EWR 6 (2007), Nr. 6 (November/Dezember 2007)

Michael G�hlich / J�rg Zirfas
Lernen
Ein p�dagogischer Grundbegriff
Stuttgart: Kohlhammer 2007
(208 S.; ISBN 978-3-17-018869-3; 22,00 EUR)
Lernen Wenngleich der Begriff des Lernens seit sp�testens den 1960er Jahren verst�rkt aus p�dagogischer Perspektive bearbeitet wurde, ist dieser stets etwas �stiefm�tterlich� von der Erziehungswissenschaft behandelt worden � nicht zuletzt, weil dem �Lernen� der Verdacht anhaftete, als Kuckucksei in das einheimische Nest der Erziehungswissenschaft eingeschleust worden zu sein, so dass sich diese auf ungleich intensivere Weise um ihr Lieblingskind, die Bildung, k�mmerte. Vielleicht ist es nicht zuletzt diese Ungleichbehandlung, die es der �Hirnforschung� in den letzten Jahren so einfach machte, die Diskurshoheit bez�glich des Lernens zu erobern und die P�dagogik noch weiter an den Rand des Lerndiskurses zu dr�ngen. Mit diesem Zustand nicht zufrieden geben wollen sich Michael G�hlich und J�rg Zirfas, die mit ihrem Buch �Lernen. Ein p�dagogischer Grundbegriff� nichts weniger als eine �R�ckf�hrung des Lernbegriffs in sein angestammtes Terrain, die P�dagogik� (7) anstreben. Flankiert wird dieses Unterfangen von dem zeitnah erschienenen Sammelband �P�dagogische Theorien des Lernens�, den die beiden Autoren gemeinsam mit Christoph Wulf herausgegeben haben [1]. Als (Diskurs-)Strategie f�r dieses Unterfangen geben die Autoren die Wiederbelebung der langen Tradition p�dagogischen Denkens �ber Lernen an, die zu einer Neubestimmung des p�dagogischen Lernbegriffs f�hren soll.

In der Einleitung des Buches (Kap. 1) nehmen die Autoren sowohl zum interdisziplin�ren als auch zum intradisziplin�ren Diskurs �ber Lernen Stellung. Zuvorderst beklagen sie die randst�ndige Position der P�dagogik gegen�ber der Psychologie und den Biowissenschaften, die sowohl den interdisziplin�ren Diskurs als auch die �ffentliche Rede �ber Lernen dominieren. Diesen beiden diskursiven Hegemonialm�chten werfen sie vor, aufgrund ihrer naturwissenschaftlichen Ausrichtung Lernen nur erkl�ren, nicht jedoch verstehen zu k�nnen und damit gerade die Sinnhaftigkeit des Lernens, die zudem die Spezifit�t menschlichen Lernens ausmache, zu verfehlen. So besteht nach G�hlich und Zirfas die �gro�e Aufgabe f�r die p�dagogische Sicht auf menschliches Lernen� (13) darin, dieser unhintergehbaren Sinn- und Bedeutungsdimension des Lernens gerecht zu werden.

Im Abschnitt �ber den intradisziplin�ren Diskurs versuchen sich die Autoren an dem schwierigen Unterfangen, Lernen von anderen p�dagogischen Grundbegriffen zu unterscheiden. Dazu gehen sie auf die Begriffe Erziehung, Bildung, Sozialisation, Entwicklung, Lehren und Unterricht ein. Angesichts der historisch gewachsenen Verflochtenheit der Grundbegriffe versuchen sie erst gar nicht, die einzelnen Begriffe trennscharf zu unterscheiden, sondern machen stattdessen auf Differenzen in den semantischen Gewichtungen der Grundbegriffe aufmerksam. Dass Lernen �berhaupt ein Grundbegriff der P�dagogik sei, scheint den Autoren so offensichtlich, dass sie dies an dieser Stelle nicht eigens thematisieren, sondern in Anlehnung an Herbart alleinig postulieren, dass Lernen �quasi als �einheimischster Begriff� der P�dagogik gelten kann� (14). Nur zu Beginn der Einleitung findet sich eine ebenso kurze wie weit reichende anthropologische Begr�ndung: Lernen sei, so die Autoren, nicht nur �ein lebensnotwendiger Vorgang� (7); vielmehr k�nne der Mensch erst �mittels Lernen zum Menschen werden� (7). Damit nun die P�dagogik der �ihr zugeschriebene[n] Aufgabe, die Menschwerdung des Menschen zu f�rdern� (7) angemessen nachkommen kann, m�sse diese Lernen als einen Grundbegriff wissenschaftlich reflektieren. Da der Status des Lernbegriffs als p�dagogischer Grundbegriff jedoch gerade umstritten ist, muss der Verzicht auf eine Stellungnahme bez�glich dieser intradiziplin�ren Auseinandersetzung doch verwundern. Als Beispiel sei hier nur auf Peter Menck verwiesen, der mit seinem Aufsatz �Lernen � ein Grundbegriff der Erziehungswissenschaft?� ein Ausrufezeichen hinter das im Titel auftauchende Fragezeichen zu setzen versucht, den Begriff des Lernens als ein vielf�ltig Verwirrungen sowie Schein- und Sachprobleme erzeugendes p�dagogisches Unding ansieht und empfiehlt, sich lieber dem �einheimischen Begriff, der die Sache pr�zise trifft, den der �Bildung�� [2], zuzuwenden. Es sollte nicht schwer fallen, gegen solcherma�en geartete Anfeindungen des Lernbegriffs gute Argumente zu finden und es ist schade, dass die Autoren diese Chance auslassen.

Die Systematik des Hauptteils des Buches, die nach Angabe der Autoren �auf der Folie der Allgemeinen P�dagogik� (18) erfolgt, ist verschiedenen Zug�ngen (Kap. 2), der Geschichte (Kap. 3), der Anthropologie (Kap. 4) und den Institutionen (Kap. 5) gewidmet, bevor die Autoren im letzten Kapitel (Kap. 6) Grundrisse einer p�dagogischen Theorie des Lernens skizzieren.

Als verschiedene Zug�nge (Kap. 2) zum Ph�nomen �Lernen� werden der Behaviorismus, der Konstruktivismus, die Biowissenschaft, die Lernphilosophie, die Ph�nomenologie, die Kulturtheorie und die Biographieforschung vorgestellt, zumeist indem auf deren jeweilige Kernbegriffe, zentrale Konzepte und Ans�tze sowie lerntheoretische Einsichten eingegangen wird. Angesichts der anhaltenden Virulenz kognitivistischer Modelle, die zumindest die Lernpsychologie, teils aber auch die Hirnforschung durchsetzen, ist unverst�ndlich, dass der Kognitivismus im Abschnitt �ber den Konstruktivismus zwar kurz erw�hnt wird, nicht aber ein eigenes Unterkapitel erh�lt. W�hrend sich die Kritik am Konstruktivismus auf die nicht ganz neue Einsicht beschr�nkt, dass dessen lerntheoretische Einsichten nicht ganz neu seien, wird der Beitrag der Biowissenschaft einer scharfen Grundsatzkritik unterzogen. So kommen die Autoren zu dem Ergebnis, �dass das reduktionistische, mechanistische, korrespondenztheoretische, funktionalistische und repr�sentationelle Lernmodell der Biowissenschaften nur sehr begrenzten Erkl�rungswert f�r die P�dagogik hat� (34).

Im Abschnitt �ber Lernphilosophie geht es � vornehmlich in kritischem Anschluss an Lutz Koch � um �eine idealtypische Rekonstruktion der systematischen Bestandteile einer Erkenntnistheorie des Lernens� (34), w�hrend im Unterkapitel zur Ph�nomenologie, vornehmlich im Anschluss an K�te Meyer-Drawe, �zentrale Dimensionen eines ph�nomenologischen Lernbegriffs � Prozessualit�t, Anfang, Alterit�t und Leiblichkeit � dargestellt� (42) werden. Verwunderlich ist, dass G�nther Bucks in den 1960er Jahren aufgestellte und bis heute vielleicht immer noch als besonders ambitioniert geltende p�dagogische Lerntheorie stellenweise zwar erw�hnt, weder aber eigens diskutiert noch in ihrem starken Einfluss auf den p�dagogischen Lerndiskurs dargelegt wird. Auf die lerntheoretischen Konsequenzen, die sich aus �kulturalistischer Sicht� (48) ergeben, wird im Unterkapitel �ber Kulturtheorie eingegangen; beispielhaft sei hier nur auf die sich aus den Arbeiten Pierre Bourdieus ergebende notwendige Reflexion der Rolle spezifischer Lernhabitus hingewiesen.

Die Geschichte des Lernbegriffs ist Thema des n�chsten gro�en Kapitels (Kap. 3) und wird von G�hlich und Zirfas ideengeschichtlich entlang einzelner Autoren verfolgt. Dabei beginnen die Autoren bei der Antike und diskutieren dort relativ ausf�hrlich die sokratisch-platonische sowie die aristotelische Lerntheorie. Im Abschnitt �Mittelalter und Renaissance� beginnen die Autoren mit Augustinus und springen von diesem direkt zu Montaigne, ohne auch nur ein Wort �ber die dazwischen liegenden elf Jahrhunderte, z.B. �ber Thomas von Aquins lerntheoretische Reflexionen zu verlieren. Ein dritter Zwischenstopp wird bei Comenius eingelegt, bevor im Unterkapitel �Aufkl�rung, Idealismus und Romantik� Locke und Rousseau aus lerntheoretischer Sicht vorgestellt werden. Mit Basedow, Wolke, Trapp, Pestalozzi, Fr�bel und � f�r das 20. Jahrhundert � Dewey, Kerschensteiner, Steiner, Montessori, Petersen und der Reggiop�dagogik werden nach Rousseau ausschlie�lich Autoren thematisiert, die als Philanthropen oder Reformp�dagogen gelten k�nnen.

Eine ebenso eigenwillige Schwerpunktsetzung wird im Kapitel �ber Anthropologie (Kap. 4) fortgeschrieben, wird hier doch zun�chst nicht der Mensch, sondern der Raum und die Zeit in ihrer Bedeutung f�r das Lernen reflektiert. So werden die Anthropologie des Raumes als Lernraum, die Geschichte der Gestaltung des Lernraums wie schlie�lich die Chancen und Risiken der p�dagogischen Gestaltung von Raum thematisiert. Im Abschnitt �ber Zeit wird vornehmlich die Spannung zwischen der rousseauschen Maxime des notwendigen Zeitverlusts beim Lernen und der neuzeitlichen Maxime des Zeitsparens, die zu einer Beschleunigung des Lernens f�hrt, reflektiert. Im darauf folgenden Unterkapitel �ber �K�rper und Leib� werden zuvorderst die Anthropologie des Leibes als Lernleibes anhand der Perspektiven der Leib/K�rper-Differenz, der nietzeanischen Aufwertung des Leibes, der Zentralit�t der sensomotorischen Phase nach Piaget, der Arbeiten Merleau-Pontys zu Leiblichkeit und Wahrnehmung sowie der habitustheoretischen These von inkorporiertem Kapital besprochen. Diese vier Perspektiven werden auf insgesamt vier Seiten thematisiert, was in Bezug auf das gesamte Buch keinen Extremwert darstellt � insofern gleicht die Lekt�re einem wilden Parforceritt. Die Akzentuierung der alterit�tstheoretischen Dimension des Lernens im Unterkapitel �Subjektivit�t und Fremdheit� erfolgt � nachdem mit K�te Meyer-Drawe das f�r Lernprozesse konstitutive Moment des Anderen bzw. Fremden aufgewiesen wird � entlang der Dreiteilung �das eigene Fremde�, �das fremde Eigene� und �das fremde Fremde� und wird vor allem aus psychoanalytischer und interkultureller Perspektive reflektiert, ohne dass eigens auf die besonders in den letzten Jahren forcierte p�dagogische Debatte um die Negativit�t des Lernens eingegangen wird [3].

Die f�r Lernprozesse zentralen Institutionen des Lernens werden im vorletzten Kapitel (Kap. 5) aufgegriffen; als solche gelten die Familie, die Kinderkrippe und der Kindergarten, die Schule, der Betrieb, das Heim, Beratung und Weiterbildung sowie die Medien. Auch hier werden zahlreiche Einblicke in die verschiedenen Diskursfelder geboten, der Bezug zum Rest des Buches bleibt jedoch unklar, weder gibt es eine Einleitung noch ein Res�mee des Kapitels.

Schlussendlich kommen die Autoren im letzten Kapitel (Kap. 6) zur Skizzierung einer p�dagogischen Theorie des Lernens, die mit folgender Definition beginnt: �Lernen ist die erfahrungsreflexive, auf den Lernenden � auf seine Lebensf�higkeit und Lebensweise sowie seine Lernf�higkeit und Lernweise � sich auswirkende Gewinnung von spezifischem Wissen und K�nnen� (180). Fraglich bleibt dabei, ob der Begriff der Erfahrungsreflexivit�t gl�cklich gew�hlt ist; verwiesen werden soll damit wohl auf das konstitutive Moment des Umlernens, das sich daraus ergibt, dass Lernen stets in einem vorg�ngigen Erfahrungshorizont stattfindet, so dass jede Erfahrung eine Erfahrungserfahrung ist. Im Horizont des uns gegebenen kulturellen Verst�ndnisses d�rfte �erfahrungsreflexiv� jedoch vornehmlich mit �bewusst� assoziiert werden. Neben dieser Definition verweisen die Autoren auf vier modale Aspekte des Lernens: Lernen verlaufe immer erfahrungsbezogen, dialogisch, sinnvoll und ganzheitlich. Dar�ber hinaus unterscheiden die Autoren vier Dimensionen des Lernens: Wissen-Lernen, K�nnen-Lernen, Leben-Lernen und Lernen-Lernen. Diese sollen �keine Lerntypen sui generis darstellen� (181), sondern lediglich Akzentuierungen im Lernbegriff, die als Momente in fast allen Lernprozessen vorkommen, analytisch voneinander trennen. Trotz dieses Hinweises bleibt zu bef�rchten, dass diese Reihung zu Kategorienfehlern verleitet, liegen die beiden letztgenannten Momente, worauf die Autoren teils selbst verweisen, doch quer zu den beiden erstgenannten.

Das Buch endet mit einem kurzen Ausblick, in der die m.E. �u�erst problematische These aufgestellt wird, die P�dagogik bed�rfe keiner Ziele �jenseits des im Lernen selbst angelegten Zieles der Lernunterst�tzung� (194). Hier r�cht sich die fehlende machttheoretische Reflexion der Lernthematik, die, wenn im Buch aufblitzend, einer Repressionslogik folgt, so dass gerade die produktiven Momente von Macht, die sp�testens im Hinblick auf die Effekte des Zwangs zum lebensl�nglichen Lernen offenbar werden m�ssten, �bersehen werden. Betrachtet man Lernen als einen Subjektivationsprozess, so kehrt sich die erw�hnte anthropologische Begr�ndung um: Nicht der Mensch wird durch sein Lernen (erst) zum Menschen, sondern der Mensch erlernt sich unter den Normen der hiesigen Gesellschaft als ein Lernsubjekt und wird so zugleich unterworfen wie hervorgebracht.

Insgesamt leisten G�hlich und Zirfas einen �u�erst vielseitigen und gewichtigen Beitrag f�r die dringliche Aufgabe, den Lerndiskurs nicht den reduktionistischen Blicken der Lernpsychologie und der Neurowissenschaften zu �berlassen, sondern in diesen die aus p�dagogischer Perspektive gewonnen vielseitigen Erkenntnisse einzuschreiben. Zu bedauern ist jedoch, dass aufgrund der Breite und Vielzahl der angesprochenen Thematiken und Aspekte die knapp zweihundert Seiten viel zu knapp sind (oder umgekehrt), was dazu f�hrt, dass von den Autoren angesprochene zentrale Erkenntnisse in der Dichte des Textes verloren zu gehen drohen. Als weitere Konsequenz ergibt sich daraus, dass teils auf recht eklektizistische Weise unterschiedlichste Positionen aneinandergereiht, statt (kritisch) aufeinander bezogen werden.

Dass angesichts des angesprochenen Verh�ltnisses von Breite und Umfang die Inhalte stark selegiert werden mussten, ist nur zu verst�ndlich; dass jedoch auf die Leerstellen nicht hingewiesen wird, ist ebenso unverst�ndlich wie der Umstand, dass die K�rze vieler behandelter Thematiken und Positionen nicht durch weiterf�hrende Literaturhinweise ausgeglichen wurde. So kann das Buch, das ohnehin kein geringes Vorwissen voraussetzt, wohl kaum denjenigen behilflich sein, die auf dem Weg durch das um den Lernbegriff gewachsene Diskursdickicht nach Orientierungswissen suchen. All dies, das sei zum Ende noch einmal unterstrichen, ist jedoch vor allem deshalb �rgerlich, weil das vorliegende Buch mit seinen vielseitigen und zentralen lerntheoretischen Erkenntnissen einen unsch�tzbar wichtigen Beitrag f�r die in letzter Zeit verst�rkt stattfindende p�dagogische Bearbeitung des Lernbegriffs liefert.

[1] G�hlich, Michael/ Wulf, Christoph/ Zirfas, J�rg (Hg., 2007): P�dagogische Theorien des Lernens. Weinheim u.a.: Beltz.

[2] Vgl. Menck, Peter (1999): Lernen � ein Grundbegriff der P�dagogik? In: Fuhr, Thomas/ Schultheis, Klaudia: Zur Sache P�dagogik. Untersuchungen zum Gegenstand der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 53.

[3] Vgl. Benner, Dietrich (Hg, 2005): Erziehung � Bildung � Negativit�t. 49. Beiheft der Zeitschrift f�r P�dagogik. Weinheim/Basel: Beltz, 7-21.
Tobias K�nkler (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tobias K�nkler: Rezension von: G�hlich, Michael / Zirfas, J�rg: Lernen, Ein p�dagogischer Grundbegriff. Stuttgart: Kohlhammer 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317018869.html