J.-D. Delle Luche: Des amitiés ciblées

Cover
Titel
Des amitiés ciblées. Concours de tir et diplomatie urbaine dans le Saint-Empire, XVe-XVIe siècle


Autor(en)
Delle Luche, Jean-Dominique
Reihe
Studies in European Urban History (1100–1800)
Erschienen
Turnhout 2022: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
382 S.
Preis
€ 96,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irina Dudar, Institut für Kunstgeschichte, Universität Bern

Jean-Dominique Delle Luches Dissertation wurde 2015 unter dem Titel „Le plaisir des bourgeois et la gloire de la ville. Sociétés et concours de tir dans les villes du Saint-Empire, XVe et XVIe siècles“ am Deutschen Historischen Institut in Paris mit über 1.200 Seiten zweibändig eingereicht und liegt nun seit 2022 in verkürzter Form als Monografie vor. Der Autor befasst sich mit einem zwar in etlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen aufgearbeiteten Phänomen (etwa der historischen Sportwissenschaft1, der Altgermanistik oder Linguistik2), welches bis dato jedoch noch nie systematisch erschlossen wurde: Wettschießen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit im Heiligen Römischen Reich. Er rahmt diese als Überwindungsstrategie von Städten und Individuen gegen urbane und konfessionelle Konflikte.

Bei den concours de tir handelte sich um Wettschießen, bei denen Schützen über lokale Grenzen hinaus städtischen Einladungen folgten. Delle Luche reflektiert diese jenseits des eigentlichen Wettkampfes anzusiedelnden Großereignisse durch seine chronologische Gliederung, indem er der Festivität von extensiver temporaler Bedeutung insgesamt Rechnung trägt: die Organisation (Kapitel 1), die Einladungen (Kapitel 2), die Vorbereitungen der einladenden Stadt bzw. der Empfang (Kapitel 3), das Wettschießen (Kapitel 4), die Divertissements (Kapitel 5) und schließlich die Verewigung der Schießen und Spiele durch Schriftzeugnisse und materielle Kultur. Zu seinen ausgewerteten Quellen sind die in der Forschung bereits oftmals verwendeten Ratsprotokolle, Chroniken und Schützenbriefe zu zählen, aber auch die selten herangezogenen Register und Gedichte der Pritschenmeister, die als mittelalterliche „Animateure“ begleitend zu den Wettspielen auftraten.

Im ersten Kapitel werden die Voraussetzungen für das Ausschreiben eines Wettschießens eruiert, denn nicht jede Gelegenheit war günstig, um gegeneinander anzutreten. So wurden bereits organisierte Schießen aufgrund von Krieg, Hungersnot oder Epidemien abgesagt, manche wurden hingegen lediglich um ein paar Tage verschoben. Bislang wurden Wettschießen als eigenständige, exklusiv für sich selbst ausgerichtete Veranstaltungen erforscht. Delle Luche zeigt, dass sie oftmals mit merkantilen Großereignissen zusammenfielen. Auch legt er Wert auf ungewöhnliche Phänomene bei der Organisation des Festes, wie zum Beispiel den Stellenwert neuer Städte, die sich als Veranstaltungsorte von Schützenfesten etablieren wollten.

Im zweiten Kapitel untersucht Delle Luche die erforderliche Kommunikation zwischen den Städten und Dörfern, die vonnöten war, um ein solches Ereignis stattfinden zu lassen – neu ist hier seine Aufarbeitung deskriptiver Quellen, die Aussagen über den Vertrieb der Einladungen und Kommunikationsstrategien aufdecken. Sodann zeigte sich auch, dass die etwa 700 überlieferten Schützenbriefe nicht zwingend versandt wurden, sondern sich in chronikalischen Berichten als eingeklebte „Belege“ erhalten haben.

Sehr eindrücklich zeugen Berichte vom diplomatischen Kalkül, über das die einladenden Städte verfügen mussten, wenn es um die Einzuladenden ging. Wen man ein- und ausschloss und welche Konsequenzen ein Ausschluss hatte, musste wohlüberlegt sein. Oftmals spielte die Reichsunmittelbarkeit der Städte ebenso wie ihre territoriale Zugehörigkeit oder Nähe zur ausrichtenden Stadt eine Rolle. Dass neben den intentionalen Ausschlüssen auch Unfälle das Erreichen einer Einladung verhindern konnten, beleuchtet Delle Luche ebenfalls. Unbekannt war vor allem in der Forschung, dass zwischen der Einladung und dem tatsächlichen Wettschießen nur wenige Tage vergehen konnten. Bisher galten solche Schießen als hochgradig kompliziert zu organisierende Festivitäten. Wünschenswert wäre gewesen, neben der Organisation und Verschickung der Schützenbriefe, den Aspekt des Vorlesens durch die Boten sowie den Ort des Verlesens der Briefe zu beleuchten, damit diese die erwünschte Reichweite erzielen konnten.

Im dritten Kapitel zu Gastgeberorten und ihren geladenen Gästen betrachtet Delle Luche zum einen den in der Forschung häufig vernachlässigten rechtlichen Rahmen der Mobilität, zum anderen beschreibt er die Organisation der Austragung mit der Wahl und Aufbereitung des Austragungsortes, die logistischen und ökonomischen Bedingungen von Logement und Verpflegung sowie die symbolische Bedeutung standesgemäßer Unterbringung von adligen Gästen.

Delle Luche konnte erstmals die im Kontext königlicher Itinerarien lang bekannte diplomatische und symbolische Bedeutung der Reiserouten auch für die Teilnehmer der Wettschießen aufzeigen. Der Hin- und Rückweg der Schützen konnte beispielsweise abweichen, wenn auf dem Rückweg andere Etappen-Städte besichtigt wurden (oder diese dies systematisch erwarteten). Die Pflege urbaner Netzwerke spielte dabei ebenso eine Rolle wie der Transport gewonnener Preise, weshalb die Entsendung und Ausstattung der Schützen politisch bestimmt wurde und auf Konkurrenz und Bündnisbeziehungen sowie den Rang bestimmter Städte hinwies.

Im vierten Kapitel beschreibt Delle Luche die Regeln und sportlichen Aktivitäten des Wettschießens und die daraus hervorgehende Zusammenkunft der Schützen. Er weist auf in den Schützenbriefen überlieferte Besonderheiten der mit der Unterbringung einhergehenden Jurisdiktionszuständigkeit bei Rechtsverletzungen hin. Externe Gäste sollten sich nicht auf die eigenen Instanzen berufen können, sondern sich denen der jeweiligen Stadt, in der sie verweilten, unterwerfen. Dass es den Städten dennoch maßgeblich an der Zufriedenheit aller Schützen lag, macht die Bedeutung der Nachschüsse deutlich, die den mit den Ergebnissen unzufriedenen Schützen eine weitere Chance einräumten.

Im fünften Kapitel beschreibt Delle Luche die sogenannten Divertissements, die neben den Schießen ausgetragen wurden. Im Besonderen zu unterstreichen sind die von der Forschung bislang vernachlässigten Randgruppen, wie etwa die Arbeiter:innen oder auch die diskriminierten Bauern und Prostituierten. Wenngleich diese nicht unmittelbar an den Schießen partizipierten, wurden sie während der Austragung der Spiele von den Schützen gedemütigt und bedroht.

Insbesondere das letzte Kapitel zeugt von einem konstruktiven Denken Delle Luches über das Schießen hinaus, da es die Erinnerungssicherung durch Dokumentation fokussiert. Dazu gehört auch ein Kapitel zu kommemorativen Münzen, die Delle Luche als konkurrierendes Medium versteht. Städte mit vielen zirkulierenden Münzen innerhalb verschiedener Städte des Reichs, die vom erfolgreichen Wettschießen zeugten, konnten sich so besonders profilieren. Von Bedeutung ist dieser Fokus insbesondere aufgrund des in den schriftlichen Quellen hervortretenden Interesses der Individuen am Schießen als Gruppe, wenn sie ihre Stadt repräsentierten. Dann war der gemeinsame Auftritt im gleichen Ornat von besonderer Wirkmacht, der ebenjene Dynamik zwischen Repräsentation der Städte in fremden Städten und der politischen Freundschaftspflege durch die Teilhabe an den Schießspielen an die Oberfläche treten ließ.

Delle Luche legt ein Grundlagenwerk zu Schützenfesten im Heiligen Römischen Reich vor, welches die lokalen Wettbewerber als Akteure den fremden Schützen gegenüberstellt, um Dynamiken in ihrer Interaktion in den Fokus zu rücken. So kann er überzeugend darlegen, dass die Schießen als politische, wirkmächtige und vor allem freundschaftliche Kraft zwischen Städten einzuordnen sind, die in Fällen von Konflikten reaktiviert werden konnten. Delle Luche zeigt darüber hinaus Sensibilität für methodische Ansätze und Definitionen aus der Anthropologie und Sozialwissenschaft, die er vor allem in Einleitungen und Schlussfolgerungen nutzt, um das Wettschießen und die flankierenden Spiele damit in einen forschungsgeschichtlichen Kontext zu stellen.

Delle Luche nutzt in der Einleitung leider nicht die Gelegenheit, die interurbanen Wettschießen von den städtischen Vogelschießen abzugrenzen, obwohl die Quellenbegriffe (schiessen, schießspiel, gesellschaft des schiessens) durchaus identisch sein konnten und oftmals zur Verallgemeinerung aller Schießtätigkeiten durch den Sammelbegriff „Schützenfest“ geführt haben. Dies gilt ebenfalls für den Begriff „Gesellschaft“, der hier eine Zusammenkunft von Individuen meint, nicht eine institutionalisierte Vergesellschaftung, wie es wiederum die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schützengesellschaften mit oftmals angegliederten Bruderschaften waren.

Äußerst positiv hingegen fällt die Betrachtung der materiellen Kultur der Schützen auf, die die Farben der Banner oder das Aussehen der Wasserbrunnen einschließt, welche die Arbeit für andere Fächer anschlussfähig macht.

Die kleinteilige Untergliederung der Kapitel ist zwar mühsam (da sie nicht durch Nummerierung differenziert wird, sondern durch kaum unterscheidbare Schriftgröße), bietet aber Akzente auf Untersuchungsfelder, die Delle Luche von der bisherigen Forschung absetzen. Nicht nur Arbeitnehmer:innen während der Feste, sondern auch rechtliche Fragen der Mobilität, die Bedeutung des Pritschenmeisters oder auch die Entscheidungsfindung der Räte, zu welchen Festen sie ihre Schützen schicken sollten, sind für die Forschung komplett neu erschlossen worden. Damit legt er eine Arbeit vor, die durch die breite Auffächerung verschiedener Aspekte des Wettschießens auf den historischen Gesamtkontext ausgerichtet ist und damit Bereiche abdeckt, die in der Forschung bisher entweder falsch kontextualisiert oder gar nicht erst beachtet wurden.

Anmerkungen:
1 Allen Guttmann, Vom Ritual zum Rekord. Das Wesen des modernen Sports (Reihe Sportwissenschaft. Ansätze und Ergebnisse 14), Schorndorf 1979; siehe auch Thomas Schnitzler, Zur Leistungsquantifizierung im spätmittelalterlichen Schützenwesen, in: Norbert Schulz / Ilse Hartmann-Tews (Hrsg.), Frauen und Sport (Brennpunkte der Sportwissenschaft 4,2), Sankt-Augustin 1990, S. 243–256.
2 Marcus Ostermann hat Schützenbriefe als Quellengattung in ihrer Textstruktur sowie ihre informierende Funktion für Schützen aus der gesamten Region, in deren unterschiedlichen volkssprachlichen Fassungen mit identischem Inhalt untersucht, siehe Marcus Ostermann, Vmb kurczweil vnd schiessens willen: zu den gedruckten Schützenbriefen des 15. Jahrhunderts, in: Volker Honemann u.a. (Hrsg.), Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, Tübingen 2000, S. 397–443.

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