C. Kemper: Männlicher Krieg und weiblicher Frieden?

Cover
Titel
Männlicher Krieg und weiblicher Frieden?. Geschlechterordnung von Gewalterfahrungen


Autor(en)
Kemper, Claudia
Reihe
Reclams Universal-Bibliothek
Erschienen
Ditzingen 2023: Reclam
Anzahl Seiten
95 S.
Preis
€ 7,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maren Lorenz, Geschichte der Frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte, Ruhr Universität Bochum

Der seit über 150 Jahren system- und generationsübergreifend vertraute Traditionsverlag Reclam will mit seiner kleinen Reihe „Was bedeutet das alles?“ auf maximal 100 Seiten „Orientierung in unübersichtlichen Zeiten“ bieten. Neben kommentierten Auszügen aus Klassikern der Philosophie von Antike bis Gegenwart stehen auch aktuelle gesellschaftspolitische Themen und zentrale Konzepte wie Bewusstsein, Gerechtigkeit, Zuwanderung, Leistungsprinzip, Glück oder Wahrheit auf der Agenda.

Die in der historischen Konfliktforschung ausgewiesene Zeithistorikerin Claudia Kemper nimmt in ihrem Essay „bipolare Geschlechtermuster“ (S. 10) im Bereich der Kriegs- und Gewaltformationen unter die Lupe, deren dichotomische Zuspitzung dem Titel zu entnehmen ist: Männer sind ihrem Wesen nach (potenziell) aggressiv und üben Gewalt aus; die von ‚Natur‘ aus friedlicheren Frauen erdulden solche; Kinder und schwächere Männer werden dieser Logik zufolge als nicht wehrhafte Opfer ebenfalls effeminiert. Indem sie die Verflechtung anthropologisierender Zuschreibungen von Geschlecht und Gewalt mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen näher beleuchtet, rückt Claudia Kemper einen Bereich ins Licht einer (hoffentlich) größeren Öffentlichkeit, der auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in den meisten globalisierten Gesellschaften – mit entsprechenden Auswirkungen – Gewaltbereitschaft bzw. -verhalten als Teil einer soldatischen oder heroischen Männlichkeit essentialisiert und zu einem Ideal erhebt. Angesichts der gerade in gegenwärtigen rechtspopulistischen bis faschistischen, aber auch fundamentalistisch religiösen Bewegungen, massiven rhetorischen und performativen Gleichsetzung von Männlichkeit und Gewaltaffinität, die vor allem bei jüngeren, offenbar extrem verunsicherten, Männern auf fruchtbaren Boden fällt, kann dieses Problem nicht klar genug benannt und beschrieben werden.

In Teilen der Sozial- und Geschichtswissenschaften wird der Konnex zwischen Geschlecht und Gewalt bereits seit den 1980er-Jahren intensiv erforscht und auf die sozialen wie auch politischen Effekte naturalisierender Zuschreibungen hingewiesen: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für männliches Gewaltverhalten werden nämlich meistens entweder völlig ignoriert oder wenigstens marginalisiert. Patriarchale Geschlechterordnungen werden auch noch im 21. Jahrhundert auf diese Weise zementiert. Die potenzielle „Gewalthaftigkeit des menschlichen Miteinanders“ (S. 9) und seine verheerenden Auswirkungen erscheinen in der Folge als unvermeidlich und somit hinzunehmen. Ein großes Verdienst des Bändchens ist es, zentrale Erkenntnisse der historischen Frauen- und Geschlechterforschung wie der feministischen Konfliktforschung in knappster Form anzureißen und die Notwendigkeit ihrer Integration in alle Politikfelder zu verdeutlichen. Denn nur wenn solche naturalisierenden Narrative aufgebrochen werden, können sie und die damit einhergehenden Machtverhältnisse verändert werden. Selbstverständlich muss eine Autorin dabei Schwerpunkte setzen, hier ist es der Fokus auf Kriegsgewalt und die generationsübergreifenden Dimensionen von Gewalterfahrung und -tradierung. So will Kemper außerdem Widersprüche bezüglich der Grenzen geschlechtsspezifisch zugewiesenen (tolerierbaren) Gewaltverhaltens und deren Vermischung mit bzw. Legitimation über Geschlechterstereotype aufzeigen.

Mit einem historischen ‚Exempel‘, beginnend mit frühneuzeitlichen Allegorien von Krieg und Frieden, über die bildhafte Darstellung männlicher Friedensdiplomatie, bis hin zur propagandistischen Inszenierung von Gewalt gegen Frauen zur Kriegslegitimation und Militarisierung der eigenen Seite, wird einleitend der tradierte Ausschluss von Frauen aus den Diskursen um Macht und Gewalt beschrieben, um die Kontinuität der medialen Instrumentalisierung und die Wirkmächtigkeit insbesondere von Visualisierungen aufzuzeigen. Das nächste Kapitel zu „Opfer und Ehrungen“ will den Aspekt des strukturellen Ausschlusses von Frauen aus der ‚hohen Politik‘ vorführen, denen durch Essentialisierung zugeschriebene „emotionale Friedfertigkeit innewohne, während Männern eher das diplomatische Verhandlungshandwerk liege.“ (S. 23) Am Beispiel der Vergabe des Friedensnobelpreises 2018 an die irakische Jesidin Nadia Murad, die den Genozid des IS überlebt hatte, beschreibt Kemper in einer längeren Passage die mediale Stereotypisierung dieser ausnahmsweise weiblichen ‚Heroin‘ mittels sprachlicher Zuschreibungen als „Opfer“ eines ‚typisch weiblichen Schicksals‘. Hier verbindet die Autorin zwar konsequent verschiedene Kategorien wie Geschlecht und Ethnisierung mit „postkolonialen Machtasymmetrien“ (S. 28), kann aber angesichts der gebotenen Kürze keine intersektionale Analyse leisten und schon gar nicht den vorher selbst aufgeworfenen Widerspruch auflösen, warum Frauen als das angeblich friedlichere Geschlecht dann nicht schon immer im Gegenteil bevorzugt für politisch diplomatische Karrieren vorgesehen wurden und werden.

Die Weitung der Perspektive auf die Eskalation von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt, deren vielfältige Formen auch in Friedenszeiten, insbesondere als sexuelle Gewalt, bereits immer präsent sind, die Bedeutung der Heteronormativität für Machthierarchien und die Frage der Definitionsmacht über Opfer- wie Täterstatus werden als zentrale gegenderte Aspekte leider nur kursorisch gestreift (S. 28–31). Das nächste Kapitel widmet sich der Frage der ‚Männlichkeit‘ moderner Armeen und der Rolle kämpfender Frauen in der Geschichte der Kriege. Hier erscheint die angeblich größere Rollenoffenheit vormoderner Gesellschaften etwas zu pointiert, denn es war ja vor allem die ständische Struktur der Vormoderne, die bezogen auf Territorialherrschaft etwas mehr Flexibilität als moderne bürgerliche Geschlechterdichotomien erzwang. Die Essentialisierung der Zweigeschlechtlichkeit funktionierte bis zur Etablierung bürgerlich rigider Rollentrennung seit der Aufklärung eben nicht primär über vorgebliche physiologische Zwänge, sondern über religiöse Legitimation – das machte die vormodernen Gesellschaften aber auch nicht weniger patriarchal und schon gar nicht gewaltärmer.

Ein weiteres Kapitel führt knapp verschiedene Beispiele für moderne Widersprüche und Tabus über das Reden über gegenderte Gewalt an, indem Frauen als Täterinnen, bundesdeutsche Debatten über Frauen als Polizistinnen oder Soldatinnen, vergewaltigte Frauen in der Kriegs- bzw. Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg und Gewalterfahrungen von KZ-Insassinnen gegenübergestellt werden. Damit leitet Kemper zum ebenfalls wichtigen Aspekt über, den transgenerationellen Auswirkungen von Gewalterfahrungen und der dadurch gehemmten tieferen Auseinandersetzung mit gewalthaften Geschlechterordnungen. Auch hier dominiert die Perspektive auf die deutsche, vor allem die bundesrepublikanische Geschichte. Vergleichsweise ausführlich werden dabei Klaus Theweleits tiefenpsychologisch argumentierende „Männerphantasien“ von 1977 aller methodischer Kritik zum Trotz als ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg der Dekonstruktion ‚hegemonialer Männlichkeit‘ vorgestellt.

Das anschließende Kapitel kehrt zur „Friedens- und Sicherheitspolitik“ zurück, einem originären Forschungsgebiet der Autorin. Das Beispiel zum UN-Programm „Women, Peace, and Security“ der 2000er-Jahre fällt darum recht umfassend aus und beschreibt die widersprüchlichen Geschlechterstereotype der zugrunde liegenden Resolution, was deren Umsetzung erschwere. Das letzte Kapitel greift verschiedene Fäden noch einmal auf und betont die hinter Geschlechterstereotypen verborgenen zentralen Machtfragen, die im Kontext von Gewalt elementare Auswirkungen in allen gesellschaftlichen Bereichen haben: Wer hat die Definitionsmacht über das, was als Gewalt gilt, über die (Il)Legitimität von Gewalt, was erfährt öffentliche Aufmerksamkeit, welche Auswirkungen ergeben sich für die Verteilung von Ressourcen aller Art? Gleichzeitig werden über genderte Gewaltdiskurse Emotionen getriggert, politische Entscheidungen beeinflusst und Feinbilder bzw. Verharmlosungen evoziert.

Es ist klar, ein solch kurzer Essay muss Schwerpunkte setzen, generalisieren, darf auch pointieren, zumal die Zielgruppe der ganzen Reihe, gerade bei diesem Thema nicht wirklich klar ist: Sollen Schüler:innen und Studierende ‚knackig‘ an ein Thema herangeführt oder Politiker:innen beim Pendelflug nach Bonn oder Berlin schnell mal sensibilisiert werden, oder soll doch in die akademische Community hinein die Relevanz der Geschlechtergeschichte demonstriert werden? Angesichts der vielschichtigen Dimension des Themas wirkt der Text – vielleicht auch unvermeidlich – eher Patchwork artig denn systematisch, erscheinen einzelne Abschnitte eher als Brainstorming, als Skizze für ein größeres Buch. Auswahl und Detailtiefe der Beispiele überzeugen nicht immer. An manchen Stellen hätte sich die Rezensentin weniger aktivistische und mehr historisch validierte Aussagen gewünscht.

Doch insgesamt ist es das Verdienst der Autorin, einem zentralen, hoch aktuellen Problemkomplex zu mehr öffentlicher Aufmerksamkeit zu verhelfen. Zweifellos hat Claudia Kemper hier ein leider oft bagatellisiertes Problem auf die Agenda gesetzt. Denn auch in modernen demokratischen Gesellschaften wird über die Naturalisierung von Geschlechterstereotypen und insbesondere die mediale Instrumentalisierung bzw. Bagatellisierung von (kriegerischer) Gewalt Politik gemacht. Darum steht zu hoffen, dass dieser Text nur der erste Aufschlag zu einer systematischen historischen Analyse der symbolischen und realen geschlechtlichen Dichotomisierung von Gewaltverhalten ist. Claudia Kemper will sensibilisieren und die Aufmerksamkeit für Verflechtungen und Machtgefälle durch ‚vermännlichte‘ Gewalt schärfen. Dies ist ihr auf jeden Fall gelungen.

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