In der universitären Geschichtswissenschaft hat man es selten mit richtig guten Geschichten zu tun. Über den Kreis des Fachkollegiums hinaus interessiert sich die breite Öffentlichkeit kaum für Befunde, Theorien und detaillierte Quellenstudien. Im Besonderen gilt dies für Dissertationen: Die Qualifikationsarbeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses drehen sich oft um Randthemen, Kleinigkeiten und Details. Obwohl der Beitrag zur Forschung durchaus substanziell sein kann, bleibt bei Leser:innen dann ein dröger Beigeschmack haften. Dafür können die Autor:innen oft nichts. Die strengen formalen Fesseln des Fachs zwingen sie dazu.
Es kommt selten vor, dass eine Dissertation ein öffentlichkeitswirksames Thema verhandelt, ansprechend im Stil ist und zugleich einen integralen Beitrag zur Forschung leistet. Sebastian Barths an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg vorgelegte Dissertation ist so ein Fall. Aber ist zu den vermeintlichen Hitler-Tagebüchern nicht bereits alles bekannt? Im Mai 1983 flog die Fälschung auf. Seither wurden Spielfilme, Dokumentationen, Podcasts und Serien darüber gemacht. Helmut Dietls Komödie „Schtonk!“ ist hier nur das berühmteste und womöglich amüsanteste Beispiel.1 Das bisherige Standardwerk zum Thema stammt von Robert Harris, einem britischen Journalisten und Schriftsteller.2 Bisher hat kein:e Historiker:in einer deutschen Universität ein umfassendes Werk nach wissenschaftlichen Standards zum Thema vorgelegt.
Auch Barths Dissertation behandelt trotz des stattlichen Umfangs von 437 Textseiten nur einen Randaspekt des Gegenstands. Ihm geht es nicht um die Groteske, die Affäre oder die Männerfreundschaft zwischen dem Fälscher Konrad Kujau und dem STERN-Reporter Gerd Heidemann als Käufer im Auftrag des Verlags Gruner + Jahr. Barth konzentriert sich auf die Mediengeschichte der gefälschten Hitler-Tagebücher.
Es kann bemängelt werden, dass im Unterkapitel 1.3, das mit „Fragestellung und Prämissen“ überschrieben ist, kein einziges Fragezeichen zu finden ist. Stattdessen ist von Rezeption und Diskurs die Rede. Erfreulicherweise folgt Barth diesem gefährlichen Pfad nicht: Er lässt sich nicht dazu verleiten, wie die alte Mediengeschichte ein historisches Ereignis „im Spiegel der Medien“ zu sehen und damit eine reine Rezeptionsgeschichte vorzulegen. Stattdessen bietet er im zweiten Kapitel eine breite historische Einordnung des STERN in die bundesdeutsche Medienlandschaft. Das Blatt galt als links, jedoch brachte Heidemann schon vor der Veröffentlichung der Tagebücher immer wieder Storys von geflüchteten, untergetauchten und vermeintlich noch lebenden Nazi-Größen ins Blatt.
Das dritte Kapitel liefert auf rund 30 Seiten eine solide und nachvollziehbare kurze Geschichte davon, wie die Bücher entstanden und zum STERN kamen. Demgegenüber werden Spezifika des Nationalsozialismus (NS)-Diskurses in den 1980er-Jahren in der Bundesrepublik nur recht knapp behandelt. Angesichts des Stellenwertes, den Barth selbst der Einordnung vor dem „Hintergrund des geschichtspolitischen Rahmens und der Diskussion über den Nationalsozialismus in den 1980er Jahren“ (S. 24) gibt, erscheint dies etwas wenig. Allerdings relativiert sich dieser Umstand durch zahlreiche Querverweise, eine breite Einbettung in die internationale Forschungsliteratur und Vergleiche im Verlauf der Arbeit.
Im vierten und vor allem fünften Kapitel kommt dann Barths methodisch-theoretischer Apparat stärker zum Tragen. Hier wird die eigentliche Frage der Arbeit behandelt: Es ist stets vom „Skandal“ um die gefälschten Hitler-Tagebücher die Rede, so auch in der Dissertation. Aber trifft dies im Lichte der sozialwissenschaftlichen Skandalforschung überhaupt zu? Der Autor verfolgt die These, dass der Begriff auf die Vorgänge anwendbar ist, und belegt dies anhand des 4-Stufen-Modells des politischen Skandals nach Karl Otto Hondrich: 1. die angenommene oder tatsächliche Verfehlung, 2. ihre Enthüllung, 3. die öffentliche Entrüstung und 4. die Konsequenzen daraus. Hinzu kommt ein chronologisches Erfassungsschema nach Steffen Burkhardt, welches Skandale in Phasen zwischen Latenz, Aufschwung, Etablierung und Abschwung unterteilt. Dem Autor gelingt es mit Hilfe dieses Instrumentariums sogar, zwei Skandalebenen klar auszumachen.
Denn in Kapitel vier beschäftigt er sich, anders als viele andere fachwissenschaftliche Publikationen, intensiv mit dem Inhalt der Tagebücher. Warum haben Historiker:innen diesen so lange gemieden, möchte man angesichts der Ergebnisse Barths fragen. Erst in jüngster Vergangenheit wurden die Inhalte aller Halbjahresbände der Tagebücher veröffentlicht.3 Sie sind eben nicht nur „Fake History“, sie sind auch ein Spiegel der Zeit. Der Autor Kujau hat seinem Hitler neben viel Nonsens, zwischen Beschwerden über Mundgeruch und Beziehungsquerelen mit Eva Braun, vor allem das in die Feder gelegt, was er dem nicht-wissenschaftlichen und bisweilen revisionistischen Diskurs zur NS-Vergangenheit in den 1980er-Jahren entnahm: Er reproduzierte dessen Merkmale wie Personalisierung – Hitler als verkannter Feldherr, Künstler und Staatsmann – , Simplifizierung – die SS als eigentlicher und alleiniger Verbrecher und Verantwortlicher für die Shoa, die von Hitler angeblich sogar eingebremst werden musste – sowie Exkulpation – wenn Hitler damit nichts zu tun hatte, dann erst recht nicht der einfache Landser. Darin bestand laut Barth die oft übersehene erste Skandalebene: Dass der STERN dieses Hitlerbild unkritisch, ja sogar willfährig replizierte und veröffentlichte, wenngleich längst andere Deutungsansätze inner- und außerhalb der Geschichtswissenschaft bestanden.
Als medienhistorische Arbeit qualifiziert sich die Studie durch das fünfte und mit rund 200 Seiten auch längste Kapitel. Inhaltlich geht es dort um eine breite Analyse der Berichterstattung über die Veröffentlichung der Tagebücher, aber auch die Veröffentlichungsstrategie des STERN. Hier wendet Barth formgetreu das Skandalschema Burkhardts an und unterscheidet klare Phasen. Dass es in der Geschichtswissenschaft nicht immer so einfach ist, wie einen die Sozialwissenschaftler glauben machen wollen, das zeigt sich hier. Die Einteilung der Phasen von Latenz bis zum Abschwung wirkt schematisch und der Leser fragt sich, ob das Schema die Analyse bestimmt oder die Analyse das Schema.
Das schmälert allerdings den Erkenntnisgewinn nicht wirklich. Wem es nicht primär um die Frage geht, wie Barth skandaltheoretisch argumentiert, der erhält hier die wohl umfassendste Betrachtung und eine kluge Analyse der Berichterstattung über die gefälschten Tagebücher. Der Autor beleuchtet Presseerzeugnisse und Rundfunkberichterstattung aus zehn Ländern. Dies verleiht der Geschichte eine transnationale Ebene, die Barth gekonnt analytisch nutzt, indem er etwa Unterschiede der Skandalisierung in bundesdeutschen und angloamerikanischen Medien herausarbeitet.
Verwirrend ist die hier und andernorts zu beobachtende Unsitte, dass Quellen und Literatur nicht in zwei gesonderten Anhängen sauber voneinander getrennt und schlicht unter „Bibliographie“ versammelt sind. Ansonsten wirkt der Quellenapparat breit und ausgewogen. Gleiches gilt für die konsultierte Literatur.
Die Leser:innen fragen sich bei der Lektüre unweigerlich: Warum ist dieses Buch nicht schon viel früher geschrieben worden, angesichts des forschungsrelevanten Themas, des öffentlichen Interesses am Gegenstand, der breiten verfügbaren Quellenbasis und nicht zuletzt der Kontaktflächen zu Kernbegriffen der Zeitgeschichte (Erinnerungskultur, Diktaturforschung, Mediengesellschaft und einige weitere)? Barth hat mit seiner Studie ein Thema beleuchtet, das bisher zwar nicht gänzlich als Desiderat, aber doch als bisher nicht umfassend historiographisch betrachtet gelten kann. Die Stärken der Studie liegen klar auf der breiten Quellenbasis. Hinzu kommt ein nachvollziehbarer methodischer Apparat, auch wenn er an manchen Stellen eine Tendenz zum Selbstzweck hat. Die eigentliche wissenschaftliche Erkenntnis versteckt sich bisweilen hinter Theoriebegriffen – wie bei vielen Dissertationen.
Der Mehrwert für die Leser aus dem Fach und von außerhalb der Geschichtswissenschaft liegt darin, aus einem gefühlten und unkritisch stets so genannten, einen nun auch nach wissenschaftlichen Standards so zu bezeichnenden Skandal auf zwei Ebenen herausgearbeitet zu haben. Das ist weit mehr, als das Gros anderer Qualifikationsarbeiten vorweisen kann.
Anmerkungen:
1 Schtonk!, Deutschland 1992. Regie Helmut Dietl, Buch Helmut Dietl und Ulrich Limmer.
2 Robert Harris, Selling Hitler. The Story of the Hitler Diaries, London 1986.
3 John Goetz (Hrsg.), Die echten falschen „Hitler-Tagebücher“. Kritische Dokumentation eines geschichtsrevisionistischen Rehabilitierungsversuchs, Berlin 2023.