstruiert, der ‚Erklären’ wie ‚Verstehen’ noch „grundsätzlich fremd“ waren (S. 63). Der pragmatische, an lehrreichen Exempla orientierte Stil der Historia literaria ist in gewisser Weise auch Gegenstand von Frank Grunerts Analyse der moralischen Ansprüche dieser gelehrten ‚Geschichten’. Grunert zeigt, wie das Ideal der im moralischen Sinne „guten Bücher“ zu einem formalen Auswahlkriterium der Komplexitätsbewältigung wurde, das obgleich oder vielleicht gerade weil es dem jeweiligen moralischen Gehalt gegenüber „im Prinzip indifferent“ war (S. 88), zu einer besonders wirkmächtigen Motivation werden konnte. Die Sektion über Konzepte und Programme beschließt ein Beitrag Helmut Zedelmaiers über die Gedanken von Leibniz und Wolff zur Historia literaria, die beide – ähnlich wie bereits Bacon – eine fortschrittsorientierte Wissenschaftskonzeption vertraten, die über die zeitgenössischen Praktiken „gelehrter Wissensverwaltung“ hinausweist (S. 99).

Mit Herbert Jaumanns wütenden Überlegungen zu „Formen gelehrter Sammlungen, diesseits und jenseits von Periodizität“ ändert sich der Ton des Bandes merklich. Jaumann stellt engagiert einen Problemkatalog in sieben Punkten vor, der endlich einer konsequenten Historisierung der Wissenssammlungen jenseits überkommener „Meinungsklischees“ zuarbeiten soll. Martin Gierl macht hingegen die Polemik zum Thema und beschreibt diese im Zusammenhang mit Verfahren institutionalisierter Kompilation, was schließlich in der Pointe mündet, dass die Historia literaria sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts gewissermaßen selbst aufhob, da ihre Praktiken der gelehrten Ordnung und Bestandsaufnahme inzwischen mehr und mehr zur „Selbstverständlichkeit“ geworden waren (S. 126). Mit Christoph August Heumanns Conspectus reipublicae literariae (1718) widmet sich Sicco Lehmann-Brauns einem der einflussreichsten Werke der Gelehrtengeschichte. Gewürdigt wird dabei vor allem Heumanns Ausschluss vormosaischer Schriftlichkeit sowie seine Festlegung des Anfangs der Wissenschaften bei den Griechen, während ein Vergleich der unterschiedlichen Auflagen des Werkes bis 1797 den Siegeszug chronologischer Ordnungsprinzipien ausweist.

Ein wirkliches Desiderat in der Erforschung der allgemeinen Litterärgeschichte bedient ferner Hanspeter Marti mit seiner Untersuchung der Aufnahme der Historia literaria in den katholischen Territorien des alten Reiches, galt diese doch landläufig als ein rein protestantisches Phänomen. Mit Franz Xaver Mannhart, Michael Denis und Paulin Erdt stellt Marti drei recht unterschiedliche Vertreter einer katholischen Litterärgeschichte vor, die komplexe wissenskulturelle Rezeptionsvorgänge auch bei landläufig als konservativ geltenden Ordensgeistlichen eindrücklich belegen.

Als „Alternative“ ist die zu Beginn der dritten Sektion von Dirk Werle beschriebene utopische Universalbibliothek in Johann Valentin Andreaes Christianopolis tatsächlich gut beschrieben. Die Bibliothek von Christianopolis begegnet dem für den Historia literaria-Diskurs zentralen Problem der unbeherrschbaren Komplexität der gelehrten Wissensproduktion, wie Werle anschaulich ausführt, mit einer konsequenten Fokussierung auf die Bibel als Buch der Bücher sowie die Lektüre im Buch der Natur. Allein der nachgeschaltete Rekurs auf Shakespeares The Tempest wirkt ein wenig aufgesetzt. Ralph Häfner widmet sich der ausführlichen Beschreibung von Johann Albert Fabricius Edition der Schriften des französischen Protestanten Paul Colomiès, die er als typischen Ausdruck einer gelehrten Geschmacks- und Konversationskultur der Norddeutschen Frühaufklärung interpretiert. Einer Litterärgeschichte in Romanform nähert sich schließlich Guido Naschert in Gestalt von Jean Jacques Barthélemys Voyage du jeune Anacharsis en Grèce (1788). Barthélemys „Reise“ als Bestseller der Gräkophilie des späten 18. Jahrhunderts wird vor allem hinsichtlich ihrer narrativen Struktur, ihrer Funktion als gelehrtes Kompendium und ihrer deutschsprachigen Rezeptionsgeschichte gewürdigt.

Insgesamt fällt auf, dass verschiedene Beiträge eine gewisse Unzufriedenheit mit der lange Zeit mangelnden Beachtung der Gelehrtengeschichte in der jeweiligen Zunft artikulieren. Ein gesteigertes Interesse dem Gegenstand gegenüber erfordert jedoch nicht allein gelehrte Beiträge, die die Gelehrsamkeit der Zeitgenossen gleichsam abbilden, sondern einen reflexiven Umgang, der beispielsweise auch eine Einordnung in die kulturwissenschaftlich orientierten Fragestellungen der neueren Wissensgeschichte beinhaltet. Die Attraktivität der Geschichte von Bibliographien erschließt sich eben nicht jedem unmittelbar, sondern bedarf wie die meisten historischen Gegenstände einer einordnenden Erklärung. Eine solche metahistoriographische Einordnung der neuen Aufmerksamkeit für die Gelehrtengeschichte leistet Ulrich Johannes Schneider am Schluss des Bandes mit seinem Epilog zur „Geschichte der Gelehrsamkeit“. Schneider gelingt es, mit beeindruckender Prägnanz nicht nur Möglichkeiten und Grenzen ihrer Erforschung aufzuzeigen, sondern auch die möglichen unbewussten Motivationen vieler ihrer Erforscher offen zu legen. Gerade der vorliegende Band dürfte jedoch in jedem Fall dazu beitragen, der Historia literaria wieder eine angemessene Aufmerksamkeit als grundlegendem Bestandteil vormoderner Wissensordnungen zu sichern. Die Lektüre des Bandes macht insofern bereits gespannt auf die Folgepublikation zum Thema „Erschließen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit“.2

Anmerkungen:
1 Dass der vorliegende Band die erste Monographie zu dieser Gattung sei, wie in der Einleitung [S. X] konstatiert, stimmt allerdings nicht ganz, vgl. etwa Pascale Hummel, Moeurs érudites. Étude sur la micrologie littéraire (Allemagne, XVI-XVIII siècles), Genève 2002, siehe dazu Marian Füssel, Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft. Neue Forschungen zur Kultur des Wissens in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 34/2 (2007), S. 273-289, hier S. 283.
2 Frank Grunert / Anette Syndikus (Hrsg.), Erschließen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen, Berlin 2009 (im Druck).

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