HT 2023: Demokratie macht Arbeit – macht Arbeit Demokratie

HT 2023: Demokratie macht Arbeit – macht Arbeit Demokratie

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Irmela Diedrichs, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Demokratie der Arbeitswelten ist ein wichtiges Thema für die gesellschaftliche Debatte, wie KNUD ANDRESEN (Hamburg) zur Einleitung der Sektion betonte. Angesichts rechter Angriffe auf die Demokratie erscheint diese immer fragiler. Es ist auch in den Geschichtswissenschaften ein zunehmendes Interesse an den Ursachen der wachsenden sozialen und materiellen Ungleichheit in der Gesellschaft zu beobachten. Eine Demokratiegeschichte, abseits von Institutionen und Parlamenten, ist dabei auch für die Geschichtswissenschaften relevant. Die Geschichte der Arbeiter:innenbewegung und der Arbeitswelten, die Labour History, bietet Fragestellungen an, die in dieser Sektion diskutiert werden sollen: Wie demokratisch ist Arbeit strukturiert? Können Betriebe Orte der Demokratie sein? Gibt es eine Anerkennung von Würde bei der Lohnarbeit? Außerdem geht es um Fragen der Inklusion und Exklusion, um den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit, um die ungleiche Verteilung von Machtressourcen, um die verschiedenen Instrumente zur Regelung und Befriedung von Arbeitskonflikten, um das staatliche Interesse und Eingreifen sowie um die Konflikte unter den Beschäftigten.

ANNA STROMMENGER (Bielefeld) zeigte in ihrem Vortrag, wie die Arbeiter:innenbewegung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik Heimat als einen zentralen Aspekt ihres Arbeits- und Demokratieverständnisses verstand. Mit Heimat sei die Sehnsucht der Arbeiter:innenbewegung nach Zugehörigkeit zu Volk und Nation einhergegangen. Der Heimatbegriff sei in der Sozialdemokratie zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik einem Bedeutungswandel unterworfen gewesen. Auffällig sei auch der ausgeprägte Zukunftsbezug: Heimat fände die arbeitende Klasse erst im Sozialismus. Dieser Heimatbezug habe sich vom bürgerlichen Heimatverständnis abgegrenzt, das sich auf Besitz und Herkunft gründe und die Arbeiterschaft von Heimat ausschloss. Während im Kaiserreich ein sozialistisches Heimatverständnis vorherrschte, das sich aus Klassenzugehörigkeit, Solidarität und Arbeit zusammensetzte, habe die Sozialdemokratie in der Weimarer Republik mehr auf eine Anpassung an die kapitalistische und nationalverfasste Gesellschaft gesetzt.

Anhand von Zeitschriften wie „Der Wanderer“ von den Naturfreunden zeigte Strommenger, wie die Sozialdemokratie die Heimatfrage eng mit der Frage nach Teilhabe verknüpfte, die sowohl Inklusion als auch Exklusion bedeutete. In visuellen Darstellungen habe die Weimarer Sozialdemokratie eine demokratisierte Heimat präsentiert, in dem sie die Industrielandschaften und die dort lebenden Arbeiter:innen abbildete. Diese standen konträr zu den ländlichen, naturverbundenen Heimatmotiven des Bürgertums. Statt Internationalismus und Solidarität stand nun das (deutsche) Volk für das Heimatsverständnis der Sozialdemokratie, die zwar erweitert, aber nicht radikal verändert werden sollte.

In den 1950er-Jahren diskutierten deutsche Intellektuelle, wie sie die Phase des Übergangs zu einer Massengesellschaft als Chance verstehen sollten, um eine demokratische Transformation für die breite Bevölkerung zu fördern, so SEAN FORNER (Michigan). Dabei sei der männliche, weiße Arbeiter ins Auge des intellektuellen Interesses gerückt. Die Intellektuellen sähen die Teilhabe von Nichteliten an der Ausgestaltung aller Bereiche der Arbeitswelt als notwendige Bedingung einer Demokratie.

Forner stellte folgende Thesen auf: Der Manager-Mitbestimmungs-Gegensatz könne Formen der gesellschaftlichen Unfreiheit und neue demokratische Möglichkeiten ausdrücken. Die Auffassung von Mitbestimmung-als-Demokratie weise zwei Strömungen auf, die sich zunehmend trennten: Eine partnerschaftlich-statische dominierte bald die Sozialdemokratie und Gewerkschaften und eine kämpferisch-transformative, die z.B. von Theo Pirker für die Gewerkschaften vertreten wurde.

Intellektuelle hätten sich in den 1950er-Jahren während der „Europäischen Gespräche“ der Ruhrfestspiele Recklinghausen und durch die industriesoziologische Untersuchung „Arbeiter, Manager, Mitbestimmung“ des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB in die Auseinandersetzung eingebracht. Sie hätten eine subjektive Kraft der Arbeiter ihr Leben zu gestalten erkannt. Der Betrieb habe einen Ort dargestellt, an dem die Arbeiter Solidarität praktizieren könnten, aber auch die Entfremdung von ihrer Arbeit erleiden würden, die von Managern gesteuert worden sei. Die Manager seien unentbehrlich in der modernen Industriegesellschaft – müssten aber eingegrenzt werden. Mit einem Kurswechsel ab Mitte der 1950er-Jahre, in der Wahlen statt Streiks die politischen Auseinandersetzungen bestimmten, sei es zu einer Entradikalisierung gekommen.

ANNE KREMER (Mannheim) referierte über die Gleichberechtigungsvorstellungen der sich vereinigenden Industriegewerkschaft Metall in den 1990er-Jahren. Sie betrachtete einen gesellschaftlichen Kontext, in dem in der BRD das Ernährer/Hausfrauen (bzw. Zuverdienerinnen) -Modell prägend war und in der DDR das Doppelverdiener:innen-Modell (mit weiblicher Verantwortung für die Care-Arbeit) propagiert wurde. In beiden Fällen trugen Frauen die Verantwortung für die häusliche Arbeit. Die IG Metall habe sich für Gleichberechtigung von Mann und Frau eingesetzt. Der Mauerfall und der Beitritt ostdeutscher Frauen in die Metallgewerkschaften brachten jedoch eine neue Realität mit sich: Aus westlicher Sicht böten die Erfahrungen ostdeutscher Frauen eine neue Chance auf Gleichberechtigung. Zugleich fürchteten ostdeutsche Frauen einen Verlust ihrer ökonomischen Unabhängigkeit in der deutschen Einheit. Zudem zeigte sich, so Kremer, dass Frauenförderung in den Gewerkschaften in Anbetracht vermeintlich größerer Probleme schwand.

Die IG Metall habe sich zwar hinter die Forderung nach freiem Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen gestellt und der Vorstand teilte die Einschätzung, dass ostdeutsche Frauen die Verliererinnen der Einheit seien. Doch zeigte Kremer anhand der Debatte um Nachtarbeit, wie die Gewerkschaft weiterhin am heteronormativen Familienideal mit dem Mann als Haupternährer der Familie festhielte.

Eine Einschätzung darüber, ob Demokratie in der kapitalistischen Arbeitswelt funktionieren kann, gab NICOLE MAYER-AHUJA (Göttingen) unter Einbezug historischer Entwicklungen seit den 1920er-Jahren, über die 1985er-Jahre bis heute. Sie zeigte das Spannungsverhältnis auf, in dem die zwei Prinzipien Kapitalismus und Demokratie stünden: Kapitalismus, der durch die Logik des Kapitals einen großen Einfluss darauf habe, wie sich Gesellschaft entwickele, in der eine Dynamik aus Differenz und Konkurrenz entstehe; und Demokratie, die Herrschaft des Volkes, die das Ziel von (mehr) Gleichheit verfolge. Die Arbeitswelt könne kein demokratischer Raum sein, denn hier bestimmten Besitz und Machtressourcen statt der Mehrheit (die der Arbeiter:innen). Mit dem Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung seien die Grenzen von Demokratisierung erweitert worden. Der Betriebsrat als Werkzeug dieser Partizipationsform habe jedoch nicht die Macht mitzubestimmen, sondern zu konsultieren. Er verpflichte sich auf vertrauensvolle Zusammenarbeit, was ihm die Kritik einbringe Befriedungsmaßnahmen zu treffen, wenn die Arbeiter:innenbewegung stärker werde und somit nicht die Mehrheit der Interessen der Arbeitnehmer:innen vertrete.

Durch eine kollektive Standardsetzung sollte ein größeres Maß an Gleichheit in den Betrieben hergestellt und das Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit gemindert werden. Der Höhepunkt dieser Politik sei das „Normalarbeitsverhältnis“ (NAV) gewesen, das zwar nicht für alle gegolten habe, aber Normen gesetzt hätte. Liberale und alternative Aktivist:innen hätten ab 1985 dieses Konzept kritisiert: Es habe den Zugang zur Beschäftigten von Frauen und Migrant:innen erschwert und setze auf Disziplinierung. Ihr vorgeschlagenes Alternativkonzept habe auf Flexibilisierung in der Arbeitswelt und auf die Entmachtung von alten, weißen Männern in den Gewerkschaften und der Stammbelegschaft gesetzt. Die kollektive Standardsetzung sei in ihrem Versuch mehr Gleichheit herzustellen gescheitert, so Mayer-Ahuja, und hätte zu mehr Konkurrenz und Ungleichheit zwischen den Arbeitnehmer:innen geführt. Durch eine Fragmentierung der Betriebe und prekär Beschäftigter, sei auch jenseits des NAV eine kollektive Interessensvertretung und damit einhergehend eine Absicherung schwer zu etablieren gewesen.

Mayer-Ahuja schloss mit dem Statement, dass Demokratie trotz Kapitalismus möglich ist. Dies erfordere permanente Auseinandersetzungen: Nicht der Markt treffe die Entscheidungen, sondern das Management – so könnten auch andere an den Entscheidungen beteiligt werden. Demokratisierung im Betrieb ließe sich stärken, in dem Solidarisierung gefördert und einer Fragmentierung durch Kooperation entgegengetreten würde. Bedacht werden müsse jedoch, dass Demokratisierung ein konfliktgeladener Prozess sei, der im Widerspruch zur Logik von Ungleichheit und Konkurrenz stehe.

Die Idee der Sektion entstand aus einer Diskussion im Gesprächskreis Arbeitskreis Gewerkschaftsgeschichte. Diese Zusammenarbeit war deutlich zu spüren und sorgte für eine anregende Atmosphäre während der Vorträge und der Diskussion, durch die SEBASTIAN VOIGT (München) führte.

Die Diskussion drehte sich zumeist um die Frage, ob Demokratie und Arbeit zusammen gedacht werden könnten und wie demokratische, selbstverwaltete Alternativen aussähen. Im Schlusswort erklärte MAREEN HEYING (Düsseldorf), es sei die Absicht der Veranstalter:innen gewesen, Labour History auf dem Historikertag sichtbarer zu machen. Die Fragen, welche Ein- und Ausschlüsse über Arbeit verhandelt werden, wie demokratisch ein Arbeitsort sein könne mit seinen sozialen oder hierarchischen Strukturen und ob Partizipation möglich sei, seien aus verschiedenen Perspektiven beantwortet worden. Heying schloss mit dem Fazit: Kollektive Identitäten könnten zusammenschweißen aber sich auch gegen andere richten. Zudem könnten Identitäten gegeneinander ausgespielt werden.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Knud Andresen (Hamburg) / Mareen Heying (Düsseldorf) / Sebastian Voigt (München)

Anna Strommenger (Bielefeld): Sozialistische „Heimat“ als demokratische Idee? Zwischen Exklusionserfahrung, Integrationsversprechen und der Sehnsucht nach unproblematischer Identität vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

Sean Forner (Michigan): Managertum, Mitbestimmung und Demokratie. Das Arbeiterbild des Intellektuellen im Westdeutschland der 1950er Jahre

Anne Kremer (Mannheim): Teilhabe ungeachtet des Geschlechts? Gleichberechtigungsvorstellungen der sich vereinigenden Industriegewerkschaft Metall in den 1990er Jahren

Nicole Mayer-Ahuja (Göttingen): Demokratie trotz Kapitalismus: Aktuelle Herausforderungen für (deutsche) Gewerkschaften im Umgang mit einem strukturellen Spannungsverhältnis

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