Der Herzog von Marlborough, eine der Hauptfiguren des Spanischen Erbfolgekriegs, ist eine Art englischer Nationalheld: Der Sieger von „Blenheim“ gilt manchem als Retter Europas vor Ludwig XIV. Gleichzeitig ist er aber wegen des „Verrats“ an seinem Gönner Jakob II., seiner Habsucht und seiner zwielichtigen jakobitischen Kontakte polemisch kritisiert worden. Insgesamt ist er also eine in der historischen Forschung wie der englischen Erinnerungskultur prominente, aber auch von Klischees überlagerte Figur. Der vorliegende Sammelband bemüht sich stärker als die zahlreichen vorliegenden Biographien um eine breite Kontextualisierung.
Das großformatige, reichhaltig bebilderte Buch ist der zweite Band in der Reihe Protagonists of History in International Perspective, die der Rotterdamer Verlag Karwansaray herausgibt; der erste Band befasste sich mit dem niederländischen Admiral Michiel de Ruyter. Wenn man eine Tendenz vermuten darf, geht es der Reihe darum, vor allem militär- und diplomatiegeschichtlich einschlägige Personen der Frühen Neuzeit in eine europäische Perspektive zu rücken, auf internationale Autoren zurückzugreifen und so die divergenten Forschungsstände für ein anglophones Publikum aufzubereiten. Diese eher personen- und militärgeschichtliche Fokussierung klingt verdächtig nach großen Männern, die Geschichte machen; und ganz ist diese Stoßrichtung auch nicht von der Hand zu weisen. Dazu kommt als erster Eindruck eine gewisse Ratlosigkeit, an wen sich der Sammelband überhaupt richten könnte: Ist er ein buntes Coffee-table-book für Militärgeschichts-Aficionados, ein Ausstellungskatalog ohne Ausstellung – oder ein Beitrag zur Forschung?
Die Antwort kann nur lauten: ganz entschieden letzteres. Die Herausgeber haben als Autoren international einschlägige Historiker gewinnen können, die bestimmte systematische Aspekte von Marlboroughs Leben und Karriere bearbeiten. Dabei zeigt sich – ganz im Einklang mit den älteren Arbeiten des Herausgebers Hattendorf –, dass die konsequente Historisierung und Europäisierung des englischen Nationalhelden in gewisser Weise auch eine Relativierung seiner Leistungen zur Konsequenz hat. Die vielen Abbildungen von Gemälden, Statuen, Münzen etc. werden zwar weitgehend illustrativ eingesetzt, bieten aber eine qualitativ sehr hochwertige und einigermaßen umfassende Bildersammlung rund um den Protagonisten. Insgesamt erweist sich dieser Band, trotz seiner (innerhalb der deutschen Wissenschaftslandschaft) etwas ungewöhnlichen Aufmachung, als in jeder Hinsicht willkommenes und wichtiges Buch.
Der Band beginnt mit einer kompetenten Einordnung Englands und Großbritanniens in die europäische Geschichte um 1700 (David Onnekink); hier wird gezeigt, wie stark sich die englische Politik nach 1688 europäisierte und welche Themen (Jakobiten, protestantische Sukzession, die Union von 1707) die englische Politik bestimmten. Hattendorf stellt in einem langen Text (der im Wesentlichen ein Nachdruck seines Artikels aus dem Oxford Dictionary of National Biography ist) Marlborough biographisch vor. Klassische Diplomatiegeschichte bietet der Aufsatz von Bernhard R. Kroener, der die Geschichte des Spanischen Erbfolgekriegs in Mitteleuropa nachzeichnet, auf die Rolle der Reichsstände (Preußen, Sachsen) eingeht und die prekären Verbindungslinien zum Nordischen Krieg offen legt. Augustus J. Veenendaal widmet sich der Beziehung Marlboroughs zum niederländischen Ratspensionär Heinsius – einer für die Kriegskoalition besonders wichtigen Verbindung, die durch gegenseitiges Vertrauen, aber kaum durch „Freundschaft“ im modernen Sinne geprägt war. Die andere zeitgenössisch berühmte „Freundschaft“ Marlboroughs, sein Verhältnis zum Prinzen Eugen, stellt den Ausgangspunkt für Michael Hochedlingers Aufsatz dar. Er ordnet die Beziehung zu Eugen in die zeitweise sehr erfolgreiche englisch-habsburgische Kooperation ein. Marlborough erscheint als „the Emperor’s man in London“ (S. 260); seine Belehnung mit dem Fürstentum Mindelheim war ein spektakuläres Symbol dieses Verhältnisses.
Im engeren Sinne militärgeschichtliche Aufsätze bilden das Kernstück des Bandes. Die Bedeutung Marlboroughs, der als erfolgreicher Oberkommandeur einer alliierten Armee über zehn Jahre vor allem den flämischen Kriegsschauplatz dominierte, wird gerade in diesen Beiträgen deutlich relativiert. Jaap Bruijns Artikel über „The Anglo-Dutch Navies in Marlborough’s Wars“ wirkt dabei ein wenig wie ein Fremdkörper, weil er sich auf die 1690er-Jahre konzentriert und naturgemäß Marlborough – als Oberkommandeur der Feldtruppen – kaum vorkommt. Hier hat offenbar die Orientierung an einem militärgeschichtlichen Interesse etwas in die Irre geführt. Alan J. Guy skizziert die britische Armee während des Spanischen Erbfolgekrieges und weist darauf hin, dass die logistischen und organisatorischen Innovationen, die Marlborough manchmal zugeschrieben werden, eher auf Wilhelm III. zurückgehen. Sehr richtig betont er, dass angesichts der Vorliebe der Historiographie für Schlachtenbeschreibungen weitgehend unklar ist, „what he actually did as a commander in the field on a day-to-day basis“ (S. 105). Jamel Ostwald beschäftigt sich mit Belagerungen, die in der Marlborough-Literatur einen schlechten Ruf haben (Marlborough gilt als Anhänger offensiver Feldschlachten) und die deshalb, trotz ihrer offenkundigen Bedeutung, in der Forschung massiv unterrepräsentiert sind. Ostwald kann zeigen, dass Marlborough dem Belagerungskrieg voller Unverständnis gegenüberstand und schließt pointiert: „The Duke’s greatest personal contribution to this effort was to manouevre the Allied army into a position whereby the more technically-skilled and better-equipped Dutch could then capture the French fortresses that blocked their advance“ (S. 143). Die Rolle der niederländischen Armee hebt auch John Stapleton hervor: Wenn Marlborough als Anführer einer Koalitionsarmee ungewöhnlich erfolgreich war, so ist doch zu betonen, dass die niederländischen Generäle nicht einfach nur zögerten, während Marlborough auf Offensive setzte. Stapleton legt überzeugend dar, dass seine militärische Erfahrung zu Beginn des Krieges gering war und seine Einsetzung als Oberkommandeur darauf beruhte, dass die niederländischen Politiker keinen starken General wollten; auch kann er zeigen, dass der niederländische Einfluss auf die Kriegsführung, vor allem in der zweiten Kriegshälfte, von enormer Bedeutung war. Marlborough verliert in diesen Darstellungen den Nimbus des genialen Heerführers – und gewinnt an historischer Tiefenschärfe, weil man besser zu verstehen beginnt, wie eigentlich Kriegsführung unter den Bedingungen einer Koalition praktisch vor sich ging.
Drei Artikel gehen Fragen des (öffentlichen) Images Marlboroughs nach: In einem schönen Text zeigt Tony Claydon seine zwiespältige Rolle in der englischen Presse. Marlborough war medial präsent, aber – im „rage of party“ des ersten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts – auch hoch umstritten; er war einer der ersten Politiker, „whose disputed print persona structured a stable partisan politics“ (S. 301). Die englische Presse liebte ihn für seine militärischen Erfolge, musste aber darauf achten, dass er die Königin nicht überschattete. Gegen Ende des Krieges warf sein resoluter Einsatz für den Krieg die kontroverse Frage auf, ob er eigentlich primär als Engländer (oder als Europäer, horribile dictu) handele. Richard Johns zeigt in einem umfassenden Panorama (Münzen, Gemälde, die berühmten Blenheim Tapestries) die vor allem panegyrische Darstellung Marlboroughs in der Kunst auf. In gewisser Weise gehört auch Clément Ourys Darstellung der französischen Sicht auf Marlborough in diesen Kontext: Oury zeigt, dass der Versailler Hof versuchte, die Höchstädter Niederlage als einen Betriebsunfall abzutun, und Marlborough lange nicht recht ernst nahm. Dies änderte sich erst mit dem Sieg bei Ramillies 1706; allerdings fungierte der Herzog in der französischen Diskussion vor allem als Argument, um die angebliche Unfähigkeit der eigenen Generäle zu kritisieren. Insgesamt hatte aber der geborene Franzose Eugen von Savoyen in Frankreich immer eine bessere Presse als Marlborough.
Als Defizit des insgesamt überzeugenden Bandes fällt auf, dass Marlboroughs Rolle als Diplomat und englischer Politiker weniger prominent behandelt wird als seine militärische Funktion. Auch kommt die Zeit vor dem Spanischen Erbfolgekrieg ein wenig zu kurz – ein Artikel über Marlboroughs Rolle in der Glorious Revolution hätte nicht geschadet. Insgesamt wird deutlich, dass der biographische Zugang nicht zu einer apologetischen Überhöhung führen muss, dass es aber analytische Fragestellungen (im Hinblick auf Militär, Diplomatie, Politik) gegenüber der Dominanz der Narration immer noch schwer haben. Im Ganzen jedoch bietet der Band, auch mit seiner ausführlichen Bibliographie, eine kompetente Hinleitung zu seinem Protagonisten, aber auch zu den Forschungsproblemen, die ihn umgeben.