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Peter Weiss’ „Die Ermittlung“ im Kino: Sehen im Dunkeln

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Sabine Timoteo als Zeugin in „Die Ermittlung“.
Sabine Timoteo als Zeugin in „Die Ermittlung“. © Hans-Joachim AKI Pfeiffer/Leonine

Rolf-Peter Kahl hat Peter Weiss’ Stück „Die Ermittlung“ nach den Frankfurter Auschwitz-Prozessen verfilmt – und gibt dem Text die ideale, weil unsichtbare Bühne.

Eines der gefährlichsten Adjektive, mit denen der Holocaust häufig belegt wird, ist „unvorstellbar“. Der menschliche Geist kann sich eine Menge vorstellen, und die Sprache besitzt ein erstaunliches Werkzeug, um Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Aber wer ließe sie gerne an sich heran?

Peter Weiss’ Theaterstück „Die Ermittlung“ gehört zu den mächtigsten Werkzeugen, um die Gräuel von Auschwitz im Raum des Vorstellbaren zu erhalten. Am 19. Oktober 1965 wurde dieses auf den Frankfurter Auschwitz-Prozessen basierende Stück an 15 west- und ostdeutschen Bühnen sowie von der Londoner Royal Shakespeare Company zugleich uraufgeführt.

Was im Kino selbstverständlich ist, ein „deutschlandweiter Starttermin“, ist im Theaterbetrieb eine Seltenheit. Aber ebenso wie der Frankfurter Oberstaatsanwalt Fritz Bauer, der gegen viele Widerstände die von 1963 bis 1965 abgehaltenen Prozesse inszeniert hatte, wollte Weiss nicht zu einer Minderheit sprechen, sondern das öffentliche Bewusstsein erreichen. Nicht mit einer Reproduktion des Gerichtsprozesses, sondern einer künstlerischen Verdichtung, wobei er die notwendigen Mittel, die diesen entscheidenden Unterschied ausmachen, auf ein Minimum reduzierte.

Selten wird der Text komplett aufgeführt, für den Weiss, der viele Prozesstage selbst als Besucher im Gerichtssaal erlebt hatte, auf die Protokolle des Journalisten Bernd Naumann zurückgriff. Diese Verfilmung braucht in ihrer Langfassung dafür vier Stunden, eine auf 186 Minuten gekürzte Version wird den Kinos alternativ angeboten.

Peter Weiss nannte sein Stück ein Oratorium und unterteilte es in elf Gesänge. Er strukturierte sie thematisch so, dass sie dem Weg der Opfer von der Rampe bei der Ankunft bis zum Feuerofen folgen und dabei immer grausamere Aspekte der Massenvernichtung repräsentieren. Ein Richter, ein Verteidiger und ein Ankläger treffen darin auf 18 Angeklagte, weniger als im eigentlichen Prozess, aber noch immer identifizierbar. Die Aussagen Hunderter Zeugen und Zeuginnen verdichtete Weiss auf neun Zeugenfiguren. Rolf-Peter Kahls Verfilmung erweitert die Besetzung, ohne den Text zu verändern, auf 28 Zeuginnen und Zeugen, die von ihren Erlebnissen in Auschwitz berichten. Außerdem werden elf Zeuginnen und Zeugen der ehemaligen Lagerverwaltung befragt. Die Angeklagten werden aufgefordert, sich zu den Aussagen zu erklären.

Kahl folgt Weiss’ Anweisung, auf naturalistische Elemente zu verzichten, er hat keinen Gerichtsfilm gedreht, sondern eine ideale Bühneninszenierung um die Mittel des Kinos erweitert. Dabei gelingt es ihm nicht nur, den Text in aller gebotenen Eindringlichkeit erklingen zu lassen, er vermeidet auch alle emotionalisierenden Zutaten eines Hollywoodfilms wie „Das Urteil von Nürnberg“. Das Kino wird so zu einem idealen Ort der Vergegenwärtigung der grausamen Einzelheiten des Menschheitsverbrechens und der Muster ihrer Verharmlosung oder Verleugnung durch die Angeklagten. Ebenso wie Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ ist seine eigentliche Spielfläche das Unsichtbare, der Vorstellungsraum.

Derart konsequente Theateradaptionen, die auf zusätzliche Schauwerte verzichten und Verfremdungseffekte respektieren, sind in der Filmgeschichte selten. Eines der wenigen Vergleichsbeispiele ist der Defa-Film „Mutter Courage und ihre Kinder“, bei dem Manfred Wekwerth und Peter Palitzsch die Theaterinszenierung von Bertolt Brecht und Erich Engel 1961 auf die Breitwandleinwand brachten.

Selten ist das Kino bereit, sich Theaterformen unterzuordnen, dabei kann dadurch sogar eine neue Kunstform entstehen, wie Kahls Film beweist. Denn auch das Wesen des Theaters, das Tatsächliche kann ablenken. Auch die konsequenteste, antinaturalistische Theaterinszenierung kreiert ihren Überschuss an Spontaneität, Lebendigkeit, ja Anekdotischem.

Dieser Film versucht genau das zu vermeiden, und der Eindruck des konservierten Theaters schadet ihm nicht. Im Gegenteil, Kahls konzentrierte Inszenierung gibt allen Darstellerinnen und Darstellern die gleiche Aufmerksamkeit, einzelne Namen hier herauszustellen, würde dieser Ensembleleistung nicht gerecht.

Bücher klappt man zu, aber das Kino, das uns anlockt mit seiner Dunkelheit und dann mit verführerischer Bequemlichkeit in seinen Sesseln festhält, ist tatsächlich ein idealer Wirkungsort, sich der Bildkraft dieses Textes auszusetzen.

Die Ermittlung. D 2024. Regie: Rolf-Peter Kahl. 241 Min.

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