Die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus in den Jahrzehnten nach 1945 ist inzwischen ein weites Forschungsfeld, das verschiedene gesellschaftliche, politische, juristische und kulturelle Aspekte umfasst. Aber schon in der direkten Nachkriegszeit fragten Beobachter:innen, etwa Hannah Arendt bei ihrem Besuch in Deutschland 1950, ob und wie sich die deutsche Gesellschaft mit individueller und kollektiver Schuld, Beteiligung und Verantwortung auseinandersetze. Wenn wir heute über die Relevanz der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Gegenwart debattieren, ist es daher immer wieder hilfreich, sich mit den Diskursen der frühen Nachkriegsjahre zu befassen.
Der Literaturwissenschaftler Helmut Peitsch hat eine umfangreiche und inspirierende Studie vorgelegt, mit dem sperrigen Titel „Reisen nach Auschwitz und Anthologien Letzter Briefe, 1945–1975. Eine literarische Beziehungsgeschichte von Antifaschismus in BRD und DDR“. Sie zeigt materialgesättigt, in welcher Weise heute diskutierte Themen mit Bezug auf die NS-Vergangenheit schon in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten zentral waren: die Besonderheit der Verfolgung der europäischen Jüdinnen und Juden im Kontext der Gesamtgeschichte der Massenverbrechen, die Unterstützung des nationalsozialistischen Regimes durch große Teile der deutschen Gesellschaft, die Beteiligung von Angehörigen der Wehrmacht an den Verbrechen und die Isoliertheit derjenigen, die sich zum Widerstand entschlossen.
Zu Beginn seiner Studie untersucht Peitsch die Diskussionen um Anthologien letzter Briefe hingerichteter Widerstandskämpfer:innen in den verschiedenen Teilen Deutschlands, die erst danach zur DDR und zur Bundesrepublik wurden. Schon in den unmittelbaren Nachkriegsjahren gab es durchaus ein Bewusstsein für die Besonderheit der Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden als eines beispiellosen Verbrechens. Dies zeigt sich etwa darin, dass in vielen frühen Anthologien der „Brief einer unbekannten Jüdin“ aus Tarnopol vom April 1941 aufgenommen wurde. Dieser Brief wurde auch später in diversen Sammelbänden veröffentlicht, die sich mit Zeugnissen der Ermordung der jüdischen Bevölkerung auseinandersetzten. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt machten sich Differenzen in der Schwerpunktlegung auf kommunistischen, sozialdemokratischen, bürgerlichen oder auch militärischen Widerstand bemerkbar bzw. das Ignorieren bestimmter Widerstandsgruppen in den jeweiligen Publikationen. Deutlich wird, dass politisch-ideologische Differenzen zwischen Ost und West die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wesentlich prägten.
Die im Titel so disparat anklingenden Untersuchungsgegenstände, „Anthologien Letzter Briefe“ und „Reisen nach Auschwitz“, verbindet Peitsch eng miteinander, indem er nicht auf die Reisen nach Auschwitz an sich abhebt, sondern ihre Verarbeitung in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt. Der wohl erste veröffentlichte Bericht eines Deutschen über eine Reise nach Auschwitz stammt von Hans Mayer – als Marxist und wegen seiner jüdischen Herkunft während der NS-Zeit selber verfolgt – aus dem Jahr 1948. In der ausführlichen Darlegung dieser und weiterer früher Schilderungen von Besuchen im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und besonders in Birkenau zeigt sich die Stärke der Studie. Peitsch hinterfragt anhand einer großen Anzahl von Berichten den in den letzten 40 Jahren entstandenen Wahrnehmungsrahmen der deutschen Massenverbrechen und speziell des Mordes an den europäischen Jüdinnen und Juden. Die frühen Berichte zeigen, dass entgegen der heute selbst in der Forschung dominanten Sicht die historische Bedeutung der Verbrechen nicht erst seit Ende der 1970er-Jahre erfasst wurde, als mit dem Wort „Holocaust“ eine Begrifflichkeit für sie gefunden war. Ebenso deutlich wird, dass der Ort Auschwitz nicht erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in das (west-)deutsche Bewusstsein eingegangen ist, wie eine doch recht bequeme Nachwende-Erzählung suggeriert.
Die Versuche, das Geschehen, das durch Auschwitz seinen begrifflichen und historisch-konkreten Ort gefunden hatte, intellektuell und emotional zu erfassen, sowie das Ringen nach Worten um die Dimensionen dessen, was sich hinter diesem Ortsnamen verbirgt, prägten schon die ersten drei Nachkriegsjahrzehnte. Allerdings, und hier unterscheiden sich die Berichte und Schilderungen von Reisen nach Auschwitz wie die Anthologien letzter Briefe aus der Zeit bis Ende der 1970er-Jahre von der Beschäftigung in den vier Jahrzehnten danach, war der mentale Bezugsrahmen der Reisen sowie der Publikationen eine tiefe antifaschistische Überzeugung. Viele Akteur:innen, die Peitsch vorstellt, verstanden den Nationalsozialismus als ein faschistisches diktatorisches Regime, das in den Dimensionen der Verbrechen, insbesondere denen an Jüdinnen und Juden Europas, über ein gewöhnliches diktatorisches Regime hinausging. Dabei wurde der Faschismusbegriff meist nicht dogmatisch-verengend, sondern durchaus präzise gebraucht.
Durch diese antifaschistische Grundüberzeugung gelang es den Beteiligten auch, andere Verfolgtengruppen und andere Verbrechenskomplexe wahrzunehmen, ohne sie dadurch einander gleichzusetzen. Auschwitz wurde nicht als exterritorialer Ort und reines Symbol für den Holocaust wahrgenommen, wie es heute in der Bezugnahme auf „Auschwitz“ häufig der Fall ist, sondern als realer Ort in Polen, der eng mit der polnischen Geschichte von Verfolgung und Widerstand während der nationalsozialistischen Besetzung verbunden ist. Hier scheint eine differenzierte Wahrnehmung der komplexen historischen Zusammenhänge durch, die man sich in heutigen Debatten häufiger wünschen würde, die nicht selten durch eine aufgeregte Bekenntnishaftigkeit entlang der Begriffe „Einzigartigkeit“ und „Unvergleichbarkeit“ gekennzeichnet sind.
Weitere Sammlungen, die der Band näher betrachtet, sind Anthologien letzter Briefe deutscher Soldaten, die in den 1950er-Jahren publiziert wurden und das wirkmächtige Bild der „sauberen Wehrmacht“ verfestigten, entgegen der in den Briefen selbst zum Teil expliziten Schilderung der Beteiligung an Verbrechen. Dieses Bild wurde gesellschaftlich erst seit den 1990er-Jahren durch die beiden Ausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu den Verbrechen der Wehrmacht grundlegend erschüttert.
Der gesamte Band breitet materialreich die Aspekte aus, die zwischen 1945 und 1975 die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bestimmten und die Debatten bis in die Gegenwart prägen. Gleichzeitig bettet der Verfasser die ersten 30 Jahre der Auseinandersetzung in die ideologische Grundkonstellation des Kalten Krieges ein, häufig bestimmt durch antikommunistischen Gesinnungsverdacht hier und kommunistisch dominierten Mythos des Antifaschismus dort, einhergehend jeweils mit gesellschaftlicher Ächtung kritischer Stimmen, die sich diesen polarisierten Weltbildern entzogen. Dabei zeigt Peitsch, dass sich west- und ostdeutsche Autor:innen in der konkreten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vielfach aufeinander bezogen, was schon der Untertitel des Buches hervorhebt („Eine literarische Beziehungsgeschichte von Antifaschismus in BRD und DDR“).
Die Stärke von Peitschs Analyse liegt darin, dass er durch seine ausführlichen Darlegungen auch in Vergessenheit geratene Akteur:innen und Ereignisse der ersten Nachkriegsjahrzehnte wieder zu Wort kommen lässt und gleichzeitig heutige Gewissheiten der Aufarbeitungsgeschichte in Frage stellt. Dadurch wirft er zugleich einen kritischen Blick auf die vergangenen 40 Jahre. Die Annahme, dass erst durch den Fall der Mauer, das Ende des Kalten Krieges und die Überwindung der Systemkonfrontation viele Themen der NS-Geschichte aufgegriffen worden seien, wird hierdurch fragwürdig – zumal „1989“ eine erinnerungspolitische Aufladung erfahren hat, die es kritisch zu diskutieren gilt. Die unterschiedlichen Phasen der Aufarbeitung waren insgesamt wohl stärker miteinander verbunden, als dass sie durch klare Brüche gekennzeichnet sind.
Anknüpfend an Helmut Peitschs Studie erscheint es lohnend, viele der frühen Akteur:innen, ihre Positionen, die Debatten und vor allem die publizistischen Beiträge näher zu untersuchen, erneut die ersten Nachkriegsjahrzehnte zu betrachten und dabei auch die ideologischen Konfrontationen nachzuzeichnen, die das Bild der nationalsozialistischen Geschichte oft wesentlich mitbestimmten. Gleichzeitig ist darüber nachzudenken, welche überzeitliche Relevanz die aufgeworfenen Themen weiterhin haben können. Hilfreich ist es dabei, den rein deutschen Blick auf die historischen Ereignisse um europäische Perspektiven zu erweitern. Peitsch führt dies immer wieder vor, indem er vor allem polnische, aber auch westeuropäische Stimmen anklingen lässt. Es ist dem Buch zu wünschen, dass es neue interdisziplinäre Forschungsansätze inspirieren wird, sowohl hinsichtlich der Geschichte des Nationalsozialismus als auch der Aufarbeitungsgeschichte nach 1945. Dank des detaillierten Inhaltsverzeichnisses und des Registers kann man den Band auch als Kompendium nutzen und einzelne Autor:innen herausgreifen, über deren Positionen man mehr erfahren möchte. Die Breite der Zusammenstellung und die vielen Querverbindungen, die sich daraus ergeben, haben aber einen eigenen Wert.