In „Zeit, Dauer und Veränderung. Zur Kritik reiner Bewegungsvorstellung“ beschäftigt sich Franz Bockrath mit Bewegungen. Diese versteht er als zugleich räumlich und zeitlich formiert. Seines Erachtens sind damit aber bzw. ergeben sich daraus bis heute ungelöste Widersprüche. So sei es beispielsweise einerseits zwar möglich, Bewegungen durch Messungen oder Berechnungen nachzuvollziehen, dann aber sei man mit dem Problem konfrontiert, wie es möglich ist, dass bewegliche Körper zum selben Zeitmoment an mehr als einem Ort ‚sein‘ können. Dieses Problem beschäftigt nicht nur Quantenphysiker, sondern eben auch Philosophen und Kulturwissenschaftler wie Bockrath. Während für beide Disziplinen empirische Antworten schwierig zu finden, einfache Antworten gar unmöglich sind, versucht der Autor durch Bezug auf sozialphilosophische und kulturwissenschaftliche Ansätze den scheinbar widersprüchlichen Zeit-Bewegungs-Zusammenhang (be)greifbar zu machen.
Die Schritte die Bockrath dabei zurücklegt, nehmen zunächst historische Veränderungen und Klassiker der Zeittheorie in den Blick (Max Planck, Einstein, Kant und Adorno). Bereits in der Einleitung wurden – wie zu erwarten – eingeführt: Zenon, Bergson und Hegel sowie überraschender Weise Cassirer und Bourdieu. Diese werden nacheinander in einzelnen Kapiteln behandelt, die unter die Kategorien „I Bewegung als Problem des ‚reinen Denkens‘ und der ‚reinen Wahrnehmung‘“ und „II Bewegung als Phänomen des Übergangs“ gegliedert sind. Im ersten Teil zielt Bockrath darauf, die im Titel anklingenden Probleme des reinen Denkens (Zenon) und des reinen Wahrnehmens (Bergson) näher zu analysieren, indem diese von ihren Extremen her beleuchtet werden. Dabei argumentiert Bockrat, dass Zenon und Bergson daran scheitern, durch den Bezug auf ihr jeweiliges Gegenteil die jeweils eigenen Standpunkte (reines Denken – Zenon; reines Wahrnehmen – Bergson) zu begründen. Ihre Theorien kranken seines Erachtens ferner daran, dass sie die eigenen Positionen und deren Voraussetzungen verabsolutieren. Dadurch würden sich Zenons und Bergsons Perspektiven verengen, so dass es ihnen nicht möglich sei, Begriffliches und Nichtbegriffliches aufeinander zu beziehen. Vielmehr verhindere die einseitige Beharrung auf dem eigenen Standpunkt, dass sich die „Paradoxie der Identität in der Nichtidentität [...] auflöst und im Widerspruch mit sich über sich hinausweist“ (S. 30).
Der zweite Teil hat die Aufgabe, die zuvor dargestellten Widersprüche „in ihrer reflexiven Vermittlung“ (S. 7) zu erfassen. Anschließend werden verschiedene Erfahrungsdimensionen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, um so den Aspekt ihrer symbolischen Bedeutung herauszuarbeiten (Cassirer). Hierbei ist etwa relevant, dass „jeder noch so ‚elementare sinnliche Inhalt‘ […] niemals einfach als isolierter und abgelöster Inhalt ‚da‘ [ist]; sondern er weist in eben diesem Dasein über sich hinweg; er bildet eine konkrete Einheit von ‚Präsenz‘ und ‚Repräsentation‘“ (Cassirer zitiert in Bockrath, S. 323). In Kombination mit dem Verweis auf das Figur-Grund-Schema sowie die Tatsache, dass die Verschiebung des Bezugspunkts oder der Perspektive eine Veränderung der wahrgenommenen Beziehung und Bedeutung hervorruft, wird ein neuer Blick auf das Sein eines beweglichen Körpers zu einem Zeitmoment an zwei Orten geworfen. Paradigmatisch dafür kann dafür die Verschiebung vom „Zeitgefühl zum Zeitbegriff“ (Cassirer zitiert in Bockrath S. 38) angesehen werden, das „den Wandel von der unbestimmten substantiellen Zeitanschauung, die noch ganz im ‚Jetzt‘ und ‚Hier‘ befangen ist, bis zum rein funktionalen Zeitverständnis“ (ebd.) illustriert. Die Anschlussstelle zu Bourdieu findet sich dann in den symbolischen Formen, die zum Kern der Theorie Cassirers zählen. Anders als Cassirer jedoch, der „symbolische Formen im Modus konstitutiver Geltungskritik“ (S. 44) begreift, „orientiert sich Bourdieu an der kollektiven und individuellen ‚Geschichte, die unsere Denkkategorien erzeugt‘“ (ebd.). Mit Bourdieu rückt dabei erneut ein „materialistisches Motiv“ (ebd.) in den Aufmerksamkeitsfokus, das bei Cassirer angelegt ist, aber vernachlässigt wird. Für Bourdieu steht diese jedoch im Kern des Wechselverhältnisses zwischen vermittelter Vermittlung bzw. strukturierter und strukturierender Struktur, die nur in der Praxis sichtbar wird (vgl. Kapitel 5). Damit wird die zeitliche Bewegung zum einzigen ‚Ort‘, an dem Beobachtungen stattfinden und Erkenntnisse möglich sind.
Damit ist man zurück bei Bockraths Ausgangsbeobachtung, dass Bewegungen als räumlich und zeitlich formiert zu betrachten sind. Es wäre schön, wenn der Autor sein Werk mit einer Zusammenführung der vorher analysierten Theorien beendet hätte. Dann hätte er zwar möglicherweise immer noch nicht das ‚klassische‘ Problem lösen können, wie der widersprüchliche Zeit-Bewegungs-Zusammenhang (be)greifbar gemacht werden kann, doch hätte Bockrath mehr Potential aus seiner umfangreichen Arbeit geschlagen. Denn während der Autor an einer Stelle selbst kritisch bemerkt, dass er nur Grundlagenarbeiten leisten kann und das Denken anregen möchte, ist man als Leser überzeugt, dass er sicher genauer eine Richtung aufzeigen könnte, in die man weitergehen muss, um Bewegung (noch) besser zu verstehen. Und außerdem würde er den Leser mit einem Fazit dafür ‚belohnen‘, dass er mit dem Autor den schwierigen, nicht immer leicht verständlichen, nicht immer leicht zu lesenden gedanklichen Weg gegangen und am Ende angekommen ist.