Dass Politik und Religion im konfessionellen Zeitalter nicht zu trennen seien – diesen nicht ganz falschen, aber auch nicht ganz richtigen Satz liest man öfter, als einem lieb ist. Er krankt an mangelnder begrifflicher Klarheit und an der Hypostasierung zweier sehr diffuser Größen. Daher bleibt oft unklar, was er genau bedeuten soll und wie weit er stimmt. Damien Tricoire hat ein Buch geschrieben, das sich genau dieser Frage zuwendet. Dieses Buch ist ein komplizierter Fall: Einerseits ist es bewunderungswürdig in seiner Gelehrsamkeit, seiner argumentativen Stringenz, seinem Mut zur umfassenden Interpretation. Andererseits will der Autor zu viel und zu verschiedenes, so dass das Buch sich letztlich nicht zu einem Ganzen fügt. Argumentative Stringenz und doch auch Disparität des Textes? Das klingt unplausibel, ist es aber in diesem Falle nicht: Gerade weil Tricoire so scharfsinnig argumentiert, wird besonders deutlich, wo die Schwächen des Buches liegen. Ich möchte daher zunächst Tricoires Gedankengang nachvollziehen (und muss dabei pauschal auf die vielen hochinteressanten Einzelfunde verweisen, die er en passant präsentiert), um dann einige konzeptionelle Einwände zu formulieren.
Tricoires Ausgangspunkt ist ein Unbehagen gegenüber dem reduktionistischen Entweder-Oder vieler Studien zum Beispiel zum Dreißigjährigen Krieg: Meist werde der Krieg entweder als Religionskrieg oder als Staaten- bzw. Staatsbildungskrieg interpretiert. Beide Optionen, so Tricoire, griffen aber zu kurz: Entweder (Option Religionskrieg) würden die politischen Akteure zu Konfessionsautomaten, oder (Option Staatenkrieg) Religion werde zu bloßer Propaganda erklärt. Angesichts dieser Aporie schlägt Tricoire eine „Religionsgeschichte der Politik“ (S. 9) vor, die davon ausgeht, dass Gott als ein – wenn nicht der wichtigste – politischer Mitspieler zu gelten habe: Daher sei es kein rein politisches, sondern ein „politisch-religiöses Kalkül“, das Politik im konfessionellen Zeitalter, und zwar auf allen Ebenen, mitbestimmt habe. Dieses Kalkül sei eingesetzt worden, um mit Gott und seinen Erwartungen an die Herrschenden zu „rechnen“. Gottes Erwartungen an die Menschen seien also Teil des politischen Handlungshorizontes gewesen, und der politische Akteur habe damit umgehen müssen; dies habe ihn nicht zum religiösen Fundamentalisten gemacht und zu nichts gezwungen, aber er habe die Erwartungen Gottes auch schwer ignorieren können, sondern sie in irgendeiner Weise in sein Handeln einbeziehen müssen. Das politisch-religiöse Kalkül, so Tricoires Fazit, habe „die Definition politischer Legitimität“, „den Inhalt der angestrebten Politik“ und die „Strategien im Kampf um die Umsetzung der politischen Ziele“ (S. 389) geprägt.
Tricoire operationalisiert seine Frage nach dem politisch-religiösen Kalkül in dreierlei Hinsicht: Erstens beschränkt er sich auf den nachtridentinischen Katholizismus; zweitens knüpft er das Kalkül an die Ausgestaltung des neuen staatlichen Marienpatronates; drittens vergleicht er drei katholische Monarchien miteinander (und widerlegt damit die jeweiligen National- oder Territorialmythen): Bayern – ein katholisches Musterterritorium im Reich; Frankreich – eine katholische Macht, deren Politik allerdings oft nicht katholischen Interessen zu folgen schien; Polen-Litauen – eine Adelsrepublik und Wahlmonarchie, die sich im Laufe des 17. Jahrhunderts zum rein katholischen Land wandelte. Gerade die Einbeziehung Polens in den komparativen Rahmen scheint mir sehr verdienstvoll – und wird sowohl der polnischen Forschung (die religiöse Faktoren oft unterschätzt) als auch der deutschen Forschung (die Ostmitteleuropa zu oft in eigene Departments auslagert) neue Impulse geben.
Tricoire skizziert, ausgehend von einer vielfältigen religiösen Pamphletliteratur, die Konturen der nach dem Tridentinum einsetzenden katholischen Reform, die er als Kontrast zur spätmittelalterlichen „Religion der Angst“ (S. 57) begreift: In einem neuen universalistischen Zugriff, so Tricoire, habe der Katholizismus vor allem unter dem Einfluss der Jesuiten eine Religion der „universalen Liebeshierarchie“ (S. 49) entworfen, die Verbindung zwischen Himmel und Erde verstärkt (daher auch die Wichtigkeit neuer Heiligenpatronate), durch neue Bruderschaften Laien stärker eingebunden und neue Herrschaftsmodelle entwickelt, die vor allem auf „pietas“ und „iustitia“ abzielten. Dieser neue Katholizismus habe Politik teilweise in die Autonomie entlassen können, solange sie in irgendeiner Weise auf die göttliche Hierarchie bezogen blieb. Das Marienpatronat war im Rahmen dieser Religion ein zentrales Element: Die Staatswesen stellten sich explizit unter den Schutz Mariens. Das Marienpatronat wurde in Bayern, aber auch von den Habsburgern sehr propagiert und dann auf verschiedenen Wegen nach Frankreich wie Polen exportiert. Das politisch-religiöse Kalkül war die politische Ausprägung dieser neuen Frömmigkeit. Während diese in Bayern früh und in Frankreich wegen der Religionskriege erst verspätet, aber dann umso stärker rezipiert worden sei, habe sie sich in dem viel dezentraleren und kaum auf Sakralisierungstraditionen zurückgreifenden polnischen Staat nicht dauerhaft durchsetzen können.
Die bisherigen Rezensionen1 haben zu Recht auf die Stärken des Buchs (die komparative Einbeziehung Polens, die beeindruckende Sprachkompetenz des Autors, die Aufarbeitung des Marienpatronats, die Originalität des Ansatzes) hingewiesen. Allerdings haben sie auch Tricoires enge Verbindung von Politik und Religion kritisiert und bemängelt, dass die ab 1500 durchaus entstehenden Eigenlogiken funktionaler Systeme wie Religion und Politik nicht ernst genug genommen würden. Diese bekomme man aber nur in den Blick, wenn man stärker andere als die von Tricoire privilegierten publizistischen Quellen heranziehe. Dies ist zweifellos richtig, ich würde aber die Defizite des Buchs noch etwas anders beschreiben. Es sind drei Kritikpunkte, die ins Auge fallen.
Erstens: Das Profil der katholischen Reform, das Tricoire zeichnet, ist sehr stark abhängig von einer bestimmten Akzentsetzung der französischen Forschung, vor allem von den Thesen Delumeaus und Crouzets zur Religion der Angst und zur religiösen „Entängstigung“ des späten 16. Jahrhunderts. Diese Thesen sind schon für Frankreich enorm voraussetzungsreich und nur schwer auf andere Territorien übertragbar. Die katholische Reform mag zu einem religiösen Angstabbau geführt haben; aber was ist mit der Krise des 17. Jahrhunderts? Was mit den Hexenverfolgungen? Sind dies alles nur protestantische Phänomene?
Zweitens: Die Idee des Rechnens „mit Gott“, das politisch-religiöse Kalkül, ist ein ingeniöser Einfall, aber kaum mehr. Letztlich ist diese Idee eine Setzung, die nicht genügend belegt ist; sie ist mehr Axiom als Analysewerkzeug. Immer dann, wenn es darum geht, auf welche Weise Akteure den Willen Gottes konkret in ihr politisches Kalkül einzubeziehen suchten, wird Tricoire eigentümlich vage. Dass es zuweilen eine solche Politik des Rechnens mit Gottes Willen gab, ist unbestritten2, aber wie systematisch wurde sie ins Werk gesetzt? Ist die Idee als politikprägendes Konzept überzeugend, wenn sich aus ihr – siehe Frankreich im Dreißigjährigen Krieg – auch antikatholische Kriegshandlungen ergeben konnten? Sahen die Zeitgenossen in Gottes Willen nicht doch oft primär eine eher erahn- als erkennbare Größe, die sich nicht einfach in politisches Handeln einbeziehen ließ? War nicht die verbreitetere Haltung eher die des polnischen Großkanzler, der um 1620 schrieb: „Nur Gott weiß, wie die Sachen ausgehen“? (S. 155) Sind nicht viele der Belege eher Indizien für das Bewusstsein und die Hoffnung, in einer bestimmten, aber eben unklaren Weise von Gott zu Großem ausersehen zu sein? Müsste man daher nicht stärker die Forschung zum Beispiel zu „elect nations“ als Vergleichspunkt heranziehen?3
Drittens bleibt der Zusammenhang von „Rechnen mit Gott“ und dem Marienpatronat einigermaßen vage. Die Entwicklung und Rezeption eines nicht nur dynastischen, sondern staatlichen Marienpatronats wird zwar auf der Basis vor allem religiöser Traktate untersucht, aber der Konnex zum politisch-religiösen Kalkül bleibt aufs Ganze unklar. Dies führt dazu, dass die Argumentation des Buchs in verschiedene Richtungen strebt, die insgesamt auseinanderzufallen drohen.
Ein schwieriger Fall also: ein Buch, mit dem man in vielem nicht übereinstimmen kann und das dennoch sehr zum Denken anregt. Ein mutiges Buch, das aber nicht überzeugt. Ein Buch, das die Debatte um Religion und Politik im konfessionellen Zeitalter in eine neue Runde führt – und deshalb ein wichtiges Buch.
Anmerkungen:
1 Rudolf Schlögl, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.2013, <http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/damien-tricoire-mit-gott-rechnen-die-himmelskoenigin-bestimmt-die-politik-12198340.html> (07.01.2014); Cornel Zwierlein, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], <http://www.sehepunkte.de/2013/06/22444.html> (07.01.2014).
2 Vgl. auch: Thomas Brockmann, Dynastie, Kaiseramt und Konfession. Politik und Ordnungsvorstellungen Ferdinands II. im Dreißigjährigen Krieg, Paderborn 2011, S. 116–119.
3 Siehe zum Beispiel: Ronald G. Asch, An Elect Nation? Protestantismus, nationales Selbstbewusstsein und nationale Feindbilder in England und Irland von zirka 1560 bis 1660, in: Alois Mosser (Hrsg.), „Gottes auserwählte Völker“. Erwählungsvorstellungen und kollektive Selbstfindung in der Geschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 117–141.