EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)

Willehad Lanwer
Wi(e)der Gewalt
Erkennen, Erkl�ren und Verstehen aus p�dagogischer Perspektive
Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2008
(211 S.; ISBN 978-3-8340-0379-9; 19,80 EUR)
Wi(e)der Gewalt Willehad Lanwer ist Professor an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt, Studiengang Inclusive Education. Er besch�ftigt sich in Forschung und Lehre u.a. mit selbstverletzenden Handlungen bei Menschen mit Lernschwierigkeiten sowie mit Fragen der Integration und Exklusion von Menschen mit Behinderung in Bildung und Gesellschaft. Dieser Hintergrund erscheint auf den ersten Blick ungew�hnlich im Kontext der Gewaltforschung: Die medial dominierte Debatte um Jugendgewalt steht beispielhaft f�r die Konfiguration von Gewalt als isoliertes Thema, das isolierte Expertisen mit sich bringt: Jugendgewalt, M�nnergewalt, Gewalt gegen Kinder, h�usliche Gewalt � immer scheint es um ganz verschiedene Dinge zu gehen, deren Zusammenhang und deren Abh�ngigkeiten jeweils aufw�ndig rekonstruiert werden m�ssen, was insgesamt auf einen Verlust an gesellschaftstheoretischer Modellierung gerade in der Erziehungswissenschaft hindeutet. Milit�rische Gewalt, p�dagogische Gewalt und selbstverletzendes Verhalten sind nicht dasselbe, aber es ist weiterf�hrend, Zusammenh�nge zu postulieren und von hier aus Modellierungen vorzunehmen. Lanwer versammelt in seiner Monographie rezente Linien der Theoriebildung � kritische Theorie, T�tigkeitstheorie, die Arbeiten um Bourdieu und andere � und fragt nach ihrem Beitrag zum Erkennen, Erkl�ren und Verstehen von Gewalt. Die Arbeit ist nicht nur eine wider die Gewalt, sondern auch wider das Vergessen von theoretischen Gesichtspunkten, welche f�r die �berwindung von Gewalt eine wichtige Rolle spielen. Ausgel�st wurde die Arbeit durch die Auseinandersetzung um die sogenannte Konfrontative P�dagogik, womit weit mehr als ein Methodenstreit gemeint ist: Nach Lanwer kann diese �nicht losgel�st von der neoliberalen Globalisierung betrachtet werden� (133). Damit ist der Radius der Arbeit skizziert: Es geht um eine methodologisch gef�hrte Auseinandersetzung mit dem Ph�nomen der Gewalt und deren demokratie- und professionstheoretische Konsequenzen.

Nach einem einf�hrenden Teil und vor den Schlussteilen gliedert Lanwer seine Arbeit in vier gro�e Kapitel: Dialektik, T�tigkeitstheorie, sozialwissenschaftliche Bezugspunkte und (kritische) P�dagogik. Er definiert einleitend: �Gewalt basiert auf Interessen- und Bed�rfnisgegens�tzen, die sich zu einem Widerspruch verdichten, der zu Konflikten f�hrt� (8). Er r�ckt ausgehend von diesem Verst�ndnis und im Sinne einer Problemexposition die konfrontative P�dagogik ins analytische Licht: Lanwer weist dieser ein verk�rztes Gewaltverst�ndnis nach, das dazu f�hrt, dass Gewalt als notwendiges Mittel der P�dagogik erscheint. Lanwer macht jedoch geltend, dass �die Art und Weise wie eine p�dagogische Fragestellung erkannt, erkl�rt und verstanden wird (...) den Ausgangspunkt [bildet] von dem aus die Planung und Umsetzung des konkreten p�dagogischen Handelns erfolgt� (18). Der Skandalisierung von Gewalt mit dem Effekt der impliziten oder expliziten Legitimierung repressiver Ma�nahmen setzt er eine biographieorientierte, entwicklungsbezogene Sichtweise entgegen: Gewalt erscheint so durchgehend als �Mittel zur L�sung von Konflikten, aufgrund sich widersprechender Interessen in dem Geflecht der Reproduktion von Lebensbedingungen in den Feldern des sozialen Raums� (25).

Im Teil �ber die Dialektik f�hrt Lanwer in die Analyse von sozialen Verh�ltnissen ein. Der Grundgedanke ist, dass eine analytisch gew�hlte Einheit (eine Person, eine Handlung, ein Verlauf) so zu w�hlen ist, dass sie nicht nur als Zustand, sondern in ihren Wechselwirkungen sichtbar wird. In der Wechselwirkung werden beobachtete Einheiten in ihrem Werden rekonstruierbar und damit auch in Widerspr�chen und in unterschiedlichen Formen der Aufhebung von Widerspr�chen. An dieser Stelle wird die Kategorie der T�tigkeit eingef�hrt, die Lanwer als �Vermittlungskategorie des Menschen zu seiner Wirklichkeit� versteht (55). Die Kategorie der T�tigkeit, so Lanwer mit Bezug auf Leontjew, umfasst �alle menschlichen Bet�tigungsweisen, alle Formen von Praxis in denen Menschen im Verh�ltnis zu ihrer Wirklichkeit t�tig werden� (ebd.). Gewalt erscheint somit als Mittel und Ergebnis in subjektiven und kollektiven Aneignungsprozessen, also als Dimension des Austauschens von G�tern und Zeichen in historisch verk�rperten Verh�ltnissen. Im Kapitel �ber die sozialwissenschaftlichen Grundlagen erweitert Lanwer das Spektrum des Lesens von Gewalt indem er einige klassische Positionen referiert und mit diesen den begrifflichen Raum von Gewalt und Macht auslotet (Weber, Foucault, Bourdieu u.a.). Von hier aus erfolgt die R�ckkehr in die P�dagogik und eine erneute Auseinandersetzung mit der �ideologischen �berfrachtung� (126), der �double bind Situation� (128), der Gender-Problematik und �antidemokratischen� (134) Praxen der Konfrontativen P�dagogik. Ihr gegen�ber formuliert Lanwer eine demokratie- und professionstheoretisch reflektierte Konzeption von P�dagogik: �Mithin geht es f�r die p�dagogisch Handelnden um die Aneignung von reflexivem Wissen, um die eigene Position im sozialen und historischen Kontext bestimmen zu k�nnen � im Sinne der Gestaltung von Lern- und Lebensfelder f�r die Kinder und Jugendlichen� (135). Er diskutiert anschlie�end Positionen der kritischen P�dagogik (Gramsci, Heydorn) und verbindet sie mit Konzepten der materialistischen Behindertenp�dagogik (Feuser, Jantzen).

In den Schlusskapiteln fokussiert Lanwer auf die Zielsetzung der �berwindung von Gewalt, die er sich ebenso politisch wie p�dagogisch als Bildungsprozess vorstellt und daran erinnert, dass die Bedeutung von Bildungssystemen moderner Gesellschaften auch und vor allem darin liegt, zur �demokratische(n) Strukturbildung des sozialen Raums� beizutragen (196). Damit findet die Monographie ihren Abschluss. Mit ihr liegt ein Werk vor, das zwar anspruchsvoll zu lesen, aber zugleich darum bem�ht ist, Denklinien zu vermitteln und exemplarisch zu erl�utern. Im Sinne eines Ausblicks w�re zu w�nschen, dass die methodologisch orientierte Studie auch im Kontext der empirischen Gewalt- und Sozialisationsforschung, aber auch f�r klinische Studien rezipiert wird und so dazu beitr�gt, im Alltag des Denkens �ber Gewalt andere Akzente zu setzen.
Jan Weisser (Z�rich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jan Weisser: Rezension von: Lanwer, Willehad: Wi(e)der Gewalt, Erkennen, Erkl�ren und Verstehen aus p�dagogischer Perspektive. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2008. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383400379.html