„Yes, we can!“ – dies mag über der Biographie Lincolns stehen, die jüngst vom Tübinger Nordamerika-Historiker Georg Schild vorgelegt worden ist. Wir – soll heißen, einige Angehörige der deutschen Fachzunft – verstehen es, eindrucksvoll Lebensbeschreibungen amerikanischer Persönlichkeiten zu entwerfen. Schild ist sicherlich einer von ihnen. In sieben Kapiteln berichtet er über Abraham Lincoln und die Schicksalsjahre der USA. Gemeint ist der Bürgerkrieg 1861-1865. Zunächst reflektiert Schild die Gründe des kommenden Bruderkrieges und gibt einen Überblick über die politische Lage im Land. Die Vorgeschichte ist recht detailreich und auf die Bedeutung der Sklaverei fokussiert.
Erst im zweiten Kapitel wird Lincoln ins Geschehen eingebunden. Seine frühe politische Karriere und seine erste Tätigkeit als Anwalt stehen im Vordergrund. Der junge Jurist und überzeugte Whig wurde sich sehr bald darüber bewusst, dass die Union vor einer Zerreißprobe stand. Niemand konnte eine Antwort auf die Frage geben, wie es in Zukunft um die Sklaverei im Lande bestellt sein würde. Im industrialisierten Norden wollte man sie abschaffen bzw. nicht in die neuen Territorien an der Frontier implementieren. Im Süden lagen ganze Wirtschaftszweige und Gesellschaftsideale auf den Schultern der Afro–Americans, deren Rechte kaum jemanden interessierten. Sie waren Sachgut. Und um dieses behalten zu können, war man durchaus bereit, eigene politische Strukturen zu schaffen. Wenn der Südstaatenaristokratie dies gelang, war die Verfassung nicht mehr das Papier wert, auf dem sie stand.
Unterdessen war es Abraham Lincoln gelungen, weitere Sprossen auf der politischen Erfolgsleiter emporzusteigen. Die meisten sahen ihn bereits im Weißen Haus und als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Lincolns Stellungnahme zur Sklaverei und zur Einheit der Union beschreibt Schild im dritten Kapitel, das auch die Präsidentschaftswahlen von 1860 zum Inhalt hat. Kaum konnte Lincoln diese für sich entscheiden, brachen die Südstaaten aus dem Staatenverbund heraus. Die Sezessionsdrohungen wurden Realität und führten direkt in das Gemetzel eines fünfjährigen Bürgerkrieges. Diesen beschreibt Schild im vierten Kapitel. Die Emanzipation der Sklaven schließt daran an. Im vorletzten Kapitel steht der Krieg als solcher wieder im Vordergrund. Längst ist dieser zu einem Kampf um die amerikanische Identität und Einheit geworden. Als 1865 die Waffen wieder schwiegen und die Südstaaten militärisch geschlagen waren, schien die Grundlage für ein neues politisches Miteinander geschaffen. Das Zeitalter der Reconstruction begann. Lincoln konnte diese Epoche nicht mehr mitgestalten. Er starb an den Folgen des Attentats, das am 14. April 1865 von John Wilkes Booth verübt wurde. Im siebten Kapitel weiß Schild Lincolns Vermächtnis zu illustrieren, das bis ins 21. Jahrhundert reicht. Sinnbild ist und bleibt das Lincoln Memorial am westlichen Ende der Mall in Washington D.C.
Die vorliegende Lebensbeschreibung ist sicherlich keine klassische Biografie. Aber gerade dies macht den Reiz der Lektüre aus. Geschickt bettet Schild das Leben Lincolns in die Geschichte der USA ein. So wird aus einer Lebensgeschichte eine politische Nationalgeschichte. Dies geschieht nicht zuletzt durch die Auswertung der Briefkorrespondenz des 16. Präsidenten, die erst 1947 für die Öffentlichkeit freigeben worden ist. Gerade im 20. Jahrhundert neigte man dazu, aus Lincoln einen Mythos zu machen und diesen für unterschiedlichste politische Zwecke zu instrumentalisieren. Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist Schild weit davon entfernt, solchen Ambitionen zu folgen. Vielmehr zeigt er auf, dass der Schein des Vaters der geeinten Nation auch dunkle Schatten wirft (236f.). Gleichermaßen unterstreicht er die Tatsache, dass die Erforschung des Lebens und der Politik Lincolns längst noch nicht zu einem abschließenden Ende gebracht worden ist. Der ausführliche Anmerkungsapparat und die Auswahlbibliografie bieten dem Leser genügend Ansatzpunkte für weitere Recherchen. Unterstützt wird dies durch den Kursivdruck einzelner Spezialbegriffe, die kennzeichnend für die US-Geschichte sind. Wäre das Buch eine Homepage, dann wären eben dort die Links zu anderen Themengebieten zu finden. Wer Udo Sautters „Lexikon der amerikanischen Geschichte“ oder Jürgen Heidekings „Geschichte der USA“ zur Hand nimmt, kann in diesem Sinne von Schwerpunkt zu Schwerpunkt wechseln.1
Nicht immer kann der Leser erkennen, ob Schild für Fachkollegen oder eine interessierte Leserschaft schreibt. Erstere möchten auf jeden Fall mehr über den Lincoln-Attentäter erfahren. Gleichermaßen wird man fragen, warum einzelne englische Termini ins Deutsche übersetzt wurden – andere wiederum nicht. Freilich ändert dies kaum etwas an der hohen Qualität der Darstellung, die durch eine Auswahl von Fotografien und Karten anschaulich ergänzt wird.
Schild legt mit der Biografie Lincolns eine überaus lesenswerte Gesellschaftsgeschichte für das 19. Jahrhundert vor, die sich von anderen bisher publizierten Werken abhebt. Die Lebensbeschreibung ist ein weiterer Beweis für seine ausgewiesene Fachkenntnis, die sich über sozialgeschichtliche und außenpolitische Aspekte der USA im 19. und 20. Jahrhundert erstreckt.
Anmerkung:
1 Jürgen Heideking / Christof Mauch, Geschichte der USA, 6. Auflage Stuttgart 2008 (1. Auflage 1996); Udo Sautters, Lexikon der amerikanischen Geschichte, München 1997.