K. Kollmeier: Ordnung und Ausgrenzung

Cover
Titel
Ordnung und Ausgrenzung. Die Disziplinarpolitik der Hitler-Jugend


Autor(en)
Kollmeier, Kathrin
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 180
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rolf Schörken, Düsseldorf

Bereits das Motto des Buches hat es in sich. Es lautet: "Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über" und stammt von Robert Musil. Lakonischer und treffender könnte ein Resümee des 368 Seiten starken Buches kaum sein. Das mit größter Sachlichkeit geschriebene Werk, das ein höchst umfangreiches Material verarbeitet, untersucht ein Thema, das auf den ersten Blick nur eine von vielen Spezialuntersuchungen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zu sein scheint. Es ist aber mehr. Es erlaubt dem Leser einen Blick auf etwas, was dank des Ausgangs des Zweiten Weltkriegs nie volle Wirklichkeit wurde, aber schon auf dem besten Weg dazu war: den Blick auf ein "vollendetes" System von Jugenderfassung und -kontrolle. Wir kennen diese Seite des Systems zur Genüge aus dem Umgang des Nationalsozialismus mit seinen Feinden (oder besser: mit denjenigen, die jeweils als Feind definiert wurden).

In diesem Buch ist nicht von den Feinden die Rede, sondern im Gegenteil von dem, was den Nationalsozialisten in ihrer Propaganda der heiligste Wert des Deutschen Volkes überhaupt war: der eigenen Jugend. Wie reglementiert und eingeschränkt deren Leben nach dem "Endsieg" ausgesehen hätte, ist jetzt konkret vorstellbar. Die Grundsätze und der organisatorische Rahmen der nationalsozialistischen Jugenderziehung waren früh ausgeprägt worden. Von der HJ-Führung wurden sie in engster Zusammenarbeit mit den Justizbehörden und der SS, unsichtbar für die Öffentlichkeit, bis ins Detail ausgearbeitet und erprobt. Die NS-Führung war sich vollkommen der Tatsache bewusst, dass diejenigen, die jetzt noch Kinder oder Jugendliche waren, in nicht allzu ferner Zeit das Großdeutsche Reich verkörpern würden.

Kathrin Kollmeier nennt ihre Untersuchung eine "Ordnungsgeschichte". Ordnung, zentraler Begriff für konservative Staatsgestaltung, wurde im Nationalsozialismus zu einer Ordnung der Ungleichheit umdefiniert, die aber nicht einfach nur atavistisch war, sondern kulturell in der Moderne wurzelte und das dynamische Potential des 20. Jahrhunderts freisetzte. Kollmeier hält mit Norbert Frei die NS-Herrschaft für einen Versuch, "das Projekt der Moderne in der spezifischen Variante einer rassischen Ordnung zu vollenden" (S. 12). Es geht ihr nicht darum, neue ideologiegeschichtliche Erkenntnisse zu gewinnen, sondern darum, im Einzelnen konkret nachzuzeichnen, wie und mit welchen Maßnahmen sich eine Ordnung der Ungleichheit selbst konstituierte.

Der Nationalsozialismus konnte Ordnung nur denken als Disziplin. Disziplin wird in größeren Verbänden von Menschen durch Strafen aufrecht erhalten. Das Ehren- und Disziplinarstrafrecht wurde 1937 von Heinrich Ferdinand Curschmann als "Summe aller Normen" verstanden, "die zur Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung innerhalb aller nur denkbaren Personengesamtheiten getroffen werden."1 Es kann nicht Wunder nehmen, dass eine politische Partei, die ihren Ursprung bei den enttäuschten Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs hatte, dem Disziplinierungsgedanken einen hohen Rang zumaß. Der Gedanke mußte aber auch für die vielen, denen die Weimarer Republik und die Parteienvielzahl ein Dorn im Auge waren, von großer Anziehungskraft sein. Der Begriff der Disziplin gehört in die Nachbarschaft anderer magischer Konsensworte der Rechten wie „Gemeinschaft“ oder „Volksgemeinschaft“, „Ehre“ oder „Kameradschaft“, gegen die sich zu vergehen geradezu den sozialen Tod des Individuums durch Ausschließung bedeuten konnte. Die wichtigste Disziplinarstrafe nationalsozialistischer Gemeinschaften war denn auch eine solche Ausschließung.

Die Hitler-Jugend hatte die Aufgabe, die Jugend zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu erziehen. Die NS-Erziehung löste das Erziehungsanrecht, das dem Kind in liberalen Systemen zugebilligt wird, durch den gegenläufigen Gedanken ab, dass das Volk ein Anrecht auf die Erziehung der Jugend habe. Auch das Erziehungsrecht der Eltern wurde in diesem Sinne umformuliert. Es wurde als eine völkische Pflicht verstanden, welche die Eltern dem Volk zu entrichten hätten. Das Wohl des Kindes hatte sich der Volksgemeinschaft unterzuordnen.

Die HJ wurde zum bevorzugten Experimentierfeld für den Aufbau einer neuen Volksgemeinschaft. Innerhalb kurzer Zeit wurde in der HJ ein Disziplinarsystem nach bürokratisch-militärischem Muster entwickelt. Seit 1935 verfügte die HJ über eine eigene Judikative, die im Erfahrungsaustausch mit der Parteigerichtsbarkeit und mit Kontakten zu Gestapo und zum SD ausgebaut wurde. Der Dienstbetrieb der HJ wurde einheitlich und strikt reglementiert. Das führte zu einem deutlichen Schwinden der Attraktivität, wurde aber wettgemacht durch "große Erlebnisse", z.B. der Teilnahme an emotional wirksamen Massenveranstaltungen und durch Schaffung zahlreicher Führerstellungen. Im Kern des "Dienstes" standen der Gehorsam gegenüber den Führern, die korrekte Uniform und das Exerzieren. Wichtigstes Ziel war die Gewöhnung der Jugendlichen an die Organisationsdisziplin. "Es darf nicht vorkommen, daß einer [...] planlos das treibt, was ihm gerade einfällt."2 Zum äußeren Erscheinungsbild gehörte auch der Kurzhaarschnitt für Jungen, auf den unverhältnismäßig großer Wert gelegt wurde.

Das zweite Stichwort des Buchtitels lautet "Ausgrenzung". Die Ausgrenzungen des Nationalsozialismus basierten auf seinem Rassismus: Juden wurden als erste und am entschiedensten ausgegrenzt. Aber die Ausgrenzungen erwiesen sich auch als ein probates Mittel zur Disziplinierung der Volksgemeinschaft. Eine wichtige Strafe war der "Ausschluß" aus der HJ. Ein solcher Ausschluß sollte die Bestraften auch durch das weitere Leben begleiten, dafür sorgten die mit bedeutendem personellem Aufwand verwalteten und auf den neuesten Stand gebrachten Warnkarteien der HJ, welche die Verfehlungen der HJ-Jungen und -Mädchen erfaßten. Sie sollten verhindern, dass Personen, die aus der HJ ausgeschlossen worden waren, später in die NSDAP aufgenommen werden konnten. Besonderes Augenmerk galt der Bestrafung homosexueller Jugendlicher. Diese Gruppe stand bei den Ausschließungen männlicher Jugendlicher bei weitem an erster Stelle. Das Delikt wurde pauschal den Bündischen zugerechnet, die anfangs nach 1933 nicht selten in das Jungvolk eingetreten waren in der Hoffnung, noch einen Rest des freien Jugendlebens retten zu können.

Bei den weiblichen Jugendlichen spielte "sittliche Verwahrlosung" die größte Rolle, wobei hinzuzufügen ist, dass die BDM-Mädchen längst nicht so scharf kontrolliert wurden wie die HJ-Jungen. Zum System von Kontrollen und von Strafen gehörten der "Jugendarrest" sowie die Jugend-KZs in Moringen, Uckermark und Litzmannstadt. Von den damals so gefürchteten Wehrertüchtigungslagern ist dagegen bei Kollmeier kaum die Rede. 1935 wurde der Streifendienst als eigenes Kontrollorgan der HJ eingeführt. Der Streifendienst, dem zuverlässige ältere HJ-Führer angehörten, kontrollierte auf seinen Streifengängen vor allem solche Jugendlichen, die locker gekleidet waren, einen langen Haarschnitt hatten, auf Fahrt gingen oder sich abends trafen. Hier witterte man kommunistische oder auch katholische Opposition. Ab 1938 wurde die SS auf den Streifendienst als auf ein mögliches Zukunftsreservoir aufmerksam.

Setzt man den gewaltigen Apparat von bürokratischer Erfassung, Kontrolle und Strafen in ein Verhältnis zu den tatsächlichen Verfehlungen von HJ-Angehörigen, wird man auf ein eklatantes Mißverhältnis aufmerksam. Von 1929 bis 1945 gab es insgesamt 7895 Warnfälle, wie aus dem tabellarischen Anhang des Buches hervorgeht. Das war angesichts einer Mitgliedschaft, die bereit 1933 die Zweimillionengrenze überschritt und im Mai 1939 bei mehr als acht Millionen lag, verschwindend wenig. Es stellt sich die Frage: War die Überwachung nur auf dem Papier so stark, gibt mithin eine Untersuchung, die weitgehend auf der Auswertung amtlicher Akten beruht, nicht doch in starkem Maße das Selbstbild der NS-Behörden mit den entsprechenden Erfolgsmeldungen wieder? Oder war die Angst vor Strafen und Stigmatisierung bei den Jugendlichen so groß, dass Verstöße tatsächlich immer seltener wurden? Merkwürdigerweise kommt nirgendwo in dem Buch der äußerst tiefgreifende Mentalitätswandel der Jugendlichen in den Jahren 1943 bis 1945 zur Sprache, ausgelöst durch die sich abzeichnende totale Niederlage. Gerade bei den Geburtsjahrgängen 1926 bis 1928, den Luftwaffenhelfern, fiel das Prestige der HJ in diesen Jahren auf den Nullpunkt.

Anmerkungen:
1 Curschmann, Heinrich Ferdinand, Soziale Ehrengerichtsbarkeit und ständische Ehrengerichtsbarkeit. Greifswald 1937, S. 27.
2 Pimpf im Dienst, hrsg. v. der Reichsjugendführung, S. 6 (zit. nach Kollmeier, S. 128).

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