EWR 6 (2007), Nr. 6 (November/Dezember 2007)

Anja M�ller (Hrsg.)
Fashioning Childhood in the Eighteenth Century
Age and Identity
(Ashgate Studies in Childhood, 1700 to Present)
Aldershot: Ashgate 2006
(243 S.; ISBN 978-0-7546-5509-1; 47,50 EUR)
Fashioning Childhood in the Eighteenth Century Der Titel benennt die beiden Perspektiven dieses kindheitshistorischen Sammelbandes: Mit �fashioning childhood� wird die Hervorbringung von Kindheit, die Entstehung eines spezifischen Kindheitskonzepts anvisiert. �Kindheit� wird dabei nat�rlich nicht als historische Universalie verstanden, sondern als je spezifisch historisch zu untersuchendes kulturelles bzw. soziales Konstrukt, das anhand von Diskursen und Repr�sentationen rekonstruiert werden k�nne. Dass das 18. Jahrhundert sich daf�r besonders anbietet, liegt auf der Hand, wurden hier doch bis heute wirksame Zuschreibungen an Kindheit wie z.B. Unschuld als zentrale Eigenschaft oder Spielen als wichtigste Besch�ftigung von Kindern formuliert und von Malerei und Literatur in Umlauf gebracht. Im Untertitel �Age and Identity� wird auf die zweite Perspektive angespielt, die allerdings im Vergleich zu �fashioning� weniger konsequent verfolgt wird: dass �ber Alter, also auch �ber Kindheit, soziale Platzanweisungen erfolgen, wie das 18. Jahrhundert zeige, und deshalb �age� neben der bereits etablierten Trias von �race, class and gender� als Kategorie in die historische Analyse von Identit�t(skonstruktionen) einzubeziehen sei. Theoretisch bewegen sich die Autorinnen und Autoren �berwiegend im Rahmen von �cultural studies� und �new historicism� bzw. der Diskursanalyse. Das schl�gt sich darin nieder, dass die Beitr�ge zum einen unter �cultural contexts�, zum anderen unter�Literary and Visual Representations� zusammengebracht werden, also eine Zweiteilung in eine, salopp gesagt, Realgeschichte von Kindheit und in die Thematisierung von Kindheit in Literatur und Malerei vorgenommen wird.

Der erste Teil, �cultural contexts�, f�ngt mit zwei medizinhistorischen Beitr�gen an. Adriana S. Benzaqu�n kann in ihrer Analyse von Ratgebern zur S�uglings- und Kleinkindpflege zeigen, wie Mediziner, genauer: der neue Zweig der P�diater, sich als die Spezialisten f�r Kinder empfehlen und etablieren � und dabei paradoxerweise vor allem damit argumentieren, der Natur des Kindes zu folgen (The Doctor and the Child. Medical Preservation and Management of Children in the Eighteenth Century). Wie arme Kinder und solche mit Behinderung � besonders aus den niederen St�nden � behandelt wurden, ist das Thema von Iris Ritzmann. Sie untersucht Akten aus Waisenh�usern oder Antr�ge von Eltern an Hohe Spit�ler, in denen sie um die Aufnahme ihrer unheilbar kranken oder behinderten Kinder ersuchen, und arbeitet heraus, dass Kinder armer Eltern eine erstaunlich gute medizinische Versorgung erhielten, dies vor allem, weil die Eltern sich darum k�mmerten. Damit gelingt es ihr am Material die von de Mause oder Shorter vertretene, sich bis heute haltende These zu widerlegen, in der vormodernen Gesellschaft sei die Haltung von Eltern ihren kleinen Kinder gegen�ber von Fatalismus und Gleichg�ltigkeit bestimmt gewesen (Children as Patients in German-Speaking Regions in the Eighteenth Century).

Um Beobachtungen von Kindern und deren erkenntnistheoretischen Impetus geht es im Beitrag von Anthony Krupp. Mit Karl Philipp Moritz und seinem �Magazin zur Erfahrungsseelenkunde�, einer der ersten psychologischen Zeitschriften in Deutschland, untersucht er einen prominenten Vertreter der Anf�nge empirischer Kinderforschung. Krupp versucht zu zeigen, dass Moritz, als dessen kindheitspsychologisches Proprium die Theorie des Ersteindrucks, also der lebensgeschichtlichen Pr�gung durch erste sinnliche Eindr�cke, gelten kann, zuerst die deterministische Theorie der angeborenen Eigenschaften vertreten habe, dann aber zu der �berzeugung gelangt sei, Kinder seien einzigartig und deshalb ihre Entwicklung nicht voraussagbar, also von einer Anlage- zu einer Charaktertheorie gekommen sei. Diese Position wird referiert unter der Zwischen�berschrift �Transparency and Opacity�, franz�sisch hie�e das �La transparence et l'obstacle�, bekanntlich der Untertitel von Jean Starobinskis Rousseaustudie [1], auf die der Autor allerdings so wenig hinweist wie auf die breite Sekund�rliteratur zu Moritz und seinem �Magazin� (Observing Children in an Early Journal of Psychology. Karl Philipp Moritz' gnothi seauton (Know Thyself)).

In den n�chsten drei Beitr�gen geht es um �ffentliche Kindheitsr�ume. Anna-Christina Giovanopoulos untersucht, inwieweit Altersunterschiede im englischen common law Ber�cksichtigung fanden; sie wurden, wie sie zeigt, zwar durchaus im Sinne eines Kinderschutzes konzeptualisiert, was allerdings, etwa bei Lehrlingen, keineswegs immer eingehalten wurde (The Legal Status of Children in Eighteenth-Century England). Peter Borsay lotet in seinem Beitrag �Children, Adolescents and Fashionable Urban Society� die Bedeutung der neu entstehenden Welt st�dtischer Mu�e f�r Kinder der Elite und f�r deren Verh�ltnis zu Erwachsenen aus. Borsay kommt zu dem Schluss, dass diese gemeinsame Welt von Leisure letztlich dazu beigetragen habe, den Abstand zwischen Kindern und Erwachsenen zu verringern. Um einen weiteren Aspekt st�dtischer Kultur, n�mlich Konsum, geht es Patricia Crown, die das Kind in der englischen visuellen Konsumkultur zwischen 1790 und 1830 untersucht. Sie wertet daf�r Warenkataloge aus und macht an ihnen deutlich, wie sehr propagiert wurde, die Welt der Elitekinder mit unterschiedlichen �Kinder�dingen auszustaffieren. Kinder, so ihr Ergebnis, wurden gezielt als Konsumenten angesprochen, auch �ber ihre Eltern, und damit jenseits der kindheitsideologisch vorgesehenen Privatsph�re situiert (The Child in the Visual Culture of Consumption 1790-1830). Borsay und Crown k�nnen zeigen, wie durchl�ssig die Grenzen zwischen den als seperate spheres konzipierten Welten von Kindern und Erwachsenen letztlich waren und damit die Reichweite der Kindheitskonzepte relativieren. Abgeschlossen wird der erste Teil mit Christoph Houswitschkas vergleichender modernisierungstheoretisch argumentierender Analyse von Lockes und Rousseaus Erziehungstheorien, in der die ihnen zugrunde liegenden unterschiedlichen Sozialisationskonzepte im Rekurs auf Habermas und Luhmann analysiert werden (Locke's Education or Rousseau's Freedom. Alternative Socializations in Modern Societies).

Im zweiten Teil des Bandes, �Literary and visual representations�, werden literatur- und kunstgeschichtliche Einzeluntersuchungen versammelt. Anja M�ller bringt die beiden oben genannten Perspektiven des Buches in ihrem Beitrag �Fashioning Age and Identity� zusammen, in dem sie �Kindheit und Lebensalter in englischen Periodika des 18. Jahrhunderts�, so der Untertitel, untersucht. Sie fragt danach, wie im Tatler, im Guardian und im Spectator der Jahre 1709 bis 1714 Kindheit im Rahmen von Lebensalterskonzepten (und den mit ihnen einhergehenden zyklischen bzw. linearen Zeitkonzepten) situiert wurde. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass Kindheit zwar als Zeit der Unschuld mit eigenem Habitus betrachtet wurde, vor allem aber als das andere des als Norm gesetzten m�nnlichen Erwachsenen firmierte.

Die beiden n�chsten Beitr�ge kommen aus der Kunstgeschichte. Dorothy Johnson setzt an dem Ph�nomen an, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert immer mehr Eltern ihre Kinder malen lie�en. Sie zeigt anhand von Symbolik und Allegorien, dass in diesen Kinderportraits (u.a. Reynolds, Goya, Runge) unterschiedliche, z. T. konkurrierende Kindheitskonzepte zu finden sind, die allerdings alle von einer individuellen Identit�t der dargestellten Kinder ausgehen (Engaging Identity. Portraits of children in Late Eighteenth Century Visual Art). Mittlerweile liegt, das als Erg�nzung, mit dem Katalog des Frankfurter St�delmuseums zu der Ausstellung �Die Entdeckung der Kindheit. Das englische Kinderportr�t und seine europ�ische Nachfolge� � der englische Ausstellungstitel war mit �The Changing Face of Childhood: British Children's Portraits and their Influence in Europe� (hrsg. von Mirjam Neumeister. Frankfurt 2007) pr�ziser � eine ausgezeichnete und umfassende Untersuchung zu Kinderportr�ts vor. Um Jean Baptiste Greuze und seinen Beitrag zur Ideologie des m�tterlichen Stillens (versus Ammenwesen) geht es in Bernadette Forts Beitrag, in dem produktiv an Carol Duncans bahnbrechendem Aufsatz �Happy Mothers and Other New Ideas in Eighteenth-Century French Art� (1982) angekn�pft wird (Creuze and the Ideology of Infant Nursing in Eighteenth-Century France).

Ein ganz anderes Thema, jugendliche Delinquenz, behandelt Uwe B�ker. Er arbeitet heraus, wie die neuen Kindheitsvorstellungen zu einem neuen Konzept jugendlicher Delinquenz f�hrten, was zu einer Ausdifferenzierung zwischen Erwachsenen- und Kinderstrafrecht, v.a. der Verwerfung der Todesstrafe f�r Kinder f�hrte. Zugleich aber nahm die Furcht vor jugendlichen Gewalttaten zu, auch weil fast zwei F�nftel der englischen Bev�lkerung in den 1830ern unter 14 Jahre alt waren. Im Newgate Calendar kam diese Ver�nderung in Gestalt zunehmender Exempelgeschichten, d.h. einer P�dagogisierung jugendlicher Delinquenz, zum Tragen (Childhood and Juvenile Delinquency in Eighteenth-Century Newgate Calendars). Sonja Fielitz geht es in ihrer Darstellung verschiedener britischer Schulausgaben von Ovids Metamorphosen darum, wie diese die Pers�nlichkeit britischer Schuljungen � wohlgemerkt � geformt haben, nicht formen sollten, ein schwieriges Thema, das die Frage aufwirft, wie sich Rezeption und Wirkung von Schulb�chern historisch erforschen lassen, eine Frage, zu der in dem Artikel leider nichts zu erfahren ist (Tales of Miracle or Lessons of Morality? School Editions of Ovid's Metamorphoses as a Means of Shaping the Personalities of British School boys).

Einen n�chsten Schwerpunkt bilden drei Fallstudien zu Kindheitskonzepten in englischen Romanen. Klaus Peter Jochum liest Romane Daniel Defoes auf dem Hintergrund seiner didaktischen Abhandlung The Family Instructor (Defoe's Children), Jan Hollm diskutiert, wie Henry Fielding Tom Jones als Findelkind, d.h. in seinem rechtlichen Status, thematisiert (Fictionalizing Foundlings. Social Tradition and Change in Henry Fielding's Tom Jones) und Jan Vanderbeke zeigt, wie Lawrence Sterne in seiner Darstellung der Entwicklung Tristram Shandys mit der Newtonschen Mechanik auf einen zeitgen�ssischen wissenschaftlichen Diskurs zur�ckgreift (Winding up the Clock. The Conception and Birth of Tristram Shandy). Englische Weiblichkeitsentw�rfe und Theorien bzw. Vorstellungen zur M�dchenerziehung untersucht Brigitte Glaser und kann an einigen Autorinnen zeigen, wie und gegen welche Positionen umfassendere Bildungsanspr�che von Frauen formuliert wurden. Warum welche Texte ausgew�hlt wurden, welche Sekund�rliteratur zum Thema vorliegt und schlie�lich die gesamteurop�ischen Querelle des Femmes als Kontext der englischen Debatten um M�dchenerziehung bleiben allerdings unerw�hnt (Gendered Childhoods. On the Discursive Formation of Young Females in the Eighteenth Century). Im letzten Beitrag wird mit Jane Austens Juvenilia eine Textsorte behandelt, die eine auktoriale Perspektive auf eine englische M�dchenkindheit um 1780 h�tte er�ffnen k�nnen, Peter Sabor hat sich allerdings daf�r entschieden, die verschiedenen Ausgaben der Juvenilia und deren Rezeption zu behandeln, was sehr verdienstvoll ist, nur eigentlich keine kindheitshistorische Fragestellung darstellt (Fashioning the Child Author. Reading Jane Austen's Juvenilia).

Der Band vereinigt, wie deutlich wurde, ein breites Spektrum von Themen. Zu Wort kommen insbesondere Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler, vor allem aus der Anglistik, aber auch (Kunst)Historikerinnen. Die erziehungswissenschaftliche nationale und internationale Kindheitsforschung fehlt v�llig. Daf�r mag es konzeptionelle Gr�nde geben; nur sind diese nicht zu erfahren. Ein Teil der Beitr�ge l�sst sich � je nach Perspektive � als exemplarische kindheitshistorische Fallstudien oder aber kindheitshistorische Randthemen sehen. Sicher liegt der auf dem Einband zitierte Kindheitshistoriker Hugh Cunningham mit seiner Einsch�tzung, der Sammelband �stelle einen wertvollen Beitrag zu unseren Verst�ndnis von Kindheit im langen 18. Jahrhundert�, nicht ganz falsch, aber es bleiben doch Irritationen festzuhalten. So kommt mir die Flagge, unter der �Fashioning Childhood in the Eighteenth Century� segelt, einfach zu gro� vor. Zum einen ist dem Titel nicht zu entnehmen, dass es um England, Deutschland, in einem Beitrag auch Frankreich geht � es soll ja auch woanders Kindheit und ein 18. Jahrhundert gegeben haben. Zum anderen w�re eine Einf�hrung oder �berblicksdarstellung hilfreich gewesen, in der die Thematik der Kindheitskonzepte und der Lebenssituationen von Kindern � meinethalben begrenzt auf die behandelten L�nder � entfaltet worden w�re. So bleibt das Buch ein wirklicher Sammelband mit Beitr�gen von sehr unterschiedlicher Qualit�t � wie kann es kommen, dass Autoren �berhaupt keine Sekund�rliteratur anf�hren? Au�erdem ist zu bem�ngeln, dass die Ergebnisse der zweib�ndigen Geschichte der Kindheit von Egle Becchi und Dominique Julia weder insgesamt noch in einzelnen Artikeln herangezogen werden (Histoire de l'enfance en Occident. 2 Tomes. Paris: Seuil 1998, ital. 1996), genauso wenig wie die von Paula S. Fass herausgegebene dreib�ndige Encyclopedia of Children and Childhood in History and Society (New York e.a.: MacMillan 2004).

[1] Starobinski, Jean (1971): Jean-Jacques Rousseau: la transparence et l�obstacle. Paris: Gallimard (dt.: Rousseau. Eine Welt von Widerst�nden. M�nchen 1988).
Pia Schmid (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Pia Schmid: Rezension von: M�ller, Anja (Hg.): Fashioning Childhood in the Eighteenth Century, Age and Identity (Ashgate Studies in Childhood, 17 to Present). Aldershot: Ashgate 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978075465509.html