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Titel
Der Philosoph. Habermas und wir


Autor(en)
Felsch, Philipp
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Hacke, Institut für Politikwissenschaft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

In Lehrveranstaltungen löst die Auskunft, dass Jürgen Habermas (geb. 1929) weiterhin unter den Lebenden weilt, nicht selten Staunen unter den Anfangzwanzigern aus. Herrschaftsfreier Diskurs, kommunikatives Handeln und der zwanglose Zwang des besseren Arguments finden das freundliche Interesse der Jüngeren, aber diese Formeln verbinden sie selten mit dem Meisterdenker aus Starnberg. Auch die Interventionen des Mittneunzigers zum Ukraine-Krieg dringen kaum durch, denn die Spalten der Quality Press scheinen als Verlautbarungsort für Großintellektuelle nur noch wenig Resonanz unter Digital Natives zu finden.

Dabei ist Habermas kein entrückter Klassiker der Moderne, sondern hat allein seit seinem 80. Geburtstag fünf Bücher publiziert, darunter zwei dickleibige Bände über das Verhältnis von Religion und Philosophie („Auch eine Geschichte der Philosophie“, 2019). Sein Werk ist derart monumental, dass es angesichts einer hoch spezialisierten akademischen Habermas-Philologie viel Chuzpe benötigt, sich der Lebensleistung dieses Philosophen mit einem Essay zu nähern. Philipp Felsch, hervorgetreten als versierter Theorieerzähler über die alternativen linken Biotope der 1970er-Jahre im Merve Verlag und die Wiederentdeckung Nietzsches nach 1945, geht dieses Wagnis ein, indem er erfreulich freimütig einen individuellen Zugang zu Habermas sucht. Nicht als Adept oder Schüler, nicht als Rekonstrukteur des Werkes – die philosophischen Schriften findet er weiterhin „entmutigend unzugänglich“ (S. 17) – möchte er sich Habermas nähern, sondern er besucht ihn in seinem Haus in Starnberg und blättert in den Briefen, die im Vorlass der Frankfurter Universitätsbibliothek verwahrt sind. Im Zentrum seines Interesses steht der bundesrepublikanische Intellektuelle, der zahlreiche Debatten des Landes mitgeprägt hat und womöglich die Paraderolle des öffentlichen Interventionisten in Deutschland erst erfunden hat. Felsch präsentiert uns Habermas im Streit um Staat und Demokratie, Nation und Europa, Krieg und Frieden, in seiner kritischen Begleitung des west- und gesamtdeutschen Gemeinwesens, dessen geistige Identität er mit verkörpert(e).

Im Titel „Der Philosoph“ ist eine Anlehnung an Karl Heinz Bohrer (1932–2021) zu sehen, der dem ehemaligen Freund Habermas stets so und ohne Namensnennung in seiner Autobiographie ein Denkmal setzte, gewissermaßen als respektvoll distanzierte Rollenbeschreibung des uneinholbaren Denkers. Dabei belässt es auch Felsch, der sich auf Habermasʼ öffentliche Rolle und seine Persönlichkeit beschränkt, aber keine Auseinandersetzung mit dem philosophischen Denkweg des Protagonisten sucht und völlig darauf verzichtet, die „Weltmacht Habermas“ (so die „ZEIT“ zum 80. Geburtstag) in ihrer internationalen Bedeutung von Amerika bis Asien zu verorten. Felschs Habermas verbleibt – abgesehen von den bekannten Scharmützeln mit den französischen Poststrukturalisten – in der bundesrepublikanischen Provinz. Im Register sucht man vergeblich nach den Einträgen Rawls, Rorty, Taylor oder Walzer.

Felschs unprätentiöser Zugang, der die eigene Zeitungsausschnittsammlung thematisiert, der Haptik der vergilbten Suhrkamp-Bändchen nachsinnt und die Lesespuren in der „TkH“ (Theorie des kommunikativen Handelns, Erstausgabe 1981) in der Berliner Staatsbibliothek verfolgt, führt zu vielen Aha-Erlebnissen bei den Leser:innen und ermöglicht einen unterhaltsamen Zugang. Hier wird nicht auf Millimeterpapier gedacht, sondern vielmehr freimütig die Frage gestellt, warum man sich bislang nur beiläufig für den ewigen Begleiter und „Hegel der Bundesrepublik“ (Jan Ross) interessiert habe. Besondere Stärken spielt Felsch aus, wenn er den politischen Intellektuellen Habermas inmitten seiner Peer Group profiliert. Vom fulminanten Debüt seiner Heidegger-Kritik in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ aus dem Jahr 1953 reicht der Reigen über die Auseinandersetzung mit den Achtundsechzigern, die Hoffnung auf die erlösende Kraft der Gesellschaftstheorie in den 1970er-Jahren, die Kämpfe gegen eine konservative „Tendenzwende“, den „Historikerstreit“ und die Angst vor einer „Renationalisierung“ bis hin zur Europapolitik sowie den letzten Plädoyers für eine Verhandlungslösung zwischen der Ukraine und Russland.

Felsch beweist Sinn für Habermasʼ Urteilskraft, aber auch für seine Blindstellen, die der Autor durchaus mit Ironie zu markieren weiß. Es gibt berechtigte Zweifel daran, die von Habermas eingeforderte Rollentrennung zwischen dem Philosophen und dem Intellektuellen immer anzuerkennen. Die „Rasterfahndung nach den Renegaten der Moderne“ (S. 159) zieht sich durch das philosophische Werk und führte auch im Persönlichen zu Entzweiungen; die Freundschaften mit Karl Heinz Bohrer und Martin Walser (1927–2023) zerbrachen. Beide standen unter Nationalismusverdacht. Habermasʼ Furor schien sich zu verschärfen, je deutlicher sich die Wucht nationaler Wir-Gefühle nach dem Ende des Kalten Krieges abzeichnete. Schon der emotionskalte Umgang mit der „nachgeholten Revolution“ 1989 und das kaum verhohlene Desinteresse an der ehemaligen DDR markierten verbissen geführte Rückzugsgefechte, oft im Ton schwer erträglicher Rechthaberei.

Die Passagen, in denen Felsch staunend den Rigorismus und die Kompromisslosigkeit des Diskurstheoretikers problematisiert, zählen zu den eindrucksvollsten des Buches. Sie führen noch einmal vor Augen, wie privat das Politische werden kann, wenn es nicht durch Ironie und Fähigkeit zur Distanz abgebremst wird. Felschs Charakterskizze bleibt schwankend. Nicht selten versteckt er sich hinter scharf wertenden Urteilen anderer, die Habermas Originalität absprechen, seinen Fleiß und Ehrgeiz ebenso betonen wie die Zumutungen, die in seinem Schreibstil liegen. Lakonisch setzt Felsch die Pointe, dass es eigentlich Habermas war, der mit „seiner unpersönlichen Diktion und seinem paraphrasierenden Schreibstil […] das Subjekt im Rauschen der Diskurse verschwinden“ ließ, während die „Schönschreiber aus Frankreich“ den „Tod des Autors“ (Roland Barthes) nur verkündet hätten (S. 36). Etwas abgeschattet bleiben die bundesrepublikanischen Ideenkämpfe und die Antagonisten des Titelhelden (zum Beispiel Wilhelm Hennis, Hermann Lübbe oder Ralf Dahrendorf). Auch Habermasʼ Haltung zur Sozialdemokratie verdiente eine genauere Betrachtung, um seine sich wandelnde linke Identität vom Habilitanden bei Wolfgang Abendroth zum Verfassungspatrioten zu illustrieren.

Was bleibt von Jürgen Habermas? Diese Frage schwebt über dem gesamten Essay – und insbesondere die Schilderung des letzten Besuches in Starnberg hallt nach. Denn angesichts der aktuellen Weltlage spricht Habermas völlig desillusioniert davon, dass alles, was sein Leben ausgemacht habe, gegenwärtig verloren gehe (S. 187). Damit steht er nicht allein. Aber ist ein solcher Fatalismus die Konsequenz, die jemand ziehen muss, der zeitlebens der Kraft der Aufklärung, der Vernunft und der Theoriebildung vertraut hat? Nicht zuletzt bleibt es notwendig, über die faszinierend-angestrengte Geisteslage der alten Bundesrepublik nachzudenken, in der sich progressive Intellektuelle mit aller Macht aus der Provinz befreien und nach dem Universellen streben wollten. Habermasʼ immense Rezeptions- und Denkkapazitäten, sein Mut, sich als Stimme der Vernunft in Szene zu setzen, verdienen allerhöchsten Respekt. Gemeinsam mit den bisherigen Biographen (Rolf Wiggershaus, Matthew G. Specter, Stefan Müller-Doohm) deutet Felsch auch bei Habermas Denkwege reflexiven Lernens an. Sie betreffen das spät erwachte Interesse für Europa (hier waren seine konservativen Erzgegner schneller), das westliche Bündnis, aber auch die repräsentative Demokratie als Regierungsform insgesamt. Felschs ebenso kurzweiliges wie pointenreiches Porträt bietet vielfältige Anregungen, abseits der noch emsig praktizierenden Jüngerschar Frankfurter Provenienz das Zentralmassiv seines Werkes auch politiktheoretisch und ideenhistorisch kritisch zu würdigen.

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