Enzo Traverso, Professor für Politik in Amiens, ist hierzulande kein Unbekannter. Mit Büchern wie „Die Marxisten und die jüdische Frage“ (1995) oder „Auschwitz denken: die Intellektuellen und die Shoah“ (2000) hat er beachtenswerte Überlegungen zur Debatte um Nationalsozialismus, Moderne und Gewalt beigetragen. Und auch sein neuestes Buch, das trotz seines Untertitels nur wenig mit jenem unseligen Band von Ernst Nolte zu tun hat, versucht auf interessante Weise, sich der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts zu nähern. Denn entgegen jenen historischen Erzählungen, die auf die Vollendung europäischer Geschichte im Westen zielen, handelt Traversos Buch von den Katarakten und Katastrophen, von Revolutionen und Konterrevolutionen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts.
Gleichwohl nimmt er mit dem Begriff des Bürgerkrieges eine Perspektive auf, die eine gesamteuropäische Bürgergesellschaft voraussetzt und Begriffe wie „Nation“ oder „Volk“ eher an den Rand drängt. Traverso verweist auf Carl Schmitt, um zum einen die starken Legitimationsbemühungen von Bürgerkriegsparteien zu betonen, die der eigenen Seite alles Recht der Welt zuspricht, den Gegner aber vernichtet sehen will. Zum anderen, und damit zusammenhängend, will Traverso die Bereitschaft zu extremer Gewalt im Bürgerkrieg herausstellen, die sowohl herkömmliche Staatenkriege als auch Klassenkämpfe übersteigt. Mit den Begriffen Gesetzlosigkeit, Partisanen, Heiße und Kalte Gewalt, Vernichten, Bombardieren, Entwurzeln überschreibt er folgerichtig die Abschnitte im ersten Teil „Schritte zur Tat“ seines Buches.
Mit zahlreichen, aber durchaus nicht unbekannten Beispielen aus der russischen Revolution, dem spanischen Krieg, der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik skizziert Traverso seine These vom Bürgerkrieg als Regression des Zivilisationsprozesses. Das führt zu eher flächigen Metaphern wie vom europäischen Bürgerkrieg als „Mahlstrom aus totalen Kriegen, Revolutionen, Bürgerkriegen und Völkermorden“, in dem „sich eine wilde, atavistische Gewalt mit modernen Gewaltformen wie der Technologie in den Gaskammern vermengte“ (S. 108). Abgesehen davon, dass das Hineinschütten von Zyklon-B-Kristallen in einen geschlossenen Raum kaum als moderne Technologie bezeichnet werden kann, wird hier eine Schwäche des Buches offensichtlich. Die Rede von der Moderne und der Gewalt verführt dazu, essentialistisch zu argumentieren und monistische Bewegungskräfte am Werk zu sehen oder gar als Akteure selbst auszumachen. Dann aber ordnen sich die historisch handelnden Menschen nur noch Großbegriffen zu, dienen als Komparsen und stellen nicht mehr die Protagonisten der Geschichte dar, deren widerspruchsvolles, ambivalentes und veränderliches Handeln untersucht werden soll. Traversos Kritik an der Auffassung, dass das demokratische Europa nach Krieg und Gewalt die Konsequenz des westlichen Liberalismus sei, und die Erinnerung daran, dass es nicht zuletzt die Antifaschisten waren, die daran gleichermaßen Anteil hatten, kratzt sicher zu Recht am Glanz des herrschenden Zeitgeistes, wirklich umstürzend jedoch ist sie nicht.
Im zweiten Teil „Kriegskulturen“ nimmt Traverso die Fäden des ersten noch einmal auf, schildert die Schrecken, die Angst und Gewalt der beiden Weltkriege, geht auf Geschlechterbilder ein und zeichnet die intellektuellen Debatten aus den 1920er- und 1930er-Jahren für und wider die kriegerische Gewalt nach. Das alles ist nicht verkehrt, aber auch nicht neu; man hat es schon in etlichen Büchern gelesen. Eine originelle These verbindet sich mit diesen Kapiteln nicht.
So bleibt man am Ende des Buches eigentümlich leer und unbefriedigt zurück. Gegenüber Hobsbawms großer Synthese des „Zeitalters der Extreme“ fällt es ebenso deutlich zurück wie auch im Vergleich mit dem klugen Buch von Dan Diner „Das Jahrhundert verstehen“, das zum Beispiel im Gegensatz zum europazentrierten Blick Traversos auch die koloniale Gewalt einbezieht, oder Mark Mazowers Studie über Europa als „dunklem Kontinent“, das viel stringenter gegliedert ist und vielleicht deshalb den Stoff innovativ zu bündeln in der Lage ist.1 Und auch an jene Bücher von Norman Naimark, Jacques Sémelin oder Michael Mann, die vergleichend die genozidale Gewalt des vergangenen Jahrhunderts untersucht haben, reicht Traversos Versuch nicht heran.2 So anregend seine Studien zur intellektuellen Diskursgeschichte des 20. Jahrhunderts sind, so wenig Nachhaltiges hat uns Traverso zu dessen Gewaltgeschichte zu sagen.
Am beeindruckendsten sind daher die Abschnitte der Einleitung, in der Enzo Traverso aus seinem Heimatort Gavi, einer kleinen piemontesischen Stadt erzählt, von den Massakern der Deutschen und vom Widerstand, von der Hinrichtung des deutschen Zahnarztes des Ortes nach der Befreiung und den Legenden, die sich um die Partisanen rankten, von seinem Vater, dem kommunistischen Nachkriegs-Bürgermeister, und von seinem eigenen linksrevolutionären Engagement. Wenn Traverso schreibt, dass er in diesem Buch versucht habe, „die Ursprünge einer Sprache und einer Geisteshaltung zu verstehen, die auch die meine waren“ (S. 27), dann weist er auf eine Spur, wie dieses Buch gelesen werden könnte: als persönliche Selbstvergewisserung eines linken Intellektuellen nach dem Ende von Faschismus und Kommunismus.
Anmerkungen:
1 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995; Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999; Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000.
2 Norman M. Naimark, Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004; Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde. Hamburg 2007; Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007.