„Demokratie ohne Volksbeteiligung, das ist wie Ökologie ohne Natur.“ Mit diesen Worten forderte die Grünen-Politikerin Antje Vollmer im März 1988 im „Spiegel“ eine weitere Demokratisierung ihrer noch jungen Partei. Die etablierte Parteienlandschaft und auch Teile der grünen Bewegung lebten vom Charisma einzelner Persönlichkeiten oder würden durch anonyme, bürokratisierte Parteiapparate zusammengehalten. In beiden Fällen handele es sich um „Demokratien ohne Demos (Volk)“. „Das eigentliche Subjekt“, schrieb Vollmer, „bleibt staunender und stummer Zuschauer.“ Ihre Antwort: mehr „Volksbeteiligung“, lokale Mitbestimmung, Partizipation.1
Vollmer (1943–2023) ist eine der Protagonist:innen im Buch „Sustainable Utopias. The Art and Politics of Hope in Germany“ der an der Yale University lehrenden Zeithistorikerin Jennifer L. Allen. Die Autorin verfolgt das Nachleben der basis- und radikaldemokratischen Utopien der Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre in den sozialen Bewegungen und im linksalternativen Milieu Westdeutschlands der 1970er- und 1980er-Jahre. Die beiden Dekaden zeichneten sich laut Allen durch eine Welle „unkonventioneller“ Utopien aus. Solche Utopien verbanden die Hoffnung auf eine bessere Zukunft im Unterschied zu den großen Social-Engineering-Projekten der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit mit kleinräumigen, lokalen und konkreten Zielen. Die basisdemokratische Praxis der Grünen Partei und ihre Kulturpolitik ist einer von drei Themenbereichen, die Allen genauer unter die Lupe nimmt. Die beiden anderen sind die Geschichtswerkstätten-Bewegung (mit Fokus auf West-Berlin) sowie interventionistische Kunstprojekte im Umfeld von Joseph Beuys und Gunter Demnig. Das Buch hat somit drei analytische Achsen: Politik, Wissen und Kunst. Gegliedert ist es in zwei Hauptteile anhand von zwei Zeitschnitten – in den späten 1970er-Jahren und in der Mitte der 1980er-Jahre. Zwei Kapitel entfallen auf jeden der drei Themenbereiche.
Der gemeinsame Nenner aller Kapitel ist die Hoffnung der jeweiligen Akteur:innen auf eine demokratischere Gesellschaft. Diese Hoffnung manifestierte sich mal als partizipatorische Parteienkultur (im Falle der Grünen), mal als neue Form der Wissensproduktion „von unten“ (in den Geschichtswerkstätten), mal als Kunst im öffentlichen Raum. Utopisch waren die Projekte laut Allen deshalb, weil sie sich durch eine spezifische raumzeitliche Struktur auszeichneten. Mit unterschiedlichen Mitteln versuchten alle, den öffentlichen Raum „nachhaltig“ zu verändern, sei es durch künstlerische Interventionen (wie Beuysʼ berühmtes documenta-Projekt „7.000 Eichen“ von 1982), Wanderausstellungen (wie das von der Berliner Geschichtswerkstatt organisierte „mobile Museum“) oder „Gegen-Denkmäler“ (wie Demnigs „Stolpersteine“). Die „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus zieht sich dabei als ein roter Faden durch die Fallstudien und wird damit, ohne dass die Autorin dies explizit so betont, zu einer Art negativem Initiationsmoment für die utopischen Hoffnungen im linksalternativen westdeutschen Milieu der 1970er- und 1980er-Jahre.
Die historische Utopieforschung bildet den primären Referenzpunkt des Buches. Mit Bezug auf die Arbeiten von Jay Winter2 und anderen wendet sich Allen gegen die zeitgenössische – und zum Teil auch in der Geschichtswissenschaft bis heute fortgeschriebene – Rede vom „Ende der Utopien“ in den 1970er-Jahren. Stattdessen beschreibt sie die beiden Dekaden vor dem Fall des Eisernen Vorhangs als eine Zeit enormer utopischer Aktivität. Dass diese in der historischen Forschung häufig nicht als solche erkannt wurde, liege an der Unscheinbarkeit und Kleinmaßstäblichkeit der damaligen Utopien: „At that heart of many such revisionist utopias lies an immanent practical component. These are utopias not of ends but of means. Their programs do not deal with the construction of castles in the sky, static places that one builds once and for all time. Rather, they embrace as their telos ongoing action.“ (S. 17) Allen schlägt hierfür den Begriff „nachhaltige Utopien“ vor. Derartige Utopien zielten darauf ab, Gesellschaft an konkreten Orten dauerhaft zu demokratisieren.
In der historischen und soziologischen Forschung kursieren bereits etliche Begriffe, mit denen diese spezifische Form „kleiner“ Utopien umschrieben wird – „minor utopias“, „real utopias“, „realistic utopias“, „critical utopias“, „grounded utopias“. Ob sich der Begriff der „nachhaltigen Utopien“ einbürgern wird, bleibt abzuwarten. Allen gelingt es aber, ihren Terminus mit Leben zu füllen und ihn für die historische Analyse fruchtbar zu machen. Darüber hinaus ermöglicht es der Begriff, unterschiedliche Stränge der Geschichtsschreibung miteinander ins Gespräch zu bringen, die bislang meist getrennt sind: die Politikgeschichte, die Geschichte sozialer Bewegungen und des Alternativmilieus, die Wissenschaftsgeschichte sowie die Kunstgeschichte. Allen bewegt sich dabei auf beeindruckende Art und Weise durch die Fülle von einschlägiger deutschsprachiger, angloamerikanischer und zum Teil auch französischer Literatur, ohne ihre Fallstudien historiographisch zu überfrachten. Nach der Lektüre des 240 Seiten langen Haupttextes entsteht vor den Augen der Leser:innen das komplexe und gleichzeitig konzise Bild eines utopischen Aufbruchs inmitten der Krisen der 1970er-Jahre.
Die Stärke des Buches liegt hierbei in der kompositorischen Virtuosität der Autorin. Die Auswahl der Fallstudien mag stellenweise, gerade aus deutschsprachiger Sicht, etwas erwartbar sein; originell ist jedoch, wie Allen sie miteinander verknüpft. Es gelingt ihr, einen pointierten Beschreibungsmodus zu finden, der eine produktive Spannung zwischen den Analyseebenen Politik, Wissen und Kultur erzeugt. Sie lässt nicht nur die Geschichte „nachhaltiger Utopien“ anders und breiter denken, sondern auch ein Metathema des Buches: die Geschichte politischer Partizipation in (West-)Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Statt sich dabei auf die etablierten Modi demokratischer Praxis zu beschränken – Wahlen, Parteien, organisierte Interessengruppen –, kartiert Allen den Bereich partizipatorischer politischer Kultur. Dies korrespondiert mit einem erweiterten Politikbegriff der sozialen Bewegungen seit den 1960er-Jahren, die verstärkt „vorpolitische“ soziale Räume adressierten: Medien, Wissen(schaft), Kunst, Körper.
Bei der Breite der in dem Buch angeschnittenen Themen ist es wenig verwunderlich, dass viele Zusammenhänge außen vor bleiben. So erwähnt Allen selbst in der Einleitung und der Schlussbetrachtung auffällige, „metapolitische“ Entwicklungen innerhalb der Neuen Rechten seit den 1970er-Jahren, die aber (leider) nicht Gegenstand der Analyse sind. Insgesamt ist dies ein Buch über das in den letzten Jahren intensiv erforschte bürgerlich-alternative Milieu Westdeutschlands3, wobei trotz aller Rhetorik „von unten“ am Schluss doch gut etablierte und herausragende Künstlerpersönlichkeiten (Beuys, Demnig & Co.) wie auch universitätsnahe Formen der Wissensproduktion im Zentrum stehen. Migrantische Milieus kommen in dem Buch praktisch nicht vor, und Gleiches gilt für Parallelentwicklungen in der DDR4, die abgesehen von einigen kurzen Verweisen auf die ostdeutsche Alltagsgeschichte und Volkskunde in der Studie abwesend ist. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive sticht zudem die Beschränkung auf die Geisteswissenschaften ins Auge. Ähnliche Formen wie in den Geschichtswerkstätten entwickelten sich zeitgleich in den „alternativen“ Naturwissenschaften und der Medizin. Besonders im Umfeld der Frauen- und Umweltbewegung entstand ebenfalls eine partizipatorische Wissensproduktion „von unten“. Allein schon der insgesamt erstaunlich unterreflektierte, titelgebende Begriff der „Nachhaltigkeit“ hätte dazu eingeladen, den Wissenstransfers aus den Naturwissenschaften ins linksalternative Milieu mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die eingangs zitierte Formel von Antje Vollmer – „Demokratie ohne Volksbeteiligung, das ist wie Ökologie ohne Natur“ – wäre ein typisches Beispiel hierfür.
Diese Liste ließe sich noch erweitern, würde aber sowohl am Anspruch als auch an der Leistung von Jennifer L. Allens „Sustainable Utopias“ vorbeizielen: Das Buch will gar kein Kompendium zu allen Facetten utopischer Kultur im (West-)Deutschland der 1970er- und 1980er-Jahre sein, sondern man kann es als Einladung verstehen, diese Kultur in ihren Verbindungen mit Kunst und Politik jenseits historiographischer Spezialisierungen und Denkschablonen neu zu betrachten.
Anmerkungen:
1 Antje Vollmer, „Die Grünen brauchen eine Kulturrevolution“, in: Spiegel, 14.03.1988, S. 43–45, hier S. 45, https://t1p.de/spiegel_vollmer (09.04.2024).
2 Jay M. Winter, Dreams of Peace and Freedom. Utopian Moments in the Twentieth Century, New Haven 2006.
3 Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.
4 Christina Morina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren, München 2023, besonders Kap. 2 und 3.