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Die Zwischenleiblichkeit der Berührung. Phänomenologische und therapeutische Aspekte Einleitung

2023, Berühren und berührt werden. Zur Phänomenologie der Nähe

Der Tastsinn weist eine mehrfache Polarität auf, die ihn unter allen Sinnen als Sinn der Grenze, des Kontakts und des Übergangs auszeichnet. Er ist zum einen rezeptiv (er reagiert auf Kontakt), zum anderen aktiv (er erkundet die Dinge durch Bewegung). Er ist einerseits selbstkonstituierend, nämlich durch die Erfahrung der Selbstberührung und der Selbsttätigkeit, andererseits realitätskonstituierend, nämlich durch die Erfahrung von Widerstand und Undurchdringlichkeit. Damit ermöglicht er dem leiblichen Subjekt Unterscheidung und Abgrenzung ebenso wie Kontakt und Kommunikation. In diesen ambivalenten Erfahrungen des Tastsinns manifestiert sich zunächst das charakteristische Verhältnis, welches das Lebewesen zu seiner Grenze hat. Für den Menschen sind sie darüber hinaus Ausdruck der sozialen Polarität zwischen Bezogenheit und Abgrenzung, die Empfindungen der intimen Nähe, aber auch der intrusiven Grenzüberschreitung beinhalten kann. Diese Polarität wird phänomenologisch entfaltet und abschließend auf die Bedeutung der Berührung in therapeutischen Kontexten bezogen.

Erschienen in: C. Uzarewicz, R. Gugutzer, M. Uzarewicz, T. Latka (Hrsg.) (2023) Berühren und berührt werden. Zur Phänomenologie der Nähe, S. 155-171. Alber, Freiburg. Thomas Fuchs Die Zwischenleiblichkeit der Berührung. Phänomenologische und therapeutische Aspekte 1. Einleitung Der Tastsinn ist der erste Sinn, mit dem wir der Welt begegnen, und der letzte, der uns verlässt, wenn wir uns der Schwelle des Todes nähern. Er gehört dem größten Organ unseres Körpers an, nämlich der Haut, mit der wir den ausgedehntesten Kontakt mit der Welt haben. Und er bildet die weite Sphäre der Berührung mit ihren vielfältigen sinnlichen, sozialen, kommunikativen und eroti­ schen Dimensionen. Dennoch hat der Tastsinn in letzter Zeit eine Ära der Prohi­ bition erfahren. Mit der Corona-Pandemie wurde Berührung zum ultimativen Tabu; das Gebot des »social distancing« untersagte den Händedruck und die Umarmung ebenso wie die berührende Pflege alter Menschen oder die manuellen Therapien unterschiedlicher Art. Die Pandemie hat uns einen Eindruck davon vermittelt, wie ein Leben ohne Berührung aussehen würde, wie sehr wir die spontanen Umarmungen, das Händeschütteln oder das Klopfen auf die Schulter vermissen. Doch schon zuvor hatte sich in der Gesellschaft eine Hemmung, Vorsicht und manchmal Angst gegenüber der Berührung verbreitet – so dass etwa Elisabeth von Thadden bereits 2018 die »berührungslose Gesellschaft« diagnostizierte.1 Die digitalen und medialen Technologien haben wesentlich zu dieser Form des »social distancing« beigetragen, denn besonders für Kinder und Jugendliche wurden soziale Netzwerke zur wichtigsten Quelle sozialer Interak­ tion. Nicht zuletzt hat auch die me-too-Bewegung zur Vorsicht vor der Berührung zwischen den Geschlechtern und zu mehr Distanz 1 von Thadden 2018. 155 Thomas Fuchs beigetragen. Die Zwischenleiblichkeit der Berührung ist nicht mehr selbstverständlich; sie scheint sich heute rechtfertigen zu müssen. Diese einleitenden Bemerkungen führen mich zu der Frage, wie Berührung eigentlich Sozialität vermittelt. Was genau ist es am Tastsinn, das ihn zum primären sozialen Sinn macht, so dass auch der viel allgemeinere Begriff des »Kontakts« sich von ihm ableitet? Wir sprechen von E-Mail-Kontakten, obwohl sie sicher nichts mehr mit einer Berührung des anderen zu tun haben. Doch könnte es sein, dass wir ohne den Tastsinn gar nicht zur Erfahrung des Anderen gelangen würden, dass er also für unsere Sozialität konstitutiv ist? Diesen Fragen will ich im Folgenden nachgehen. Ich beginne mit einer allgemeinen Phänomenologie des Tastsinns, um mich dann seiner sozialen Bedeutung zuzuwenden. 2. Allgemeine Phänomenologie des Tastsinns Betrachten wir den Tastsinn im Verhältnis zu den anderen Sinnen, so fällt auf, dass er als einziger die Erfahrung einer Grenze unserer selbst vermittelt. Hören und Riechen sind gleichsam durchlässig für die Welt; auch beim Schmecken ist es nur der Tastsinn der Zunge, der eine Grenze zur Nahrung erzeugt. Das Gleiche gilt für den Sehsinn: Er trifft auf Oberflächen, die aber ohne Berührung keine Erfahrung von physischen Grenzen und Widerständen vermitteln könnten. Auch die gesehenen Oberflächen des eigenen Körpers würden sich nicht prinzipiell von denen anderer Objekte unterscheiden, wenn sie nicht mit taktilen und propriozeptiven Empfindungen zusammentreffen würden. Allein im Berühren haben wir es wirklich mit Grenzflächen zu tun, nämlich mit dem Widerstand, den sie unserer Anwendung von Kraft entgegensetzen, und mit ihrer Undurchdringlichkeit. Zugleich spüren wir in jeder Berührung uns selbst, nämlich als Leib, der wir sind, und zwar an seiner äußeren Grenze, der Haut. Der Tastsinn ist also bipolar gerichtet: Im Berühren erfahren wir also ebenso das Andere wie uns selbst. Betrachten wir die Erfahrung, die Rinde eines Baumes zu fühlen. Zum einen spüre ich dabei die Affektion meiner Hand bzw. meines Leibes, das »pathische« Moment der Wahrnehmung, wie Erwin 156 Die Zwischenleiblichkeit der Berührung Straus es ausdrückte.2 Nun kann ich aber durch diese Affektion meiner tastenden Hand zugleich die Rauigkeit und Struktur der Rinde spüren. Indem ich meine Aufmerksamkeit leicht verlagere, erlebe ich die Affektion meiner Hand als die Oberfläche, die ich betaste.3 In Strausʼ Begriffen wird das »pathische« zum »gnostischen«, erkennenden Moment der Wahrnehmung. Durch mein Spüren nehme ich die Oberfläche des Baumes wahr; und wie das Beispiel eines Blinden zeigt, der die Braille-Schrift liest, können die Berührungen sogar Träger von Bedeutungen werden. Der Tastsinn wird transparent nicht nur für Oberflächen der Dinge, sondern sogar für die Semantik von Symbolen. Es ist die Bipolarität des Tastsinns, die die Unterscheidung von Leib und Nicht-Leib, Selbst und Nicht-Selbst ermöglicht, und damit auch die primäre Erfahrung der Körpergrenzen. Denn im Widerstand der Oberflächen der Dinge zeigt sich auch der Leib selbst als begrenzt und als seinerseits widerständig, undurchdringlich. Durch das Tas­ ten konstituiert er sich selbst als materielles Ding, als Körper. Der Tastsinn ist also auch insofern bipolar als er die Umschlagstelle zwischen Leib und Körper bildet. In besonderer Weise vermitteln die von Husserl4 eingehend analysierten Doppelempfindungen diese Körperlichkeit des Leibes: Berühren wir eine Stelle des eigenen Kör­ pers, z. B. die linke Hand mit der rechten, so spüren wir sie in gleicher räumlicher Lokalisation einerseits »von innen«, tasten sie andererseits »von außen« ab. Wir spüren die Hand als »berührt«, d. h. zuständlich affiziert, durch das Berühren mit der anderen Hand aber zugleich als widerständig, als gegenständlich. Fremde Oberflächen haben diese ambivalente Qualität nicht. Das, was ich berühre und was nicht selbst mit Empfindung reagiert, das ist von mir unterschieden. Die Doppelempfindungen haben damit eine zentrale Funktion für die Konstitution des Eigenleibes. Er zeigt sich in ihnen zugleich von innen und von außen, als ein empfindendes Ding oder als ein »subjektives Objekt«. Straus 1966. »Dieselbe Empfindung des Druckes bei der auf dem Tisch liegenden Hand ‹wird› aufgefaßt einmal ‹als› Wahrnehmung der Tischfläche […] und ergibt bei ›anderer Richtung der Aufmerksamkeit‹, in Aktualisierung einer anderen Auffas­ sungsschicht, Fingerdruckempfindungen« (Husserl 1952: 146). 4 Husserl 1952: 144ff. 2 3 157 Thomas Fuchs Die herausragende Funktion des Tastsinns für die Selbstkonstitution zeigt sich auch in der Ontogenese. Aristoteles bezeichnet den Tastsinn als die »ursprünglichste Wahrnehmung«, ohne die »ein Lebewesen nicht bestehen kann«.5 Tatsächlich entwickelt er sich in der Embryo­ genese als frühester Sinn:6 Bereits der 8 Wochen alte Embryo reagiert auf Streicheln der Oberlippenregion oder der Nasenflügel mit einem Zurückweichen des Halses und Körpers, in einem Stadium, in dem Augen und Ohren noch nicht als Sinnesorgane entwickelt sind.7 Er kann auch unterscheiden, ob er sich selbst tastet oder die umgebende Gebärmutter8, und vermittels der Selbstberührung bildet er ein erstes Körperschema aus.9 Nach der Geburt zeigt der Säugling einen Suchre­ flex und sucht nach der Mutterbrust, wenn er am Mund berührt wird; dieser Reflex erfolgt jedoch nicht, wenn man das Baby mit seinem eigenen Finger am Mund stimuliert.10 Auch daran zeigt sich die Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst, die der Fetus bereits in der Schwangerschaft erworben hat. In der weiteren Entwicklung lernt der Säugling seinen Körper immer besser kennen, indem er durch Doppelempfindungen seine eigene von fremden Oberflächen unter­ scheidet. Nun kommt noch eine weitere zentrale Konstitutionsleistung hinzu, die der Tastsinn vollbringt: In der Verbindung von Druck und Widerstand, die er enthält, gründet auch unsere Erfahrung von der Wirklichkeit der physischen Welt. Diese Einsicht findet sich bei ver­ schiedenen Philosophen, etwa bei Maine de Biran, Wilhelm Dilthey, Max Scheler, Karl Jaspers oder Hans Jonas. Die Erfahrung der Realität machen wir, so Dilthey, in jenen Momenten, »in denen ein sinnlicher Impuls einen Widerstand erfährt, den wir als Hemmung unserer Absicht erleben.«11 Bei Jaspers heißt es: »Wirklich ist, was uns Widerstand leistet. Widerstand ist, was die Bewegung unseres Leibes hemmt, und Widerstand ist alles, was die unmittelbare Verwirklichung unseres Strebens und Wünschens ver­ hindert.«12 De Anima III: 434 b 20ff. Bernhardt 1987. 7 Montagu 1980: 7. 8 Kravitz et al. 1978, Reissland et al. 2018. 9 Kazhipov et al. 2004. 10 Rochat/Hespos 1997. 11 Dilthey 1924: 98. 12 Jaspers 1973: 79. 5 6 158 Die Zwischenleiblichkeit der Berührung Ausführlicher zitiere ich aus Hans Jonasʼ »Organismus und Freiheit«: »Realität bezeugt sich primär im Widerstand, der ein Bestandteil der Tast-Erfahrung ist. Denn physischer Kontakt ist mehr als geometrische Berührung; er involviert Zusammenstoß. […] So ist Tasten der Sinn, in dem die ursprüngliche Begegnung mit der Wirklichkeit qua Wirklich­ keit stattfindet«.13 »Aus diesem Grunde ist Tasten die wahre Probe der Realität: ich kann jeden Verdacht einer Illusion dadurch zerstreuen, dass ich das verdäch­ tige Objekt anfasse und seine Realität an dem Widerstand prüfe, den es meinem Verdrängungsversuch entgegensetzt. Anders ausgedrückt: äußere Wirklichkeit kommt zur Evidenz im gleichen Akt mit der Evidenz meiner eigenen Wirklichkeit – nämlich in transitiver Aktion meinerseits. Im Fühlen meiner eigenen Realität durch irgendwelche Art von Anstrengung, die ich mache, fühle ich die Realität der Welt«.14 Realitätserleben entsteht also durch Widerstand, Hemmung unserer Wirkung durch Gegenwirkung, und an dieser Erfahrung ist der Tastsinn primär beteiligt. Erst Druck und Widerstand erlauben uns, die Dinge in ihrer konkreten Materialität zu spüren, ihre Undurch­ dringlichkeit buchstäblich zu begreifen. Der Sehsinn ist notorisch unzuverlässig, Illusionen und Scheinbildern wie der sprichwörtlichen Fata Morgana in besonderem Maße ausgeliefert. Wenn wir sicherge­ hen wollen, dass wir es mit der Realität zu tun haben, brauchen wir dazu unseren Körper und all unsere Sinne. Wir müssen in den Raum hineingehen, die Dinge anfassen, tasten, riechen, handhaben, mit ihnen umgehen. Berührung ist mit Handlung verbunden; mit dem Tastsinn sind wir viel aktiver als mit anderen Sinnen. Und nur im Tastsinn treten wir buchstäblich in »Kontakt« mit der Welt. Der Sehsinn lässt die Welt als Schauspiel, in der Distanz oder als Gegenüber vor uns erscheinen; die Subjekt-Objekt-Trennung ist hier verankert. »Die Tasterfahrung aber hängt der Oberfläche unseres Leibes an, wir vermögen sie nicht vor uns auszubreiten, niemals wird sie ganz und gar Objekt«.15 Jonas 1973: 213. ebd. 213f. 15 Merleau-Ponty 1966: 366. Das bedeutet freilich, dass der Sehsinn der Eigenstän­ digkeit der Wirklichkeit, die wir primär durch den Tastsinn erfahren, eine neue Dimension hinzufügt: Die Tatsache, dass wir sie im Sehen auf Distanz erfahren, liegt, wie bereits erwähnt, der Subjekt-Objekt-Trennung zugrunde und erlaubt es uns, Objekte als solche zu begreifen, die für sich selbst existieren. Entscheidend für diese 13 14 159 Thomas Fuchs Noch eine letzte Konstitutionsleistung können wir dem Tastsinn zuschreiben: Die Gegenwirkung beim Tasten wirft uns auch auf uns selbst zurück. Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass der Tastsinn uns vom Ganzen der Welt trennt; ohne ihn würden wir immer eins mit ihr bleiben. Das scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem zu stehen, was zuvor über Berührung und Kontakt gesagt wurde. Tat­ sächlich aber sind in jeder Grenzerfahrung Berührung und Trennung dialektisch miteinander verbunden. Die anderen Sinne öffnen Wege in die Welt, der Tastsinn vermittelt die Erfahrung der Trennung. Wir tasten und werden zurückgewiesen: Es ist diese Umkehrbewegung, das »Sich-Tasten am Anderen«, das dem Leib die Existenz einer Welt anzeigt und in uns ein erstes Selbstbewusstsein wachruft. Dies hat vor allem Scheler gesehen: „ […] der primär ekstatisch erlebte Widerstand ist es […], durch den der Triebimpuls erst bewusstseinsfähig wird. Das Bewusstwerden (und der mit ihm verknüpfte Ich-Bezug) ist in allen den mannigfaltigen Stufen und Graden, in denen es erfolgt, immer erst die Folge unseres Erleidens des Widerstandes der Welt«.16 Reflexives Bewusstsein entwickelt sich im Erleiden der Grenze, also gerade an der Körperlichkeit des Leibes, die sich von den Gegenstän­ den abstößt. Dieses Sich-Abstoßen setzt einen Bewegungsimpuls voraus, der dem elementaren Drang des Leibes bzw. seinen Triebre­ gungen entspringt. „ […] Bewusstsein wird erst in der primitiven re-flexio der Empfin­ dung, und zwar stets gelegentlich auftretender Widerstände – alles Bewusstsein gründet in Leiden und alle höheren Stufen des Bewusst­ seins in steigendem Leiden – gegenüber der ursprünglichen sponta­ nen Bewegung«.17 Das reflexive Bewusstsein ist also bereits in der elementaren Refle­ xion angelegt, die sich im Widerstand der Dinge gegen unsere Eigen­ bewegung manifestiert. Nun sind wir dem Tastsinn in seinen elementaren konstitutiven Leistungen gefolgt: Er ist einerseits selbstkonstituierend, nämlich durch die Erfahrung der Selbstbegrenzung und Selbstberührung, Objektivität ist jedoch die Konstitution gemeinsamer Objekte durch Intersubjektivität (vgl. Fuchs 2020a). 16 Scheler 1927: 214. 17 Scheler 1976: 15. 160 Die Zwischenleiblichkeit der Berührung andererseits realitätskonstituierend, nämlich durch die Erfahrung von Widerstand und Undurchdringlichkeit. Ja er trägt wesentlich zur Bewusstwerdung bei, da er uns von den undurchdringlichen Dingen abstößt und reflexiv auf uns selbst zurückverweist. Wenden wir uns nun der Sozialität des Tastsinns zu. 3. Phänomenologie der sozialen Berührung Wie wir sahen, liegt es in der Dialektik der Grenze begründet, dass der Tastsinn ebenso die Trennung von der Welt begründet wie den ursprünglichen Kontakt mit ihr. »Berührung ist Trennung und Verbindung zugleich«, schreibt Novalis.18 Die Bipolarität der Berüh­ rung ist damit auch die Voraussetzung für ihre Wechselseitigkeit im sozialen Kontakt. Die Berührung eines anderen Menschen bedeutet eine leibliche Kommunikation, die besagt: Dies bin ich, und dies bist du. Gerade indem wir uns als voneinander abgegrenzt erleben, spüren wir einander. Diese Wechselseitigkeit und Synchronie ist das Besondere an der Berührung im Vergleich zu den anderen Sinnen. Während wir sehen können, ohne gesehen, hören ohne gehört zu werden, sprechen ohne eine Antwort zu erhalten, können wir nicht berühren, ohne gleichzeitig berührt zu werden. Die Haut ist daher zugleich trennende und verbindende Grenz­ fläche. Damit dient sie im sozialen Kontakt nicht nur als Sinnes-, son­ dern auch als Ausdrucksorgan. Bestimmte dynamische, rhythmische Tastverläufe stellen zugleich Ausdrucksqualitäten dar: langsam oder rasch, oberflächlich oder tief, sanft oder grob, zärtlich oder unwirsch, achtsam oder beiläufig – all diese Berührungsformen drücken auch die emotionale Beziehung zum Gegenüber aus. Wir nutzen Berüh­ rungen tagtäglich, um jemandem mitzuteilen, dass wir ihm nahe sind, mit ihm fühlen, dass wir ängstlich, traurig, glücklich, verliebt sind und vieles mehr. Interessant ist auch die Bandbreite der taktilen Metaphern, die im sozialen Umgang verwendet werden: Menschen können mit anderen »auf Tuchfühlung gehen«, von ihren Äußerungen »gerührt« oder »ergriffen« sein; Menschen können als »dick«- oder »dünnhäutig«, »glatt«, »weich« oder »stachelig« erlebt werden, ihr Verhalten als »sanft« oder »rau«, »kratzbürstig« usw. 18 Novalis 1968: 293. 161 Thomas Fuchs Doch der Tastsinn konstituiert Sozialität bereits auf einer noch elementareren Ebene. Er lässt uns erfahren, dass wir es mit einer anderen, lebendigen Subjektivität zu tun haben, also mit unseresglei­ chen, und stellt so eine primäre Verwandtschaft mit dem Leib des Anderen her. Berühren wir Lebendiges, so verhält es sich anders als unbelebte Objekte, denn das Lebendige reagiert, es rührt sich unter unserer Berührung. Eine menschliche Hand zu tasten und zu ergreifen, fühlt sich anders an als eine Roboterhand, selbst wenn diese sich mechanisch bewegt. Die soziale Berührung hat etwas Federndes, Schwingendes, Resonantes. Zugleich vermittelt sie die gleiche Einheit von Lebendigkeit und Dinglichkeit, wie wir sie schon am eigenen Leib erfahren haben. Merleau-Ponty hat darauf hingewiesen, dass in den Doppelempfindungen, also etwa im Berühren der linken Hand durch die rechte, auch der Leib des anderen vorweggenommen ist: »Indem ich erfahre, dass mein Leib ein ›empfindendes Ding‹ ist, dass er reizbar ist – er und nicht nur mein ›Bewusstsein‹ – bin ich darauf vorbereitet zu verstehen, dass es andere Animalia und möglicherweise andere Menschen gibt. […] Wenn mir das Dasein eines Anderen dadurch evident ist, dass ich ihm die Hand drücke, so deshalb, weil sie sich an die Stelle […] [meiner] linken Hand setzt, weil mein Leib sich dem des Anderen […] einverleibt […] er und ich sind wie die Organe einer einzigen Zwischenleiblichkeit.«19 Die Verschränkung von Interiorität und Exteriorität, die bei der Selbstberührung ineinander umschlagen, überträgt sich also auf die Zwischenleiblichkeit der Berührung: Auch der andere Leib ist wie mein eigener ein »subjektives Objekt«, das sich mir in seiner Belebt­ heit zeigt, eine Einheit aus leiblichem Erscheinen und gegenständli­ chem Körper. Auf dieser Grundlage kann er auch zum Medium des Selbstausdrucks werden. Im Leib des Anderen, seinen Bewegungen und Gesten, nehme ich zugleich sein Erleben, seine Empfindungen und Gefühle wahr, denn sein Leib ist wie mein eigener nicht nur ein dingliches Objekt, sondern Manifestation seines Erlebens. Aber auch die Wirklichkeitserfahrung, die der Tastsinn vermit­ telt, erstreckt sich auf den Anderen. Sich zur Begrüßung beim Hän­ degeben haptisch miteinander zu verbinden, für einen Moment die Eigensphäre zu überschreiten, ist Ausdruck einer verkörperten, nicht nur distanzierten oder gar virtuellen Begegnung, in der wir uns wechselseitig unserer Anwesenheit versichern. Daher wollte auch 19 Merleau-Ponty 2003: 256. 162 Die Zwischenleiblichkeit der Berührung der ungläubige Thomas im Johannes-Evangelium den auferstandenen Christus berühren und den Finger in seine Wunde legen. Er wollte sicher sein, dass er es nicht nur mit einem Geist, heute würden wir vielleicht sagen, mit einer »virtual reality« zu tun hatte, und dazu musste er den Körper Jesu spüren; und zwar nicht nur irgendeinen Körperteil, sondern gerade seine Wundmale, die sich als Ausdruck der Leibgeschichte Jesu verstehen lassen, also seiner Verletzlichkeit als eines irdisch-körperlichen Wesens. Eine ähnliche Geschichte findet sich in der Odyssee (19, 357– 502): Als Odysseus verkleidet und unerkannt in seinen Palast zurück­ kehrt, wird seine alte, blinde Amme Eurykleia damit beauftragt, ihm die Füße zu waschen. Dabei ertastet sie an seinem Oberschenkel die Narbe einer Wunde, die ihm als Kind von einem wilden Eber zugefügt wurde, und erkennt ihn daran. Auch der Tastsinn hat eine Geschichte, er bewahrt die Erinnerung an einen vertrauten Menschen; man weiß, wie sich der geliebte Partner anfühlt, auch ohne ihn zu sehen. Es ist kein Zufall, dass die meisten religiösen Rituale auch mit leiblicher Anwesenheit und Berührung verbunden sind, wie z. B. Taufe, Hochzeit, letzte Ölung oder auch die Heilungsrituale traditio­ neller Kulturen. Es ist die leibliche Präsenz, die das Ritual wirksam macht, und die Berührung des Priesters oder Heilers vermittelt die spirituelle Kraft, die auf den Gläubigen übergeht. Schließlich sei daran erinnert, dass der Händedruck auch dazu dient, eine Verein­ barung zu besiegeln; der Handschlag bekräftigt die Verbindlichkeit des Vereinbarten. In all diesen Phänomenen sehen wir, wie die Zwischenleiblichkeit der Berührung eine gemeinsame Wirklichkeit ebenso hervorbringen kann wie eine gemeinsame Geschichte. Im Zeitalter der Digitalisierung und Virtualisierung erscheinen uns solche zwischenleiblichen Rituale und leiblich geteilten Wirklich­ keiten nur allzu leicht überholt. Dennoch bleibt jede virtuelle oder Online-Kommunikation immer auf die Möglichkeit der realen Begeg­ nung mit dem Anderen bezogen, auf die leibliche Präsenz, die letztlich nur die Berührung vermitteln kann. Andere Sinnesmodalitäten lassen sich digitalisieren, so dass man im Online-Kontakt beispielsweise das Gesicht einer Person sehen und sich mit ihr unterhalten kann; für die Berührung hingegen muss man sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden. Virtuell kann nur die Vorstellung, berührt zu werden, geweckt werden; es gibt keine »Telepräsenz« der Berührung selbst. Die gegenseitige Berührung ist die ultimative Bestätigung der gemeinsamen Realität, und sie muss zumindest als Möglichkeit 163 Thomas Fuchs auch in leiblicher Präsenz gegeben sein, damit wir füreinander wirk­ lich werden. 4. Zur Entwicklung und Psychologie der Berührung Betrachten wir nun die Rolle der Berührung in der Ontogenese, so werden wir sehen, wie die allgemeine Phänomenologie durch die Entwicklung der Sozialität in der Kindheit bestätigt wird. Wie schon erwähnt ist die Haut das primäre Sinnesorgan des Kindes; bereits im Mutterleib spürt es den elastischen Widerstand der Gebärmutterwand als Gegenüber oder Nicht-Selbst, an dem es seiner selbst gewahr wird. Nach der Geburt ist diese enge taktile Umhüllung zunächst verloren; umso mehr bedarf der Säugling des Gehalten- und Berührtwerdens, der Nähe und Wärme der Mutter. Er spürt auch sogleich, ob er sanft, zärtlich, fest oder gar grob angefasst wird, also die affektive oder Ausdrucksqualität der Berührung. Die Haut wird damit zum ersten Medium der interpersonalen Beziehung. Sie lässt den Säugling den Widerstand und damit die Wirklichkeit der Mutter ebenso erfahren wie ihre Zuwendung, Wärme und Zärtlichkeit. Jede grundlegende Aktivität der Babypflege beinhaltet Berüh­ rungen, wie das Stillen, Füttern, Baden, das Wechseln der Windeln, das Streicheln und Kuscheln. Diese ständige taktile Kommunikation ist unerlässlich für das vitale Wachstum des Säuglings ebenso wie für seine seelische Entwicklung. Ein Mangel an Wärme und Haut­ kontakt in der frühkindlichen Phase beeinträchtigt die neuronale Differenzierung, führt zu Wachstumsretardierung und später zu Ver­ haltensstörungen.20 Bereits in den 1940er Jahren erkannte René Spitz die biologische Notwendigkeit der liebevollen Zuwendung an institutionalisierten Säuglingen und Kleinkindern in Heimen, die nach Trennung von der Mutter zwar mit ausreichender Nahrung und Hygiene versorgt, aber kaum berührt und gehalten wurden. Sie gerie­ ten in eine von Spitz so benannte »anaklitische Depression«, zeigten erhebliche Verhaltensstörungen und sogar eine hohe Sterblichkeit.21 In den 1990er Jahren gab es eine Vielzahl von Forschungsarbeiten, die die Folgen von Berührungsentzug für die menschliche Entwick­ 20 21 Montagu 1980: 142ff., Field 2010. Spitz/Wolf 1946. 164 Die Zwischenleiblichkeit der Berührung lung aufzeigten: Kinder aus rumänischen Waisenhäusern, die in den ersten Lebensjahren kaum berührt wurden, wiesen später erhebliche kognitive, emotionale und soziale Defizite sowie Rückstände in der Gehirnentwicklung auf.22 Wichtige Erkenntnisse der frühen Berührungsforschung wurden auch durch die Experimente von Harry Harlow an Rhesusäffchen in den 60er Jahren gewonnen.23 Vor die Wahl gestellt zwischen einer aus Draht nachgebildeten, milchgebenden Mutterattrappe und einer mit Stoff überzogenen Attrappe ohne Milch, stillten die Äffchen viel eher ihr Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt mit der weichen, kusche­ ligen Mutter als ihren Hunger mit der Drahtmutter. In einem anderen Experiment flüchteten die Äffchen, wenn sie mit beängstigenden Reizen konfrontiert wurden, zur Stoffpuppe; waren sie dagegen nur mit der Drahtpuppe aufgewachsen, dann kauerten sie sich hilflos zusammen, erstarrten buchstäblich oder schrien und weinten. Har­ lows Experimente waren aus tierethischer Sicht sicher problematisch, doch sie belegten die zentrale Bedeutung von Berührungskontakten in einer Zeit des vorherrschenden Behaviorismus und bildeten damit den Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung der Bindungstheorie auch beim Menschen. Ein anderes bedeutsames Ergebnis der Berührungsforschung war in den 80er Jahren die Entdeckung besonderer taktiler Rezeptoren in der Haut, der sogenannten C-taktilen Afferenzen, die nicht wie die sonstigen Rezeptoren auf raschen, sondern auf langsamen Hautkon­ takt reagieren.24 Inzwischen ließ sich zeigen, dass diese Rezeptoren am meisten auf eine Streichelgeschwindigkeit von 1–10 cm/sec und sanften Druck reagieren, wie es einer zärtlichen Berührung entspricht, also z. B. auf Streicheln, Liebkosen, Kraulen oder sanftes Massieren.25 Die Aktivierung dieser Afferenzen ist beim Berührten mit einem leiblichen Wärme- und Wohlgefühl verbunden – sie wandeln also gewissermaßen die mechanische Stimulation der Haut in eine sanfte, zärtliche Berührung um, und diese wirkt bekanntlich beruhigend, angstlösend und schmerzlindernd. Die Wirkung ist unter anderem auch durch die Freisetzung des Hormons Oxytocin vermittelt.26 Oxy­ tocin wird besonders intensiv beim Stillen, aber auch beim engen 22 23 24 25 26 Kaler/Freeman 1994, Beckett et al. 2006, Mackes et al. 2020. Harlow/Zimmermann 1959, Harlow/Harlow 1962. Olausson et al. 2002. Crucianelli/Filippetti 2020. Di Plinio et al. 2022. 165 Thomas Fuchs Hautkontakt zwischen Mutter und Säugling bei beiden ausgeschüttet; es fördert in besonderem Maß die Stimmung der sozialen Nähe, die Zuwendung, Liebe und Bindung. Weniger starke, aber im Prinzip ähnliche Wirkungen hat das sanfte Berühren und Streicheln aber auch später. Die Umarmung ist in fast allen Kulturen nicht nur Ausdruck von Vertrautheit, Zunei­ gung, Freundschaft oder Liebe, sondern hat auch nachweislich stress­ reduzierende, blutdrucksenkende und antidepressive Wirkungen.27 Die vielfältige Anwendung der Berührung in manuellen Therapien, Massage, Körpertherapie, Osteopathie, Feldenkrais-Arbeit und vielen anderen Verfahren beruht auf der leiblich gespürten und zugleich physiologischen Umstimmung, die die Berührung der Haut durch den Anderen auszulösen vermag. Die uralte Heilkraft des Handauflegens geriet in der Neuzeit in Vergessenheit und musste erst wieder entdeckt werden, so etwa um 1800 durch den Wiener Arzt Franz Anton Mesmer, der durch Berührung erstaunliche Heilerfolge erzielte und daraus schloss: »Von allen Körpern in der Natur wirkt auf den Menschen am allerwirksams­ ten der Mensch selbst.«28 In Ermangelung einer Erklärung führte er diese Wirkung auf den sogenannten »tierischen Magnetismus« zurück, also die elektrische Reizbarkeit von lebendigem Gewebe, die gerade entdeckt worden war. Wir haben heute bessere physiologische Erklärungen, die aber nichts daran ändern, dass die zwischenleibliche Berührung immer auch etwas Magisches hat. Zu den intensivsten Formen des Kontakts gehört natürlich die erotische Berührung, die den gesamten Leib in Erregung zu setzen, förmlich zu elektrisieren vermag. Der Tastsinn ist wohl überhaupt der erotischste der Sinne. Und diese Dimension der Berührung besteht wesentlich darin, dass dabei der eigene Leib weich wird, sich öffnet und der streichelnden Hand des anderen hingibt – gleichsam in Resonanz gerät wie eine Geige, die von einem Bogen gestrichen wird. Natürlich bedarf es für die Erotik der Berührung auch der Grenze, also des Unterschieds von Selbst und Nicht-Selbst, der aber nicht als solcher betont und festgehalten wird, sondern sich aufhebt in der Bewegung der Öffnung, der Resonanz und Verbindung.29 McGlone et al. 2014. zit. n. Zweig 1931: 63. 29 In diesen Zusammenhang gehört auch die Tatsache, dass man sich bekanntlich nicht selbst kitzeln kann, weil dabei die implizite »Vorhersage« der Wirkung der 27 28 166 Die Zwischenleiblichkeit der Berührung Die Erotik der Berührung liegt freilich nicht nur in der besonde­ ren Qualität des Tastens oder Streichelns begründet, sondern auch in ihrer Intimität. Die Berührung der Haut stellt die bedeutsamste Markierung in dem subtilen Gefüge von Nähe und Distanz dar, das die sozialen Ordnungen charakterisiert. Außerhalb der familiären Bezie­ hungen bedeutet die nicht nur flüchtige, sondern langsame, zärtliche Berührung von vorne herein die Überschreitung einer Grenze, die eine erotische Atmosphäre entstehen lässt. Eine nächste Stufe stellt dann der Kuss dar, da das Berühren der Lippen, erst recht der Zunge, die körperliche Distanz zwischen zwei Menschen weitgehend aufhebt. Phänomenologisch lässt sich leicht erkennen, warum der Kuss diese Qualität besitzt: Die Lippen sind zum einen besonders tastempfindlich; zum anderen bilden sie gleichsam das Tor zum Inneren des Leibes. Ihre Feuchtigkeit und Weichheit ebenso wie ihre Nähe zum Speichel, der ersten die Nahrung auflösen­ den Flüssigkeit des Körperinneren, weicht auch den Widerstand auf, den die Haut sonst bietet. So kann der Lippenkuss auch die sexuelle Vereinigung andeuten, die dann im Zungenkuss als Eindringen in den Leib des Anderen vorweggenommen wird. Der Tastsinn markiert also die Zonen der Begegnung, der Zunei­ gung und des Übergangs zur Vereinigung und Verschmelzung, wie sie zur erotischen Sphäre gehört. Auf der anderen Seite kann die Berüh­ rung, sieht man einmal vom Händedruck ab, gerade wegen ihrer Inti­ mität auch eine unerlaubte Grenzüberschreitung und Zudringlichkeit darstellen. Entwürdigende und erniedrigende Behandlungen, erst recht Vergewaltigungen oder Folter beginnen meist mit einem rohen Anfassen der Haut, gefolgt von einer gewaltsamen Inbesitznahme des Körpers. Die Missachtung der Körpergrenzen vollzieht sich also durch die Umkehrung der liebevollen Berührung in ein rohes Zugreifen. Wir bezeichnen die Würde des Menschen gleichsam beschwörend als »unantastbar«, aber das ändert nichts daran, dass ein grobes Betasten gerade besonders entwürdigend sein kann.30 Der Tastsinn als Sinn der Grenze und des Übergangs impli­ ziert also auch immer eine soziale Ambivalenz, nämlich zwischen liebevoller Annäherung und Kommunikation einerseits und Grenz­ Eigenbewegung auf die Haut den Überraschungseffekt nicht entstehen lässt, der für den Kitzel erforderlich ist. Auch dem Kitzeln muss man sich sozusagen »hingeben« können, sonst entsteht nicht die vibrierende, zum Lachen treibende Empfindung auf der Haut. 30 Fuchs 2008. 167 Thomas Fuchs überschreitung und Intrusion andererseits. Auf diese ambivalente Bedeutung der Berührung verweisen auch Begriffe wie »Takt« oder »Taktgefühl« als übertragene Bezeichnungen für einen mitmenschli­ chen Umgang, der das Verhältnis von Nähe und Distanz behutsam und einfühlsam zu handhaben weiß. Solches Taktgefühl wird beson­ ders bedeutsam, wenn in der Pflege alter Menschen die Berührung Grenzen überschreitet, die wir seit unserer Kindheit nicht mehr dem fremden Anderen preiszugeben gewohnt sind. 5. Resümee Der Tastsinn weist eine mehrfache Polarität auf, die ihn unter allen Sinnen als Sinn der Grenze, des Kontakts und des Übergangs aus­ zeichnet. Er ist zum einen rezeptiv (er reagiert auf Kontakt), zum anderen aktiv (er erkundet die Dinge durch Bewegung). Er ist einer­ seits selbstkonstituierend, nämlich durch die Erfahrung der Selbstbe­ rührung und der Selbsttätigkeit, andererseits realitätskonstituierend, nämlich durch die Erfahrung von Widerstand und Undurchdringlich­ keit. Mit dieser Erfahrung ist zugleich eine elementare Reflexion ver­ bunden, die zur Selbstbewusstwerdung des leiblichen Subjekts bei­ trägt. Damit ermöglicht der Tastsinn dem Subjekt (1) Unterscheidung und Abgrenzung vom Anderen und Fremden, (2) Selbsterfahrung und Selbstreflexion, (3) aber auch Kontakt und Kommunikation. In diesen ambivalenten Erfahrungen des Tastsinns manifestiert sich grundsätzlich das charakteristische Verhältnis, welches ein Lebewe­ sen zu seiner Grenze hat. Denn durch sie differenziert es sich von seiner Umwelt und definiert sich selbst; zugleich aber tritt es durch sie in Austausch und Kontakt mit der Umwelt. Insofern bestätigt die phänomenologische Analyse die Aussage von Aristoteles, der Tastsinn sei bei allen Lebewesen der ursprünglichste der Sinne. Der Tastsinn ist schließlich aber auch konstitutiv für die mensch­ liche Sozialität. Die Verschränkung von Leib und Körper in der Doppelempfindung, die den Leib zu einem »subjektiv empfundenen Objekt« macht, kehrt in der Berührung des anderen wieder, so dass ich seinen Leib als subjektiv, d. h. als belebt und ausdrucksvoll wahrnehme, ohne dass ich mir durch eine Theory of Mind, durch Analogieschlüsse oder Projektionen erst klar machen muss, dass ich es möglicherweise mit einem anderen Subjekt zu tun habe. Die 168 Die Zwischenleiblichkeit der Berührung Wirklichkeit und tatsächliche Gegenwart des anderen vermittelt kein anderer Sinn so wie der Tastsinn. Tasten und Berührung sind Aus­ druck der sozialen Polarität zwischen Bezogenheit und Abgrenzung, eine Polarität, die in Erfahrungen der intimen Nähe, aber auch der intrusiven Grenzüberschreitung münden kann. Die intimste Form erotischer Verschmelzung ist nur durch unmittelbaren Körperkontakt möglich, aber umgekehrt werden auch die gravierendsten Formen der Erniedrigung, des Missbrauchs oder der Gewalt vom berührten Körper erfahren. Ich erwähnte zu Beginn, dass wir, nicht zuletzt im Gefolge der Corona-Pandemie, immer mehr in eine berührungslose Gesellschaft zu geraten scheinen, in der digitale und mediale Technologien unsere realen, verkörperten Begegnungen ersetzen (Fuchs 2020b). Doch eine Gesellschaft, in der wir voneinander nicht mehr berührt und damit nicht mehr affiziert werden, im leiblichen und zugleich im emotionalen Sinn – eine solche Gesellschaft können wir auf die Dauer nicht ertragen. Die virtuelle Präsenz des anderen ist, was sie ist: ein Schein, den letztlich nur die Tasterfahrung auflösen kann. Niemand blickt uns aus einem Smartphone an. Die virtuelle Gegenwart des anderen kann die Zwischenleiblichkeit der Berührung nicht ersetzen. 169 Thomas Fuchs Literaturverzeichnis Aristoteles: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, München 1950. Beckett, Celia,/Maughan, Barbara/Rutter, Michael/Castle, Jenny/Colvert, Emma/Groothues, Christine/Sonuga-Barke, Edmund James Steven/Krepp­ ner, Jana/ Stevens, Suzanne O’Connor, Thomas: Do the effects of early severe deprivation on cognition persist into early adolescence? Findings from the English and Romanian adoptees study, in: Child Development 2006/77: 696–711. Bernhardt, Janice: Sensory capabilities of the fetus, in: The American Journal of Maternal/Child Nursing 1987/12: 44–47. Crucianelli, Laura/Filippetti, Maria Laura: Developmental perspectives on inter­ personal affective touch, in: Topoi 2020/39: 575–586. 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