„Noch bis vor ein paar Jahren hat man eine Erwähnung von Aktivitäten jüdischer Stadtdeputierter in den Stadtparlamenten der Zweiten Polnischen Republik in den Werken zur Geschichte der Juden Ostmitteleuropas vergeblich gesucht“ (S. 11), so die einleitende Feststellung Hanna Kozińska-Witts, die sich dieser bereits in den 1990er-Jahren durch Jerzy Tomaszewski diagnostizierten „Leerstelle“1 in ihrer umfangreichen Untersuchung annimmt. Sie knüpft an die neuesten Forschungen zur jüdischen Partizipation im Staatsparlament und in den Stadtparlamenten an2, um erstmals vergleichend und synthetisierend das Wirken jüdischer Stadtdeputierter im Polen der Zwischenkriegszeit zu beleuchten. Mit den Selbstverwaltungen rückt sie „die wohl einzige politische Struktur im polnischen Staat, die für Juden frei zugänglich war und in der sie ihre Partizipationsrechte verwirklichen konnten“ (S. 14) in den Mittelpunkt. Die Autorin interessieren insbesondere das Wahlverhalten und die Strategien jüdischer Parteien sowie die bislang wenig beachteten Aktivitäten der jüdischen Stadtdeputierten, die „lokal spezifische Schwerpunkte setzen konnten und unterschiedliche Strategien anwandten“ (S. 24).
Mit agency als theoretischem Zugriff konzipiert Kozińska-Witt die Stadtparlamente einerseits als „Kontaktzonen“ (Mary Pratt) jüdischer und nichtjüdischer Stadtdeputierter, andererseits als Arenen und „Raum für politische Handlungen“ (Dietlind Hüchtker).3 Als Schwerpunkte ihrer Untersuchung nennt sie „Regionalität und Persistenz regionaler Traditionen“, „[die] Demokratisierung der Selbstverwaltung und ihre Auswirkungen auf die Repräsentanz der jüdischen Milieus“ sowie „Auswirkungen des staatlichen Interventionismus und Autoritarismus auf die jüdische Vertretung“ (S. 17–23). Insbesondere die dritte Perspektive betrifft einschneidende Veränderungen: So habe die Warschauer Staatsregierung ab 1933 die städtischen Selbstverwaltungen „verstaatlicht“ (S. 20), indem sie durch die Schaffung einer kommunalen Wahlordnung eine einheitliche Struktur schuf und die lokale Autonomie sukzessive schmälerte. Kozińska-Witts Studie stützt sich auf eine beeindruckende Anzahl von Quellen, die sowohl kommunale Periodika unterschiedlicher politischer Couleurs als auch Archivalien, darunter Dokumente aus den Beständen der Kommunalverwaltung, den Wojewodschaften und Konfessionsgemeinden, umfassen.
Nach einer thematischen Einführung untersucht sie im ersten und seitenstärksten Kapitel die jüdische Partizipation im galizisch geprägten Krakau. Die Autorin zeigt auf, dass hier die jüdischen Stadtdeputierten, die unterschiedlichen Gruppierungen und politischen Parteien angehörten, etwa ein Viertel der Selbstverwaltung ausmachten. Sie kooperierten mit wechselnden nichtjüdischen Partnern und waren laut Kozińska-Witt mit ihren Interventionen, die auf eine Erhöhung der Subventionierung jüdischer Institutionen, die Förderung von jüdischen Wohnvierteln oder die Beseitigung der Diskriminierung auf dem kommunalen Arbeitsmarkt abzielten, durchaus erfolgreich. Der mit der Weltwirtschaftskrise 1929 einsetzende Wirtschaftsnationalismus, der eine Diskriminierung nach ethno-konfessionellen Kriterien begünstigte, habe dieser Tradition christlich-jüdischer Kooperation jedoch ein Ende gesetzt. Ab Mitte der 1930er-Jahre mussten sich die jüdischen Abgeordneten Krakaus vor allem gegen antisemitische Maßnahmen zur Wehr setzen und intervenierten vergeblich im Stadtparlament, in dem die „Judenfrage“ nun polarisierte und wo fortan primär um die Verteilung von Subventionen und Arbeitsplätzen in kommunalen Einrichtungen gestritten wurde.
Im zweiten und kürzesten Kapitel analysiert die Autorin das jüdische Wirken in der Stadt Posen. Im Vergleich zu Krakau und Warschau gab es dort in der Zwischenkriegszeit nur eine kleine jüdische Gemeinde, da viele Posener Juden nach dem Ersten Weltkrieg in den Westen emigriert waren. Auch wenn gleichzeitig Jüdinnen und Juden aus anderen Gebieten Ostpolens in die Stadt zuwanderten, habe die Emigrationswelle bei der verbliebenen Bevölkerung zu einer „Entfremdung“ und zur „inneren Emigration“ geführt. Bereits seit der Demokratisierung der Selbstverwaltung, die den Vertretern der Massenparteien in Polen seit 1918 ein Mitspracherecht in städtischen Angelegenheiten zusicherte, dominierten polnische Nationaldemokraten das Stadtparlament, wohingegen jüdische Stadtdeputierte seit 1925 gar nicht mehr vertreten waren. Nach Kozińska-Witt förderte die Posener Selbstverwaltung aus diesem Grund in der Zwischenkriegszeit kaum noch jüdische Institutionen. Auch sei sie nicht gegen judenfeindliche Übergriffe in der Stadt vorgegangen. Mit seiner Taktik des Schweigens und Ignorierens, so die Autorin, habe das Stadtparlament sogar einen „Antisemitismus ohne Juden“ (S. 258) lanciert.
Im dritten Kapitel fokussiert die Autorin schließlich die polnische Hauptstadt Warschau. Die jüdische Bevölkerung wurde hier in der Zwischenkriegszeit von Repräsentanten unterschiedlicher politischer Anschauungen vertreten. Obgleich die jüdische Wählerschaft überwiegend mit fortschrittlichen Parteien sympathisierte, dominierte das „traditionelle Milieu“. Für Warschau unterscheidet Kozińska-Witt drei Phasen jüdischer Repräsentanz, in der jeweils unterschiedliche Kräfte dominierten: eine demokratische (Orthodoxe / Assimilierte / Liberale / Zionisten), eine autoritäre (orthodoxe und wirtschaftlich-liberale Verbündete der Sanacja) und eine erneute demokratische (Bundisten). Kozińska-Witt konstatiert hier, dass sich die kommunale Vertretung der Warschauer Juden im Gegensatz zur jüdischen Konfessionsgemeinde, die sich „durch die von der Regierung vorgenommenen Ernennungen [der Gemeinderäte, Anm. d. Verf.] weitgehend disziplinieren ließ“, (S. 255) ihre Unabhängigkeit bewahren und als wichtiger Teil der linken Opposition im Stadtparlament wirken konnte. Sie argumentiert weiter, dass jüdische Stadtdeputierte vor 1929 gemeinsam mit christlichen Repräsentanten des Stadtparlaments die Subventionierung jüdischer Institutionen erwirkten.
Die danach einsetzende Periode der Krise und nationalistischen Radikalisierung habe für die jüdischen Institutionen vor allem einschneidende Kürzungen der Sozialausgaben bedeutet und letztlich bewirkt, dass die jüdische Konfessionsgemeinde Warschaus (und anderer Städte) selbst für die Finanzierung jüdischer Sozial- und Bildungseinrichtungen habe aufkommen müssen. Dies widersprach, wie Kozińska-Witt zurecht anmerkt, der in der polnischen Verfassung verankerten bürgerlichen Gleichberechtigung. Die „mangelnde Implementierung der staatsbürgerlichen Rechte der polnischen Juden“ (S. 251) habe letztlich zu einer politischen Radikalisierung der jüdischen Bevölkerung geführt, die sich auch in den Wahlen der Selbstverwaltung Warschaus Ende 1938 widerspiegelte. Die jüdischen Parteien Bund, Zionisten und zionistische Linke erlangten darin ein Fünftel der Sitze und der militante sozialistische Bund wurde nach dem Lager der nationalen Einheit (OZN) und der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) zur stärksten jüdischen Partei.
Die Stärke der Studie liegt im systematischen Vergleich der Entwicklung jüdischer Repräsentanz in den drei Stadtparlamenten. Überzeugend arbeitet die Verfasserin die unterschiedlichen Traditionen in den drei Stadtöffentlichkeiten sowie die Präsenz und „Effizienz“ jüdischer Stadtdeputierter, die verschiedenen jüdischen Parteien angehörten, heraus und richtet ihren Blick dabei punktuell auch auf andere polnische Stadtparlamente, vor allem Lemberg. Auf diese Weise wird deutlich, dass traditionelle jüdische Eliten in der Selbstverwaltung viel stärker repräsentiert waren als im Parlament und auf kommunaler Ebene breiter über ethno-religiöse Grenzen hinaus vernetzt waren, so dass sich jüdische Deputierte zumindest bis 1929 vergleichsweise erfolgreich für eine Gleichberechtigung auf dem kommunalen Arbeitsmarkt, für die Berücksichtigung bei Subventionsvergaben und für Modernisierungsmaßnahmen engagieren konnten.
Kozińska-Witt zeigt zugleich auf, dass die Anliegen der jüdischen Deputierten nicht automatisch eine Gleichbehandlung im Stadtparlament erfuhren. Im Gegenteil: sie wurden sowohl übersehen als auch übergangen. Das Manko kommunaler Autonomie zeigte sich nach der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1933 mit der Einführung des Vereinheitlichungsgesetzes (Ustawa scaleniowa), das die Kompetenzen des Stadtparlaments zugunsten des Magistrats und Stadtpräsidenten einschränkte, und der April-Verfassung des Jahres 1935, eine auf den Präsidenten Józef Piłsudski zugeschnittene neue Verfassung „mit Tendenz zur zentralstaatlichen Lenkung“ (S. 16). Die Ethnisierung der Sozialfürsorge führte zu einer Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung, begleitet von einem – spätestens seit den 1930er-Jahren – virulenten Antisemitismus, der als cultural code und politische Strategie fungierte. Nicht zuletzt fokussiert Kozińska-Witt beispielhaft Interessenskonkurrenzen von jüdischen und nicht-jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern und trägt auf diese Weise zugleich zum besseren Verständnis zeitgenössischer Urbanisierungsprobleme bei.
Zu beanstanden sind an der Studie die zum Teil nicht vereinheitlichten oder fehlenden biografischen Angaben zu den Stadtdeputierten (unter anderem zu Rajzla-Ruchla Sztejn) sowie den Autorinnen und Autoren zeitgenössischen Publizistik. Störend sind auch einige Lektoratsfehler und inkorrekte Literaturangaben (Mirosław anstatt Marian Łapot). Gewünscht hätte sich die Rezensentin aber vor allem mehr Informationen zu den – lediglich erwähnten – Akteurinnen des Stadtparlaments (beispielsweise Dina Blond), die dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund angehörten. Insofern fehlt der Studie das Erkenntnispotenzial einer Genderperspektive. Davon abgesehen, legt Kozińska-Witt aber eine beachtenswerte Studie vor, die für weitere vergleichende Forschungen zur jüdischen Partizipation auf lokaler Ebene in der Zweiten Polnischen Republik richtungsweisend sein und neue Untersuchungen zur politischen Handlungsmacht weiterer lokaler Akteurinnen und Akteure anregen dürfte.
Anmerkungen:
1 Jerzy Tomaszewski, Niepodległa Rzeczypospolita, in: Jerzy Tomaszewski (Hrsg.), Najnowsze dzieje Żydów w Polsce w zarysie (do 1959 roku), Warszawa 1993, S. 143–269, S. 200.
2 Antony Polonski, The Jews in Poland and Russia, Bd. 3: 1914–2008, Oxford u.a. 2013; Michał Trębacz, Izrael Lichtenstein. Biografia żydowskiego socjalisty, Lódź 2016.
3 Mary Pratt, Imperial Eyes. Studies in Travel Writing and Transculturation, London 2011; Dietlind Hüchtker, Geschichte als Performance. Politische Bewegungen in Galizien um 1900, Frankfurt am Main 2014.