sehepunkte - 7 (2007), Nr. 11

Eric R. Dursteler: Venetians in Constantinople. Nation, identity, and coexistence in the early modern Mediterranean, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2006, 289 S., ISBN 978-0-8018-8324-8, USD 50,00

Rezensiert von:
Heinrich Lang
Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Otto-Friedrich-Universität, Bamberg

Der US-amerikanische Historiker Eric R. Dursteler schlie�t mit "Venetians in Constantinople" seine langj�hrigen Forschungen zu venezianisch-osmanischen Beziehungen eindrucksvoll ab. Dieses Buch thematisiert den "nexus between identity and coexistence" (2) am Verh�ltnis zweier gro�er fr�hneuzeitlicher Seem�chte des Mittelmeeres, der Seerepublik Venedig und des Osmanischen Reiches, zueinander. Vor allem im Levantehandel konnte Venedig bis ins 17. Jahrhundert seine angestammte Rolle als Handelsmacht und kulturelle Schnittstelle ("place of transition", 3) zwischen Mittel- bzw. Westeuropa und dem Osmanischen Reich behaupten. Die venezianische Diaspora aus Kaufleuten und Diplomaten in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches bietet hierbei ein ideales Objekt f�r eine kulturhistorische Fallstudie.

Entgegen einer langen historiographischen Tradition, die wesentlich die kulturelle Dichotomie der islamischen Welt der Osmant�rken und der christlichen Venezianer hervorgehoben hat, kn�pft Dursteler an j�ngere Tendenzen der Forschung an. Dabei tritt die bin�re Interpretation von Gegens�tzen, Missverst�ndnissen und Zerw�rfnissen in den Hintergrund. Stattdessen operiert man mit differenzierten Modellen kultureller Interaktion. Das Verhalten der Seerepublik Venedig rechtfertigt diesen Ansatz: Denn die Venezianer entdeckten nach den schlechten milit�rischen Erfahrungen mit dem expandierenden Osmanischen Reich Mitte des 16. Jahrhunderts Diplomatie als Instrument zwischen Ausgleich und Ausspielen, indem sie bevorzugt die prek�re Balance zwischen Habsburg und den Osmanen hielten.

Durstelers Schl�ssel zur Interpretation der veneto-osmanischen Beziehungen liegt in einem relationalen Identit�tsmodell, das fr�hneuzeitliche Identit�ten als einen komplexen Prozess, als fl�chtige Grenzziehungen und als interaktiv ver�nderbares B�ndel aus Versatzst�cken begreift. Die von Zeitgenossen wie Pietro della Valle (Reiseberichte, publiziert 1650) eingesetzten taxonomischen Kategorien wie Religion, natio (Herkunft nach Geburt und Sprache) und soziale Hierarchien verweisen auf die soziale Konstruktion von Identit�t. Insbesondere merkantile und diplomatische Diasporen zeigen mehrschichtige Loyalit�ten: Die Gemeinschaft ("community") der venezianischen natio offenbart zwischen ihrer formal institutionalisierten Zusammensetzung und ihrem kulturellen Gebrauch individuelle und kollektive Durchl�ssigkeiten.

Ebenso stringent argumentierend wie detailliert entfaltet Dursteler in f�nf Kapiteln die institutionelle, soziale sowie kulturelle Beschaffenheit der venezianischen natio in Konstantinopel. Dabei markiert er Aktionsradien der in konzentrischen Kreisen um den bailo (den venezianischen Repr�sentanten) versammelten Gruppen durch eine beispielhafte Auswahl von Einzelf�llen. In einem letzten Kapitel charakterisiert er einen "Urban Middle Ground" anhand von unterschiedlichen, ineinander verzahnten Feldern kultureller Begegnungen. Bei der Beschreibung der im 16. und 17. Jahrhundert zahlenst�rksten foreign community am Bosporus konzentriert er sich auf die verh�ltnism��ig lange Friedensperiode von 1573 bis 1645. Dursteler sch�pft aus dem reichen Fundus venezianischer Archive und Bibliotheken: Neben den umfangreichen Korrespondenzen entsandter venezianischer Offizieller, vor allem mit den f�r die nationes verantwortlichen Cinque Savi alla mercanzia, analysiert er Gesandtschaftsrelationen, Familien- und Notariatsarchive.

Die Seerepublik Venedig, die seit den Handelsprivilegien von 1082 �ber eine Niederlassung in Konstantinopel verf�gte, �bte in der zweiten H�lfte des 15. Jahrhunderts ein Monopol im Levantehandel aus. Zwar br�ckelte die Vormachtstellung der Venezianer um 1500, doch blieben sie bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts die wichtigsten Handelspartner des Osmanischen Reiches. Im Stadtteil Galata befanden sich rund zehn H�user venezianischer Kaufleute, der bailo umgab sich mit einem aus 50 bis 100 Personen bestehenden Haushalt. Den Kern der venezianischen natio machten die venezianischen Patrizier-Kaufleute aus, numerisch st�rker war die Gruppe der Kaufleute und ihrer Faktoren aus den italienischen Gebieten Venedigs (terraferma). Symptomatisch f�r die Bezeichnung als "mercante veneziano" war eine Figur wie Girolamo Pianella um 1600, der in der Kaufmannsdiaspora eine f�hrende Rolle �bernahm und zugleich Steuerzahler an den Sultan war: Entscheidend war die Behandlung als venezianischer Kaufmann.

Die irregul�ren Mitglieder ("unofficial nation", 25) der venezianischen Nation bestanden vor allem aus banditi (Exilierten, die ihre Gesch�fte in der Levante trieben), Sklaven und Griechen. W�hrend die banditi ihre Situation durch Anpassung zu bessern suchten, �bernahmen gerade befreite Sklaven oft die Rolle kultureller Vermittler. Im 16. Jahrhundert lebten im stato da mar rund 480.000 Griechen, die das R�ckgrat des venezianischen Handelsimperiums bildeten und von denen bis zu 3000 in Konstantinopel lebten. Zudem fungierte Venedig als Protektorin des lateinisch-katholischen Glaubens im stato da mar (den venezianischen Besitzungen im Mittelmeer und seinen K�sten).

Beispielhaft f�r die multikulturelle Komplexit�t des Mittelmeerraumes waren insbesondere Juden und Renegaten. Als Vermittler gewannen j�dische Kaufleute im 17. Jahrhundert eine Schl�sselposition, die sie aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Herkunft durch ihre "altering identity" (105) erlangten. Konvertiten besa�en verschiedenartige Motive f�r ihren Glaubenswechsel: Sie wurden wie Ibrahim Paşa zu vermittelnden, kulturellen Grenzg�ngern. Auf den aus Dalmatien stammenden Mann, der durch seine Freundschaft zum Sultan S�leyman ein einflussreiches Netzwerk aufbauen und zum Gro�wesir aufsteigen konnte, ist Venedigs Vermittlerrolle bei den Verhandlungen zwischen den Habsburgern und der Hohen Pforte in den 1520er und 1530er Jahren zur�ckzuf�hren. Auff�llig bei diesen Sondergruppen ist die Tendenz, die eigene Verwandtschaft als prim�res Bezugssystem zu w�hlen. Dolmetscher (die so genannten dragomani) und Kaufleute in ihrer Ausbildungszeit benutzten Rechtssysteme und politische Affiliationen, um Karriere zu machen.

In einem abschlie�enden Kapitel widmet sich Dursteler eingehend verschiedenen Bereichen kultureller �berschneidungen. Besonders in den Nachbarschaftsbeziehungen im Stadtteil Pera und in der Vigne di Pera (der urspr�nglich au�erhalb Galatas gelegene, vorst�dtische Bezirk) erwiesen sich identifikatorische Grenzen als durchl�ssig. Sozio�konomische Strukturen waren wesentlich bedeutender als die jeweilige natio oder Religionszugeh�rigkeiten. Im Bereich des Handels verblassten Identit�ten zugunsten merkantiler Netzwerke. Entgegen �blicher Vorurteile zeigte sich die osmanische Elite als Gruppe aktiver Kaufleute, die wie �elebi Mehmed Reis aus Ankara ihre Faktoren nach Venedig schickten. Osmanische Beamte investierten in Gesch�fte, so dass sie an merkantile Netzwerke ankn�pften und ihr Geld mit der Vergabe staatlicher Auftr�ge verdienten. Die Anzahl der sensali (Makler) f�r den veneto-osmanischen Handel in Venedig stieg im 16. Jahrhundert an, venezianische und osmanische Kaufleute gaben wechselseitig Kommissionsgesch�fte in Auftrag. Soziale und pers�nliche Beziehungen, Konversion und Migration, der maritime Arbeitsmarkt und religi�se Rituale erzeugten in der venezianischen natio in Konstantinopel Atmosph�re und Praxis interkultureller Begegnungen und Gemeinsamkeiten.

Dursteler legt auf nur 185 Seiten inhaltlich konzentriert, in anschaulicher Sprache eine qualitativ ungew�hnlich ausgereifte und gelungene Darstellung der Venezianer in Konstantinopel als kulturhistorische Studie fr�hneuzeitlicher Identit�ten vor. Der in Anh�nge verbannte wissenschaftliche Apparat mit Glossar, Indizes und Bibliographie erstreckt sich auf rund hundert Seiten. Dursteler entwickelt alle Beispiele aus den eigenen archivalischen Quellen, verkoppelt sie mit der Forschungsliteratur und argumentiert mit aktuellen theoretischen �berlegungen zum Thema interkultureller Begegnungen. Einzig die Abbildungen in der Mitte des Buches stehen eigent�mlich isoliert da. Dennoch kann dieses Buch als gutes Beispiel moderner Geschichtsschreibung dienen und zugleich als Referenzwerk f�r den venezianischen Levantehandel gelten.

Redaktionelle Betreuung: Michael Kaiser

Empfohlene Zitierweise:

Heinrich Lang: Rezension von: Eric R. Dursteler: Venetians in Constantinople. Nation, identity, and coexistence in the early modern Mediterranean, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: <http://www.sehepunkte.de/2007/11/12426.html>