Erschienen in: C. Uzarewicz, R. Gugutzer, M. Uzarewicz,
T. Latka (Hrsg.) (2023) Berühren und berührt werden.
Zur Phänomenologie der Nähe, S. 155-171. Alber, Freiburg.
Thomas Fuchs
Die Zwischenleiblichkeit der
Berührung. Phänomenologische und
therapeutische Aspekte
1. Einleitung
Der Tastsinn ist der erste Sinn, mit dem wir der Welt begegnen,
und der letzte, der uns verlässt, wenn wir uns der Schwelle des
Todes nähern. Er gehört dem größten Organ unseres Körpers an,
nämlich der Haut, mit der wir den ausgedehntesten Kontakt mit
der Welt haben. Und er bildet die weite Sphäre der Berührung mit
ihren vielfältigen sinnlichen, sozialen, kommunikativen und eroti
schen Dimensionen.
Dennoch hat der Tastsinn in letzter Zeit eine Ära der Prohi
bition erfahren. Mit der Corona-Pandemie wurde Berührung zum
ultimativen Tabu; das Gebot des »social distancing« untersagte den
Händedruck und die Umarmung ebenso wie die berührende Pflege
alter Menschen oder die manuellen Therapien unterschiedlicher Art.
Die Pandemie hat uns einen Eindruck davon vermittelt, wie ein
Leben ohne Berührung aussehen würde, wie sehr wir die spontanen
Umarmungen, das Händeschütteln oder das Klopfen auf die Schulter
vermissen. Doch schon zuvor hatte sich in der Gesellschaft eine
Hemmung, Vorsicht und manchmal Angst gegenüber der Berührung
verbreitet – so dass etwa Elisabeth von Thadden bereits 2018 die
»berührungslose Gesellschaft« diagnostizierte.1 Die digitalen und
medialen Technologien haben wesentlich zu dieser Form des »social
distancing« beigetragen, denn besonders für Kinder und Jugendliche
wurden soziale Netzwerke zur wichtigsten Quelle sozialer Interak
tion. Nicht zuletzt hat auch die me-too-Bewegung zur Vorsicht vor
der Berührung zwischen den Geschlechtern und zu mehr Distanz
1
von Thadden 2018.
155
Thomas Fuchs
beigetragen. Die Zwischenleiblichkeit der Berührung ist nicht mehr
selbstverständlich; sie scheint sich heute rechtfertigen zu müssen.
Diese einleitenden Bemerkungen führen mich zu der Frage,
wie Berührung eigentlich Sozialität vermittelt. Was genau ist es am
Tastsinn, das ihn zum primären sozialen Sinn macht, so dass auch
der viel allgemeinere Begriff des »Kontakts« sich von ihm ableitet?
Wir sprechen von E-Mail-Kontakten, obwohl sie sicher nichts mehr
mit einer Berührung des anderen zu tun haben. Doch könnte es sein,
dass wir ohne den Tastsinn gar nicht zur Erfahrung des Anderen
gelangen würden, dass er also für unsere Sozialität konstitutiv ist?
Diesen Fragen will ich im Folgenden nachgehen. Ich beginne mit einer
allgemeinen Phänomenologie des Tastsinns, um mich dann seiner
sozialen Bedeutung zuzuwenden.
2. Allgemeine Phänomenologie des Tastsinns
Betrachten wir den Tastsinn im Verhältnis zu den anderen Sinnen,
so fällt auf, dass er als einziger die Erfahrung einer Grenze unserer
selbst vermittelt. Hören und Riechen sind gleichsam durchlässig für
die Welt; auch beim Schmecken ist es nur der Tastsinn der Zunge, der
eine Grenze zur Nahrung erzeugt. Das Gleiche gilt für den Sehsinn: Er
trifft auf Oberflächen, die aber ohne Berührung keine Erfahrung von
physischen Grenzen und Widerständen vermitteln könnten. Auch
die gesehenen Oberflächen des eigenen Körpers würden sich nicht
prinzipiell von denen anderer Objekte unterscheiden, wenn sie nicht
mit taktilen und propriozeptiven Empfindungen zusammentreffen
würden. Allein im Berühren haben wir es wirklich mit Grenzflächen
zu tun, nämlich mit dem Widerstand, den sie unserer Anwendung von
Kraft entgegensetzen, und mit ihrer Undurchdringlichkeit. Zugleich
spüren wir in jeder Berührung uns selbst, nämlich als Leib, der wir
sind, und zwar an seiner äußeren Grenze, der Haut. Der Tastsinn
ist also bipolar gerichtet: Im Berühren erfahren wir also ebenso das
Andere wie uns selbst.
Betrachten wir die Erfahrung, die Rinde eines Baumes zu fühlen.
Zum einen spüre ich dabei die Affektion meiner Hand bzw. meines
Leibes, das »pathische« Moment der Wahrnehmung, wie Erwin
156
Die Zwischenleiblichkeit der Berührung
Straus es ausdrückte.2 Nun kann ich aber durch diese Affektion meiner
tastenden Hand zugleich die Rauigkeit und Struktur der Rinde spüren.
Indem ich meine Aufmerksamkeit leicht verlagere, erlebe ich die
Affektion meiner Hand als die Oberfläche, die ich betaste.3 In Strausʼ
Begriffen wird das »pathische« zum »gnostischen«, erkennenden
Moment der Wahrnehmung. Durch mein Spüren nehme ich die
Oberfläche des Baumes wahr; und wie das Beispiel eines Blinden
zeigt, der die Braille-Schrift liest, können die Berührungen sogar
Träger von Bedeutungen werden. Der Tastsinn wird transparent nicht
nur für Oberflächen der Dinge, sondern sogar für die Semantik
von Symbolen.
Es ist die Bipolarität des Tastsinns, die die Unterscheidung von
Leib und Nicht-Leib, Selbst und Nicht-Selbst ermöglicht, und damit
auch die primäre Erfahrung der Körpergrenzen. Denn im Widerstand
der Oberflächen der Dinge zeigt sich auch der Leib selbst als begrenzt
und als seinerseits widerständig, undurchdringlich. Durch das Tas
ten konstituiert er sich selbst als materielles Ding, als Körper. Der
Tastsinn ist also auch insofern bipolar als er die Umschlagstelle
zwischen Leib und Körper bildet. In besonderer Weise vermitteln
die von Husserl4 eingehend analysierten Doppelempfindungen diese
Körperlichkeit des Leibes: Berühren wir eine Stelle des eigenen Kör
pers, z. B. die linke Hand mit der rechten, so spüren wir sie in
gleicher räumlicher Lokalisation einerseits »von innen«, tasten sie
andererseits »von außen« ab. Wir spüren die Hand als »berührt«, d. h.
zuständlich affiziert, durch das Berühren mit der anderen Hand aber
zugleich als widerständig, als gegenständlich. Fremde Oberflächen
haben diese ambivalente Qualität nicht. Das, was ich berühre und was
nicht selbst mit Empfindung reagiert, das ist von mir unterschieden.
Die Doppelempfindungen haben damit eine zentrale Funktion für
die Konstitution des Eigenleibes. Er zeigt sich in ihnen zugleich
von innen und von außen, als ein empfindendes Ding oder als ein
»subjektives Objekt«.
Straus 1966.
»Dieselbe Empfindung des Druckes bei der auf dem Tisch liegenden
Hand ‹wird› aufgefaßt einmal ‹als› Wahrnehmung der Tischfläche […] und ergibt
bei ›anderer Richtung der Aufmerksamkeit‹, in Aktualisierung einer anderen Auffas
sungsschicht, Fingerdruckempfindungen« (Husserl 1952: 146).
4 Husserl 1952: 144ff.
2
3
157
Thomas Fuchs
Die herausragende Funktion des Tastsinns für die Selbstkonstitution
zeigt sich auch in der Ontogenese. Aristoteles bezeichnet den Tastsinn
als die »ursprünglichste Wahrnehmung«, ohne die »ein Lebewesen
nicht bestehen kann«.5 Tatsächlich entwickelt er sich in der Embryo
genese als frühester Sinn:6 Bereits der 8 Wochen alte Embryo reagiert
auf Streicheln der Oberlippenregion oder der Nasenflügel mit einem
Zurückweichen des Halses und Körpers, in einem Stadium, in dem
Augen und Ohren noch nicht als Sinnesorgane entwickelt sind.7 Er
kann auch unterscheiden, ob er sich selbst tastet oder die umgebende
Gebärmutter8, und vermittels der Selbstberührung bildet er ein erstes
Körperschema aus.9 Nach der Geburt zeigt der Säugling einen Suchre
flex und sucht nach der Mutterbrust, wenn er am Mund berührt wird;
dieser Reflex erfolgt jedoch nicht, wenn man das Baby mit seinem
eigenen Finger am Mund stimuliert.10 Auch daran zeigt sich die
Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst, die der Fetus bereits in
der Schwangerschaft erworben hat. In der weiteren Entwicklung lernt
der Säugling seinen Körper immer besser kennen, indem er durch
Doppelempfindungen seine eigene von fremden Oberflächen unter
scheidet.
Nun kommt noch eine weitere zentrale Konstitutionsleistung
hinzu, die der Tastsinn vollbringt: In der Verbindung von Druck und
Widerstand, die er enthält, gründet auch unsere Erfahrung von der
Wirklichkeit der physischen Welt. Diese Einsicht findet sich bei ver
schiedenen Philosophen, etwa bei Maine de Biran, Wilhelm Dilthey,
Max Scheler, Karl Jaspers oder Hans Jonas. Die Erfahrung der Realität
machen wir, so Dilthey, in jenen Momenten, »in denen ein sinnlicher
Impuls einen Widerstand erfährt, den wir als Hemmung unserer
Absicht erleben.«11 Bei Jaspers heißt es:
»Wirklich ist, was uns Widerstand leistet. Widerstand ist, was die
Bewegung unseres Leibes hemmt, und Widerstand ist alles, was die
unmittelbare Verwirklichung unseres Strebens und Wünschens ver
hindert.«12
De Anima III: 434 b 20ff.
Bernhardt 1987.
7 Montagu 1980: 7.
8 Kravitz et al. 1978, Reissland et al. 2018.
9 Kazhipov et al. 2004.
10 Rochat/Hespos 1997.
11 Dilthey 1924: 98.
12 Jaspers 1973: 79.
5
6
158
Die Zwischenleiblichkeit der Berührung
Ausführlicher zitiere ich aus Hans Jonasʼ »Organismus und Freiheit«:
»Realität bezeugt sich primär im Widerstand, der ein Bestandteil der
Tast-Erfahrung ist. Denn physischer Kontakt ist mehr als geometrische
Berührung; er involviert Zusammenstoß. […] So ist Tasten der Sinn, in
dem die ursprüngliche Begegnung mit der Wirklichkeit qua Wirklich
keit stattfindet«.13
»Aus diesem Grunde ist Tasten die wahre Probe der Realität: ich kann
jeden Verdacht einer Illusion dadurch zerstreuen, dass ich das verdäch
tige Objekt anfasse und seine Realität an dem Widerstand prüfe, den
es meinem Verdrängungsversuch entgegensetzt. Anders ausgedrückt:
äußere Wirklichkeit kommt zur Evidenz im gleichen Akt mit der
Evidenz meiner eigenen Wirklichkeit – nämlich in transitiver Aktion
meinerseits. Im Fühlen meiner eigenen Realität durch irgendwelche
Art von Anstrengung, die ich mache, fühle ich die Realität der Welt«.14
Realitätserleben entsteht also durch Widerstand, Hemmung unserer
Wirkung durch Gegenwirkung, und an dieser Erfahrung ist der
Tastsinn primär beteiligt. Erst Druck und Widerstand erlauben uns,
die Dinge in ihrer konkreten Materialität zu spüren, ihre Undurch
dringlichkeit buchstäblich zu begreifen. Der Sehsinn ist notorisch
unzuverlässig, Illusionen und Scheinbildern wie der sprichwörtlichen
Fata Morgana in besonderem Maße ausgeliefert. Wenn wir sicherge
hen wollen, dass wir es mit der Realität zu tun haben, brauchen
wir dazu unseren Körper und all unsere Sinne. Wir müssen in den
Raum hineingehen, die Dinge anfassen, tasten, riechen, handhaben,
mit ihnen umgehen. Berührung ist mit Handlung verbunden; mit
dem Tastsinn sind wir viel aktiver als mit anderen Sinnen. Und
nur im Tastsinn treten wir buchstäblich in »Kontakt« mit der Welt.
Der Sehsinn lässt die Welt als Schauspiel, in der Distanz oder als
Gegenüber vor uns erscheinen; die Subjekt-Objekt-Trennung ist hier
verankert. »Die Tasterfahrung aber hängt der Oberfläche unseres
Leibes an, wir vermögen sie nicht vor uns auszubreiten, niemals wird
sie ganz und gar Objekt«.15
Jonas 1973: 213.
ebd. 213f.
15 Merleau-Ponty 1966: 366. Das bedeutet freilich, dass der Sehsinn der Eigenstän
digkeit der Wirklichkeit, die wir primär durch den Tastsinn erfahren, eine neue
Dimension hinzufügt: Die Tatsache, dass wir sie im Sehen auf Distanz erfahren,
liegt, wie bereits erwähnt, der Subjekt-Objekt-Trennung zugrunde und erlaubt es uns,
Objekte als solche zu begreifen, die für sich selbst existieren. Entscheidend für diese
13
14
159
Thomas Fuchs
Noch eine letzte Konstitutionsleistung können wir dem Tastsinn
zuschreiben: Die Gegenwirkung beim Tasten wirft uns auch auf uns
selbst zurück. Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass der Tastsinn
uns vom Ganzen der Welt trennt; ohne ihn würden wir immer eins mit
ihr bleiben. Das scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem
zu stehen, was zuvor über Berührung und Kontakt gesagt wurde. Tat
sächlich aber sind in jeder Grenzerfahrung Berührung und Trennung
dialektisch miteinander verbunden. Die anderen Sinne öffnen Wege
in die Welt, der Tastsinn vermittelt die Erfahrung der Trennung. Wir
tasten und werden zurückgewiesen: Es ist diese Umkehrbewegung,
das »Sich-Tasten am Anderen«, das dem Leib die Existenz einer Welt
anzeigt und in uns ein erstes Selbstbewusstsein wachruft. Dies hat vor
allem Scheler gesehen:
„ […] der primär ekstatisch erlebte Widerstand ist es […], durch den
der Triebimpuls erst bewusstseinsfähig wird. Das Bewusstwerden (und
der mit ihm verknüpfte Ich-Bezug) ist in allen den mannigfaltigen
Stufen und Graden, in denen es erfolgt, immer erst die Folge unseres
Erleidens des Widerstandes der Welt«.16
Reflexives Bewusstsein entwickelt sich im Erleiden der Grenze, also
gerade an der Körperlichkeit des Leibes, die sich von den Gegenstän
den abstößt. Dieses Sich-Abstoßen setzt einen Bewegungsimpuls
voraus, der dem elementaren Drang des Leibes bzw. seinen Triebre
gungen entspringt.
„ […] Bewusstsein wird erst in der primitiven re-flexio der Empfin
dung, und zwar stets gelegentlich auftretender Widerstände – alles
Bewusstsein gründet in Leiden und alle höheren Stufen des Bewusst
seins in steigendem Leiden – gegenüber der ursprünglichen sponta
nen Bewegung«.17
Das reflexive Bewusstsein ist also bereits in der elementaren Refle
xion angelegt, die sich im Widerstand der Dinge gegen unsere Eigen
bewegung manifestiert.
Nun sind wir dem Tastsinn in seinen elementaren konstitutiven
Leistungen gefolgt: Er ist einerseits selbstkonstituierend, nämlich
durch die Erfahrung der Selbstbegrenzung und Selbstberührung,
Objektivität ist jedoch die Konstitution gemeinsamer Objekte durch Intersubjektivität
(vgl. Fuchs 2020a).
16 Scheler 1927: 214.
17 Scheler 1976: 15.
160
Die Zwischenleiblichkeit der Berührung
andererseits realitätskonstituierend, nämlich durch die Erfahrung von
Widerstand und Undurchdringlichkeit. Ja er trägt wesentlich zur
Bewusstwerdung bei, da er uns von den undurchdringlichen Dingen
abstößt und reflexiv auf uns selbst zurückverweist. Wenden wir uns
nun der Sozialität des Tastsinns zu.
3. Phänomenologie der sozialen Berührung
Wie wir sahen, liegt es in der Dialektik der Grenze begründet,
dass der Tastsinn ebenso die Trennung von der Welt begründet wie
den ursprünglichen Kontakt mit ihr. »Berührung ist Trennung und
Verbindung zugleich«, schreibt Novalis.18 Die Bipolarität der Berüh
rung ist damit auch die Voraussetzung für ihre Wechselseitigkeit im
sozialen Kontakt. Die Berührung eines anderen Menschen bedeutet
eine leibliche Kommunikation, die besagt: Dies bin ich, und dies
bist du. Gerade indem wir uns als voneinander abgegrenzt erleben,
spüren wir einander. Diese Wechselseitigkeit und Synchronie ist das
Besondere an der Berührung im Vergleich zu den anderen Sinnen.
Während wir sehen können, ohne gesehen, hören ohne gehört zu
werden, sprechen ohne eine Antwort zu erhalten, können wir nicht
berühren, ohne gleichzeitig berührt zu werden.
Die Haut ist daher zugleich trennende und verbindende Grenz
fläche. Damit dient sie im sozialen Kontakt nicht nur als Sinnes-, son
dern auch als Ausdrucksorgan. Bestimmte dynamische, rhythmische
Tastverläufe stellen zugleich Ausdrucksqualitäten dar: langsam oder
rasch, oberflächlich oder tief, sanft oder grob, zärtlich oder unwirsch,
achtsam oder beiläufig – all diese Berührungsformen drücken auch
die emotionale Beziehung zum Gegenüber aus. Wir nutzen Berüh
rungen tagtäglich, um jemandem mitzuteilen, dass wir ihm nahe
sind, mit ihm fühlen, dass wir ängstlich, traurig, glücklich, verliebt
sind und vieles mehr. Interessant ist auch die Bandbreite der taktilen
Metaphern, die im sozialen Umgang verwendet werden: Menschen
können mit anderen »auf Tuchfühlung gehen«, von ihren Äußerungen
»gerührt« oder »ergriffen« sein; Menschen können als »dick«- oder
»dünnhäutig«, »glatt«, »weich« oder »stachelig« erlebt werden, ihr
Verhalten als »sanft« oder »rau«, »kratzbürstig« usw.
18
Novalis 1968: 293.
161
Thomas Fuchs
Doch der Tastsinn konstituiert Sozialität bereits auf einer noch
elementareren Ebene. Er lässt uns erfahren, dass wir es mit einer
anderen, lebendigen Subjektivität zu tun haben, also mit unseresglei
chen, und stellt so eine primäre Verwandtschaft mit dem Leib des
Anderen her. Berühren wir Lebendiges, so verhält es sich anders
als unbelebte Objekte, denn das Lebendige reagiert, es rührt sich
unter unserer Berührung. Eine menschliche Hand zu tasten und zu
ergreifen, fühlt sich anders an als eine Roboterhand, selbst wenn diese
sich mechanisch bewegt. Die soziale Berührung hat etwas Federndes,
Schwingendes, Resonantes. Zugleich vermittelt sie die gleiche Einheit
von Lebendigkeit und Dinglichkeit, wie wir sie schon am eigenen Leib
erfahren haben. Merleau-Ponty hat darauf hingewiesen, dass in den
Doppelempfindungen, also etwa im Berühren der linken Hand durch
die rechte, auch der Leib des anderen vorweggenommen ist:
»Indem ich erfahre, dass mein Leib ein ›empfindendes Ding‹ ist, dass
er reizbar ist – er und nicht nur mein ›Bewusstsein‹ – bin ich darauf
vorbereitet zu verstehen, dass es andere Animalia und möglicherweise
andere Menschen gibt. […] Wenn mir das Dasein eines Anderen
dadurch evident ist, dass ich ihm die Hand drücke, so deshalb, weil sie
sich an die Stelle […] [meiner] linken Hand setzt, weil mein Leib sich
dem des Anderen […] einverleibt […] er und ich sind wie die Organe
einer einzigen Zwischenleiblichkeit.«19
Die Verschränkung von Interiorität und Exteriorität, die bei der
Selbstberührung ineinander umschlagen, überträgt sich also auf die
Zwischenleiblichkeit der Berührung: Auch der andere Leib ist wie
mein eigener ein »subjektives Objekt«, das sich mir in seiner Belebt
heit zeigt, eine Einheit aus leiblichem Erscheinen und gegenständli
chem Körper. Auf dieser Grundlage kann er auch zum Medium des
Selbstausdrucks werden. Im Leib des Anderen, seinen Bewegungen
und Gesten, nehme ich zugleich sein Erleben, seine Empfindungen
und Gefühle wahr, denn sein Leib ist wie mein eigener nicht nur ein
dingliches Objekt, sondern Manifestation seines Erlebens.
Aber auch die Wirklichkeitserfahrung, die der Tastsinn vermit
telt, erstreckt sich auf den Anderen. Sich zur Begrüßung beim Hän
degeben haptisch miteinander zu verbinden, für einen Moment die
Eigensphäre zu überschreiten, ist Ausdruck einer verkörperten, nicht
nur distanzierten oder gar virtuellen Begegnung, in der wir uns
wechselseitig unserer Anwesenheit versichern. Daher wollte auch
19
Merleau-Ponty 2003: 256.
162
Die Zwischenleiblichkeit der Berührung
der ungläubige Thomas im Johannes-Evangelium den auferstandenen
Christus berühren und den Finger in seine Wunde legen. Er wollte
sicher sein, dass er es nicht nur mit einem Geist, heute würden wir
vielleicht sagen, mit einer »virtual reality« zu tun hatte, und dazu
musste er den Körper Jesu spüren; und zwar nicht nur irgendeinen
Körperteil, sondern gerade seine Wundmale, die sich als Ausdruck der
Leibgeschichte Jesu verstehen lassen, also seiner Verletzlichkeit als
eines irdisch-körperlichen Wesens.
Eine ähnliche Geschichte findet sich in der Odyssee (19, 357–
502): Als Odysseus verkleidet und unerkannt in seinen Palast zurück
kehrt, wird seine alte, blinde Amme Eurykleia damit beauftragt, ihm
die Füße zu waschen. Dabei ertastet sie an seinem Oberschenkel die
Narbe einer Wunde, die ihm als Kind von einem wilden Eber zugefügt
wurde, und erkennt ihn daran. Auch der Tastsinn hat eine Geschichte,
er bewahrt die Erinnerung an einen vertrauten Menschen; man weiß,
wie sich der geliebte Partner anfühlt, auch ohne ihn zu sehen.
Es ist kein Zufall, dass die meisten religiösen Rituale auch mit
leiblicher Anwesenheit und Berührung verbunden sind, wie z. B.
Taufe, Hochzeit, letzte Ölung oder auch die Heilungsrituale traditio
neller Kulturen. Es ist die leibliche Präsenz, die das Ritual wirksam
macht, und die Berührung des Priesters oder Heilers vermittelt die
spirituelle Kraft, die auf den Gläubigen übergeht. Schließlich sei
daran erinnert, dass der Händedruck auch dazu dient, eine Verein
barung zu besiegeln; der Handschlag bekräftigt die Verbindlichkeit
des Vereinbarten. In all diesen Phänomenen sehen wir, wie die
Zwischenleiblichkeit der Berührung eine gemeinsame Wirklichkeit
ebenso hervorbringen kann wie eine gemeinsame Geschichte.
Im Zeitalter der Digitalisierung und Virtualisierung erscheinen
uns solche zwischenleiblichen Rituale und leiblich geteilten Wirklich
keiten nur allzu leicht überholt. Dennoch bleibt jede virtuelle oder
Online-Kommunikation immer auf die Möglichkeit der realen Begeg
nung mit dem Anderen bezogen, auf die leibliche Präsenz, die letztlich
nur die Berührung vermitteln kann. Andere Sinnesmodalitäten lassen
sich digitalisieren, so dass man im Online-Kontakt beispielsweise
das Gesicht einer Person sehen und sich mit ihr unterhalten kann;
für die Berührung hingegen muss man sich zur gleichen Zeit am
gleichen Ort befinden. Virtuell kann nur die Vorstellung, berührt zu
werden, geweckt werden; es gibt keine »Telepräsenz« der Berührung
selbst. Die gegenseitige Berührung ist die ultimative Bestätigung
der gemeinsamen Realität, und sie muss zumindest als Möglichkeit
163
Thomas Fuchs
auch in leiblicher Präsenz gegeben sein, damit wir füreinander wirk
lich werden.
4. Zur Entwicklung und Psychologie der Berührung
Betrachten wir nun die Rolle der Berührung in der Ontogenese, so
werden wir sehen, wie die allgemeine Phänomenologie durch die
Entwicklung der Sozialität in der Kindheit bestätigt wird. Wie schon
erwähnt ist die Haut das primäre Sinnesorgan des Kindes; bereits im
Mutterleib spürt es den elastischen Widerstand der Gebärmutterwand
als Gegenüber oder Nicht-Selbst, an dem es seiner selbst gewahr wird.
Nach der Geburt ist diese enge taktile Umhüllung zunächst verloren;
umso mehr bedarf der Säugling des Gehalten- und Berührtwerdens,
der Nähe und Wärme der Mutter. Er spürt auch sogleich, ob er sanft,
zärtlich, fest oder gar grob angefasst wird, also die affektive oder
Ausdrucksqualität der Berührung. Die Haut wird damit zum ersten
Medium der interpersonalen Beziehung. Sie lässt den Säugling den
Widerstand und damit die Wirklichkeit der Mutter ebenso erfahren
wie ihre Zuwendung, Wärme und Zärtlichkeit.
Jede grundlegende Aktivität der Babypflege beinhaltet Berüh
rungen, wie das Stillen, Füttern, Baden, das Wechseln der Windeln,
das Streicheln und Kuscheln. Diese ständige taktile Kommunikation
ist unerlässlich für das vitale Wachstum des Säuglings ebenso wie
für seine seelische Entwicklung. Ein Mangel an Wärme und Haut
kontakt in der frühkindlichen Phase beeinträchtigt die neuronale
Differenzierung, führt zu Wachstumsretardierung und später zu Ver
haltensstörungen.20 Bereits in den 1940er Jahren erkannte René
Spitz die biologische Notwendigkeit der liebevollen Zuwendung an
institutionalisierten Säuglingen und Kleinkindern in Heimen, die
nach Trennung von der Mutter zwar mit ausreichender Nahrung und
Hygiene versorgt, aber kaum berührt und gehalten wurden. Sie gerie
ten in eine von Spitz so benannte »anaklitische Depression«, zeigten
erhebliche Verhaltensstörungen und sogar eine hohe Sterblichkeit.21
In den 1990er Jahren gab es eine Vielzahl von Forschungsarbeiten,
die die Folgen von Berührungsentzug für die menschliche Entwick
20
21
Montagu 1980: 142ff., Field 2010.
Spitz/Wolf 1946.
164
Die Zwischenleiblichkeit der Berührung
lung aufzeigten: Kinder aus rumänischen Waisenhäusern, die in den
ersten Lebensjahren kaum berührt wurden, wiesen später erhebliche
kognitive, emotionale und soziale Defizite sowie Rückstände in der
Gehirnentwicklung auf.22
Wichtige Erkenntnisse der frühen Berührungsforschung wurden
auch durch die Experimente von Harry Harlow an Rhesusäffchen in
den 60er Jahren gewonnen.23 Vor die Wahl gestellt zwischen einer aus
Draht nachgebildeten, milchgebenden Mutterattrappe und einer mit
Stoff überzogenen Attrappe ohne Milch, stillten die Äffchen viel eher
ihr Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt mit der weichen, kusche
ligen Mutter als ihren Hunger mit der Drahtmutter. In einem anderen
Experiment flüchteten die Äffchen, wenn sie mit beängstigenden
Reizen konfrontiert wurden, zur Stoffpuppe; waren sie dagegen nur
mit der Drahtpuppe aufgewachsen, dann kauerten sie sich hilflos
zusammen, erstarrten buchstäblich oder schrien und weinten. Har
lows Experimente waren aus tierethischer Sicht sicher problematisch,
doch sie belegten die zentrale Bedeutung von Berührungskontakten
in einer Zeit des vorherrschenden Behaviorismus und bildeten damit
den Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung der Bindungstheorie
auch beim Menschen.
Ein anderes bedeutsames Ergebnis der Berührungsforschung war
in den 80er Jahren die Entdeckung besonderer taktiler Rezeptoren in
der Haut, der sogenannten C-taktilen Afferenzen, die nicht wie die
sonstigen Rezeptoren auf raschen, sondern auf langsamen Hautkon
takt reagieren.24 Inzwischen ließ sich zeigen, dass diese Rezeptoren
am meisten auf eine Streichelgeschwindigkeit von 1–10 cm/sec und
sanften Druck reagieren, wie es einer zärtlichen Berührung entspricht,
also z. B. auf Streicheln, Liebkosen, Kraulen oder sanftes Massieren.25
Die Aktivierung dieser Afferenzen ist beim Berührten mit einem
leiblichen Wärme- und Wohlgefühl verbunden – sie wandeln also
gewissermaßen die mechanische Stimulation der Haut in eine sanfte,
zärtliche Berührung um, und diese wirkt bekanntlich beruhigend,
angstlösend und schmerzlindernd. Die Wirkung ist unter anderem
auch durch die Freisetzung des Hormons Oxytocin vermittelt.26 Oxy
tocin wird besonders intensiv beim Stillen, aber auch beim engen
22
23
24
25
26
Kaler/Freeman 1994, Beckett et al. 2006, Mackes et al. 2020.
Harlow/Zimmermann 1959, Harlow/Harlow 1962.
Olausson et al. 2002.
Crucianelli/Filippetti 2020.
Di Plinio et al. 2022.
165
Thomas Fuchs
Hautkontakt zwischen Mutter und Säugling bei beiden ausgeschüttet;
es fördert in besonderem Maß die Stimmung der sozialen Nähe, die
Zuwendung, Liebe und Bindung.
Weniger starke, aber im Prinzip ähnliche Wirkungen hat das
sanfte Berühren und Streicheln aber auch später. Die Umarmung
ist in fast allen Kulturen nicht nur Ausdruck von Vertrautheit, Zunei
gung, Freundschaft oder Liebe, sondern hat auch nachweislich stress
reduzierende, blutdrucksenkende und antidepressive Wirkungen.27
Die vielfältige Anwendung der Berührung in manuellen Therapien,
Massage, Körpertherapie, Osteopathie, Feldenkrais-Arbeit und vielen
anderen Verfahren beruht auf der leiblich gespürten und zugleich
physiologischen Umstimmung, die die Berührung der Haut durch den
Anderen auszulösen vermag.
Die uralte Heilkraft des Handauflegens geriet in der Neuzeit
in Vergessenheit und musste erst wieder entdeckt werden, so etwa
um 1800 durch den Wiener Arzt Franz Anton Mesmer, der durch
Berührung erstaunliche Heilerfolge erzielte und daraus schloss: »Von
allen Körpern in der Natur wirkt auf den Menschen am allerwirksams
ten der Mensch selbst.«28 In Ermangelung einer Erklärung führte
er diese Wirkung auf den sogenannten »tierischen Magnetismus«
zurück, also die elektrische Reizbarkeit von lebendigem Gewebe, die
gerade entdeckt worden war. Wir haben heute bessere physiologische
Erklärungen, die aber nichts daran ändern, dass die zwischenleibliche
Berührung immer auch etwas Magisches hat.
Zu den intensivsten Formen des Kontakts gehört natürlich die
erotische Berührung, die den gesamten Leib in Erregung zu setzen,
förmlich zu elektrisieren vermag. Der Tastsinn ist wohl überhaupt der
erotischste der Sinne. Und diese Dimension der Berührung besteht
wesentlich darin, dass dabei der eigene Leib weich wird, sich öffnet
und der streichelnden Hand des anderen hingibt – gleichsam in
Resonanz gerät wie eine Geige, die von einem Bogen gestrichen wird.
Natürlich bedarf es für die Erotik der Berührung auch der Grenze,
also des Unterschieds von Selbst und Nicht-Selbst, der aber nicht
als solcher betont und festgehalten wird, sondern sich aufhebt in der
Bewegung der Öffnung, der Resonanz und Verbindung.29
McGlone et al. 2014.
zit. n. Zweig 1931: 63.
29 In diesen Zusammenhang gehört auch die Tatsache, dass man sich bekanntlich
nicht selbst kitzeln kann, weil dabei die implizite »Vorhersage« der Wirkung der
27
28
166
Die Zwischenleiblichkeit der Berührung
Die Erotik der Berührung liegt freilich nicht nur in der besonde
ren Qualität des Tastens oder Streichelns begründet, sondern auch
in ihrer Intimität. Die Berührung der Haut stellt die bedeutsamste
Markierung in dem subtilen Gefüge von Nähe und Distanz dar, das die
sozialen Ordnungen charakterisiert. Außerhalb der familiären Bezie
hungen bedeutet die nicht nur flüchtige, sondern langsame, zärtliche
Berührung von vorne herein die Überschreitung einer Grenze, die
eine erotische Atmosphäre entstehen lässt.
Eine nächste Stufe stellt dann der Kuss dar, da das Berühren der
Lippen, erst recht der Zunge, die körperliche Distanz zwischen zwei
Menschen weitgehend aufhebt. Phänomenologisch lässt sich leicht
erkennen, warum der Kuss diese Qualität besitzt: Die Lippen sind zum
einen besonders tastempfindlich; zum anderen bilden sie gleichsam
das Tor zum Inneren des Leibes. Ihre Feuchtigkeit und Weichheit
ebenso wie ihre Nähe zum Speichel, der ersten die Nahrung auflösen
den Flüssigkeit des Körperinneren, weicht auch den Widerstand auf,
den die Haut sonst bietet. So kann der Lippenkuss auch die sexuelle
Vereinigung andeuten, die dann im Zungenkuss als Eindringen in den
Leib des Anderen vorweggenommen wird.
Der Tastsinn markiert also die Zonen der Begegnung, der Zunei
gung und des Übergangs zur Vereinigung und Verschmelzung, wie sie
zur erotischen Sphäre gehört. Auf der anderen Seite kann die Berüh
rung, sieht man einmal vom Händedruck ab, gerade wegen ihrer Inti
mität auch eine unerlaubte Grenzüberschreitung und Zudringlichkeit
darstellen. Entwürdigende und erniedrigende Behandlungen, erst
recht Vergewaltigungen oder Folter beginnen meist mit einem rohen
Anfassen der Haut, gefolgt von einer gewaltsamen Inbesitznahme des
Körpers. Die Missachtung der Körpergrenzen vollzieht sich also durch
die Umkehrung der liebevollen Berührung in ein rohes Zugreifen.
Wir bezeichnen die Würde des Menschen gleichsam beschwörend als
»unantastbar«, aber das ändert nichts daran, dass ein grobes Betasten
gerade besonders entwürdigend sein kann.30
Der Tastsinn als Sinn der Grenze und des Übergangs impli
ziert also auch immer eine soziale Ambivalenz, nämlich zwischen
liebevoller Annäherung und Kommunikation einerseits und Grenz
Eigenbewegung auf die Haut den Überraschungseffekt nicht entstehen lässt, der für
den Kitzel erforderlich ist. Auch dem Kitzeln muss man sich sozusagen »hingeben«
können, sonst entsteht nicht die vibrierende, zum Lachen treibende Empfindung auf
der Haut.
30 Fuchs 2008.
167
Thomas Fuchs
überschreitung und Intrusion andererseits. Auf diese ambivalente
Bedeutung der Berührung verweisen auch Begriffe wie »Takt« oder
»Taktgefühl« als übertragene Bezeichnungen für einen mitmenschli
chen Umgang, der das Verhältnis von Nähe und Distanz behutsam
und einfühlsam zu handhaben weiß. Solches Taktgefühl wird beson
ders bedeutsam, wenn in der Pflege alter Menschen die Berührung
Grenzen überschreitet, die wir seit unserer Kindheit nicht mehr dem
fremden Anderen preiszugeben gewohnt sind.
5. Resümee
Der Tastsinn weist eine mehrfache Polarität auf, die ihn unter allen
Sinnen als Sinn der Grenze, des Kontakts und des Übergangs aus
zeichnet. Er ist zum einen rezeptiv (er reagiert auf Kontakt), zum
anderen aktiv (er erkundet die Dinge durch Bewegung). Er ist einer
seits selbstkonstituierend, nämlich durch die Erfahrung der Selbstbe
rührung und der Selbsttätigkeit, andererseits realitätskonstituierend,
nämlich durch die Erfahrung von Widerstand und Undurchdringlich
keit. Mit dieser Erfahrung ist zugleich eine elementare Reflexion ver
bunden, die zur Selbstbewusstwerdung des leiblichen Subjekts bei
trägt.
Damit ermöglicht der Tastsinn dem Subjekt (1) Unterscheidung
und Abgrenzung vom Anderen und Fremden, (2) Selbsterfahrung
und Selbstreflexion, (3) aber auch Kontakt und Kommunikation.
In diesen ambivalenten Erfahrungen des Tastsinns manifestiert sich
grundsätzlich das charakteristische Verhältnis, welches ein Lebewe
sen zu seiner Grenze hat. Denn durch sie differenziert es sich von
seiner Umwelt und definiert sich selbst; zugleich aber tritt es durch
sie in Austausch und Kontakt mit der Umwelt. Insofern bestätigt
die phänomenologische Analyse die Aussage von Aristoteles, der
Tastsinn sei bei allen Lebewesen der ursprünglichste der Sinne.
Der Tastsinn ist schließlich aber auch konstitutiv für die mensch
liche Sozialität. Die Verschränkung von Leib und Körper in der
Doppelempfindung, die den Leib zu einem »subjektiv empfundenen
Objekt« macht, kehrt in der Berührung des anderen wieder, so
dass ich seinen Leib als subjektiv, d. h. als belebt und ausdrucksvoll
wahrnehme, ohne dass ich mir durch eine Theory of Mind, durch
Analogieschlüsse oder Projektionen erst klar machen muss, dass
ich es möglicherweise mit einem anderen Subjekt zu tun habe. Die
168
Die Zwischenleiblichkeit der Berührung
Wirklichkeit und tatsächliche Gegenwart des anderen vermittelt kein
anderer Sinn so wie der Tastsinn. Tasten und Berührung sind Aus
druck der sozialen Polarität zwischen Bezogenheit und Abgrenzung,
eine Polarität, die in Erfahrungen der intimen Nähe, aber auch der
intrusiven Grenzüberschreitung münden kann. Die intimste Form
erotischer Verschmelzung ist nur durch unmittelbaren Körperkontakt
möglich, aber umgekehrt werden auch die gravierendsten Formen
der Erniedrigung, des Missbrauchs oder der Gewalt vom berührten
Körper erfahren.
Ich erwähnte zu Beginn, dass wir, nicht zuletzt im Gefolge der
Corona-Pandemie, immer mehr in eine berührungslose Gesellschaft
zu geraten scheinen, in der digitale und mediale Technologien unsere
realen, verkörperten Begegnungen ersetzen (Fuchs 2020b). Doch
eine Gesellschaft, in der wir voneinander nicht mehr berührt und
damit nicht mehr affiziert werden, im leiblichen und zugleich im
emotionalen Sinn – eine solche Gesellschaft können wir auf die Dauer
nicht ertragen. Die virtuelle Präsenz des anderen ist, was sie ist: ein
Schein, den letztlich nur die Tasterfahrung auflösen kann. Niemand
blickt uns aus einem Smartphone an. Die virtuelle Gegenwart des
anderen kann die Zwischenleiblichkeit der Berührung nicht ersetzen.
169
Thomas Fuchs
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