Konfrontiert mit einem solchen Megawerk, sucht man zunächst nach Orientierungen über das Ganze, um nicht sofort unterzugehen in der Fülle der Texte und Kontexte.
Man beginnt zu zählen: Das Werk umfasst mehr als vierzig Beiträge, dazu eine ausführliche Einleitung der Herausgeber und einen Anhang, der kaum Wünsche offen lässt (Register der Personen, der Institutionen und Zeitschriften, Zusammenfassungen in Englisch und – besonders gelungen – in Französich, schließlich eine Bio-Bibliografie der Autoren).
Die Themen der insgesamt 42 Beiträge können folgendermaßen quantifiziert werden: je ein Viertel der Beiträge ist einem einzelnen Historiker bzw. einer geschichtswissenschaftlichen Institution gewidmet, wiederum ein Viertel der Artikel befasst sich mit „Westforschung“ in anderen Disziplinen, schließlich behandeln jeweils 6 Beiträge „Westforschung“ generell oder lediglich deren Rahmenbedingungen.
Was kann über die 42 Autoren quantifizierend festgestellt werden? Ihre Geburtsjahrgänge verweisen auf Altersstufen vom 28. bis zum 94. Lebensjahr! Es erscheint sinnvoll, sie in drei Alterskohorten zu gliedern: die über 53-Jährigen: sie machen ein Drittel der Autoren aus, sodann die Jahrgänge 1950-1965: die knappe Hälfte aller Autoren! schließlich die Jüngeren ab dem Jahrgang 1966 – noch gut ein Fünftel der Beiträger. Es kann demnach gewiss nicht gesagt werden, dass sich mit dieser Publikation eine neue, junge Historiker-Generation zu Wort meldet. Auffällig ist eine Häufung der 1950er-Jahrgänge unter den besonders engagierten Beiträgern. - Fragt man nach den Fachdisziplinen der Autoren, zählt man 27 Historiker, das sind zwei Drittel der an dem Projekt Beteiligten. Daneben stehen sechs Sprachwissenschaftler, fünf Sozialwissenschaftler, zwei Kunsthistoriker und eine Archäologin.
Wie ist dieses Megawerk als Publikation zu verstehen, zu klassifizieren? Das Etikett „Handbuch“ bietet sich an, denkt man an den Umfang, an die Aufschließung seiner Materien durch Register, an den Titel, der „die Westforschung“, scheinbar einen ganzen Forschungszweig, ankündigt. Die Herausgeber bezeichnen ihr Werk aber lediglich als „Sammelband“. Das ist keine falsche Bescheidenheit. In der Tat würde man im Falle eines Handbuchs eine systematisch befriedigende Gliederung vermissen, auch eine von inhaltlichen Kriterien geleitete Auswahl und eine interne Vernetzung der Beiträge. Der Umfang der Aufsätze variiert zwischen 13 und 79 Seiten! Allein 14 Aufsätze gehen weit über das übliche Limit von 30 Seiten hinaus, was dem Rezensenten nur in drei Fällen als gerechtfertigt erscheint. In der Tat, ein Sammelband. Man gewinnt den Eindruck, es wurde gesammelt und genommen, was angeboten wurde und den eigenen Standarts entsprach. Dreimal hat man auch Reprints präsentiert – warum? (und warum ist Michael Fahlbusch nicht in der Lage, die Übernahmen aus seinem Hauptwerk offen zu legen?) Wenn man am Schluss der Einleitung liest, dass eine Fortsetzung geplant ist, warum hat man diesen Sammelband zu einer Größe anwachsen lassen, die zu Problemen führt?
Hinter einem Vorhaben dieses Umfangs steht in der Regel eine Institution, ein Projekt-Antrag mit anschließender Förderung, eine Serie von Tagungen oder Ähnliches. Nicht hier! Wir haben es vielmehr mit der Initiative einer kleinen Gruppe Gleichaltriger zu tun, zu der neben den erstgenannten Herausgebern auch der Referent des Landschaftsverbands Rheinland, der am Ende der Einleitung erwähnte Georg Mölich zu rechnen ist. Seit der Aufsehen erregenden Debatte über „Ostforschung“ und das Verhalten deutscher Historiker im Zweiten Weltkrieg waren sie beseelt von der Idee, mit den gleichen Intentionen nach Westen zu schauen. Sie fanden Unterstützung bei Gerhard Brunn in Siegen, besonders aber bei Horst Lademacher in Münster, der – schon am Ende seiner Dienstzeit stehend – das Projekt zu seiner Sache machte. Lademacher lud zu einem Planungsgespräch nach Münster ein, vermittelte den Verlag sowie weitere Hilfen. Er ließ das Werk schließlich in seiner Duisburger Reihe „Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas“ erscheinen – in auffälliger Diskontinuität zu Münster, wo das Institut inzwischen in andere Hände übergegangen war.
Über den Titel habe man lange diskutiert, liest man zu Beginn der Einleitung - doch das Resultat kann nicht überzeugen. Immerhin ist der Titel eines Buches sein Ladenschild - da sollte man (als Autor) genau sein und (als Leser) nicht alles hinnehmen.
Mit dem Obertitel „Griff nach dem Westen“ sind die Herausgeber – bewusst – ein hohes Risiko eingegangen. Was diese Formel im Anschluss an das Buch Fritz Fischers suggeriert, steht jedoch quer zu dem, was etwa Lademacher in seinem Eröffnungsbeitrag für die Gesamtepoche 1919 bis 1960 herausarbeitet. Ist es wirklich sinnvoll und sachgerecht, die Aggression zum Leitbegriff des deutschen Verhaltens gegenüber den westlichen Nachbarn in diesen vierzig Jahren zu machen?
Auch der Untertitel ist mehrfach problematisch. „Die Westforschung“, dieser kompakte Begriff gibt mehr vor als er halten kann – darauf wird zurück zu kommen sein. Sodann: Was ist mit „den völkisch-nationalen Wissenschaften“ gemeint? Wissenschaften, die ihren Namen verdienen, können nicht völkisch oder national sein. Das Kompositum völkisch-national ist zudem widersprüchlich, denn das Völkische steht mit seiner ethnischen oder rassistischen Fundierung quer zur politischen Nation. Schließlich: Der „nordwesteuropäische Raum“ – die Probleme einer solchen Formulierung liegen auf der Hand.
Die Publikation enthält eine Fülle interessanter Beiträge über die Beneluxländer aus der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft und ihren Nachbardisziplinen. Für eine qualifizierte Urteilsbildung über dieser Arbeiten wäre es allerdings notwendig, das gesamte Spektrum der einschlägigen Fachliteratur ins Auge zu fassen, vor allem aber: Vergleiche zu ziehen zu der zeitgleichen Fachliteratur in anderen Sprachen und Kulturen. Erst durch ein solches Vergleichen qualifiziert sich historisches Urteilen, und dem steht hier eine erstaunliche „nationale“ Engführung entgegen.
Warum wird die hier untersuchte Fachliteratur stereotyp mit dem Etikett „Westforschung“ versehen und außerdem durch Anführungsstriche auf Distanz gesetzt? Eine akademische Begriffstradition liegt dem kaum zu Grunde, eher wohl das Anliegen der Herausgeber, eine problematische deutsche Tradition kritisch nachzuweisen. Motivierender Hintergrund war die politisch-moralisch erhitzte Situation innerhalb der Intelligenz nach dem Frankfurter Historikertag 1998. „Ostforschung“ war damals in aller Munde, und Willi Oberkrome hatte in seiner viel beachteten Dissertation (1993) bereits „Ostforschung“ und „Westforschung“ parallelisiert. So konnte Burkard Dietz bereits 1999 in „Geschichte im Westen“ die forschungsstrategischen Konsequenzen ziehen – es wurde eine „invention of tradition“ nach bekanntem Muster, wenn auch begrenzt auf das Sozialmilieu der deutschen Intelligenz. Fragt man danach, in welchem Umfang die Autoren auf die Vorgabe der Herausgeber eingegangen sind und tatsächlich mit dem Begriff „Westforschung“ arbeiten, zählt man vierzehn einschlägige Beiträge. Die überwiegende Mehrheit hat demnach den programmatischen Leitbegriff eher gemieden. Von einer Diskussion über diesen Punkt ist nichts zu erfahren. Eine ungeklärte Situation.
Den 42 Beiträgen im Einzelnen gerecht zu werden, ist nicht möglich. So seien drei von ihnen herausgegriffen. Zunächst der einleitende Aufsatz von Horst Lademacher, der den Versuch unternimmt, eine kontuinuierliche politische Relevanz der Geschichtsschreibung zum Westen nachzuweisen – der Begriff „Westforschung“ wird konsequent vermieden. Indem er ausführlich auf die westdeutsche Nachkriegszeit eingeht, setzt Lademacher einen Akzent gegenüber der sonstigen Fixierung auf den Nationalsozialismus. An zwei Stellen verweist er auf Franz Petri, seinen verehrten akademischen Lehrer, den er in seinem Institut durch einen eigenen Archivraum präsent hielt. Petri ist der am meisten erwähnte und kommentierte „Westforscher“ dieser Publikation. Die große Chance, die sich bot, im Abstand zu den Nachrufen von 1993 und eingehend auf die seitdem vor allem von Karl Ditt geleistete biografische Forschung, nun einen Beitrag zur Gesamteinschätzung dieses exemplarischen westdeutschen Historikers in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu leisten, diese Chance hat Horst Lademacher nicht wahrgenommen.
Klaus Pabst gibt mit seiner neu erarbeiteten Darstellung über den Kölner Mediävisten Gerhard Kallen einen guten Einblick in das nationalistische Denken und das praktische Verhalten eines Vertreters der Oberschicht des rheinischen Katholizismus, der zum Nationalsozialismus und seiner Westpolitik durchweg nur Anschlüsse herstellen und Parallelitäten entwickeln konnte. In seiner unspektakulären Normalität ist dieser Fall besonders aufschlussreich.
Schließlich der Aufsatz von Bernd Rusinek, der das zentrale Thema der Publikation eigenständig und stilistisch genial angeht. Am Leitfaden des Bonner Instituts für Geschichtliche Landeskunde formuliert er eine ideologisch entkrampfte Definition von „Westforschung“, die bei ihm auch die stereotypen Anführungszeichen verliert, setzt in der Frage der geistesgeschichtlichen Kontinuität neue Akzente, nimmt eingehend zur Forschungsliteratur Stellung und endet mit der für viele Institutionen unserer Disziplin bedenkenswerten Metapher einer Raketen-Laufbahn, die jedoch weder Ziel noch Ende finden kann. Mit diesem Beitrag findet das Megawerk einen bemerkenswerten Abschluss.
Ende gut – alles gut?