sehepunkte - 7 (2007), Nr. 11

Monika Schrader: Laokoon - "eine vollkommene Regel der Kunst". Ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe (= EUROPAEA MEMORIA. Studien und Texte zur Geschichte der europäischen Ideen. Reihe I: Studien; Bd. 42), Hildesheim: Olms 2005, 194 S., ISBN 978-3-487-12909-9, EUR 29,80

Rezensiert von:
Oliver Jehle
SFB 626, Freie Universität, Berlin

Ein Artefakt - als urs�chlicher Bezugspunkt eines reichen visuellen und kommunikativen Austauschs - wird nicht erst dann diskussionsw�rdig, wenn es sich bei ihm um den Laokoon handelt und die Betrachter zu den prominentesten Vertretern der schreibenden Zunft im 18. Jahrhundert z�hlen. Wird der idealsch�ne K�rper des leidenden Priesters zur zentralen Herausforderung und zum Ursprung klassizistischer Ganzheits�sthetik, bildet der Laokoon nicht nur den Gegenstand f�r �berlegungen zur Mediendifferenz, sondern die ideale Projektionsfl�che kunsthistorischer und philosophischer Schriften: Monika Schrader verspricht in ihrer Abhandlung, die Entw�rfe einer "�sthetische[n] Theorie der Heuristik" vorzustellen, die in der wiederholten Auseinandersetzung mit einer "vollkommene[n] Regel der Kunst" entwickelt wurden: Eine Theorie der Heuristik, eine Kombinatorik also, um Neues zu finden, die als "�sthetische" firmiert, mag ein Desiderat sein, das in einem spielerischen wie bewussten Umgang mit Elementen der Skulptur und den Vorgaben literarischer �berlieferung an Kontur gew�nne. Aber der Untertitel tr�gt. Im Mittelpunkt der Studie steht die Relekt�re kanonisierter Texte, in denen die besagte Marmorgruppe des Laokoon mitunter zur Sprache kommt.

Sei es dahingestellt, wie sehr sich dieser Text an den g�ngigen Verfahren der Hermeneutik orientiert und an einer historischen Semiotik, die sich als allgemeine Bedeutungstheorie versteht, so m�ssten diese methodischen Instrumentarien in dem Sinne Verwendung finden, dass die Prozesse der Bedeutungskonstitution nachvollziehbar blieben. "�berlegungen zur Struktur der K�nste" (51), die nicht erst im Blick auf Lessings "medien�sthetisch orientierte[m]" Kunstbegriff (55) hinreichend bekannt sind, versprechen nicht deshalb gesteigerten Erkenntnisgewinn, weil man sie in "kunsttheoretische Kriterien der Komparatistik [!]" (53) eingebunden sieht. Setzt diese Studie auf den breit ausgetretenen Pfaden der Semiologie einen Fu� schwer vor den anderen, h�tte sie, um diese Orientierung an Althergebrachtem hinreichend zu rechtfertigen, die Rekonstruktion der f�r die Epoche des Klassizismus g�ltigen rezeptiven Kompetenzen unternehmen m�ssen. In welchem Umfang eine zur vollkommenen Regel erhobene Skulptur nur in Abh�ngigkeit von der Analyse des Inhalts beschrieben werden kann, wie weit die visuelle Erscheinung der Werkes relevant ist, l�sst sich mit Schrader allzu leicht beantworten. Die �sthetische Erfahrung, die sich an der Ausdrucksdimension gewinnen lie�e, erscheint ihr irrelevant. Dementsprechend folgt Schraders Studie bedenkenlos Lessing, dessen Anschauungsdefizit sie zum Stilideal erkl�rt, ohne sich im Kreuzungspunkt von spezifischer Werkerfahrung, Rezeptionsgeschichte und Kontextforschung zu positionieren. Aber nur so w�re eine historische �sthetik, eine "Heuristik" als Methode der ars inveniendi �berhaupt zu begr�nden.

Um die vielf�ltigen Verbindung nachzuzeichnen, die sich zwischen einer Poetik des idealsch�nen K�rpers und einer Geschichte der �sthetik entspannen, reicht es mitnichten, einige wenige der einschl�gigen Sammelb�nde zur Semiologie in den Fu�noten aufzuf�hren. �ber die reine Ank�ndigung im Vorwort hinaus, w�re es an Schrader gewesen, diese Zeichenregime nicht allein mit der zeitgen�ssischen Kunsttheorie, sondern mit "Ethik" und "Erkenntnistheorie" (17) zu konfrontieren - von der notwendigen Betrachtung der verschwisterten Genese von �sthetik und Anthropologie ganz zu schweigen (104-105). In der Tat h�tte eine solche Studie �ber die avancierten Auseinandersetzungen deutscher Autoren mit dem Paradigma klassizistischer Sch�nlebendigkeit einen aktuellen Beitrag nicht nur f�r die Germanistik, sondern f�r die �sthetiktheorie geleistet.

Gerade im Hinblick auf die "vollkommene Regel" erwiese es sich als reizvolle Volte, dass aisthesis im etymologischen Sinn "Wahrnehmung durch die Sinne" bedeutet, wobei unentschieden ist, an welchen der Sinne sich der Gegenstand in seiner sinnlichen Pr�senz wenden wird. Bedauerlicherweise thematisiert die Studie nicht, dass ausgerechnet Herder, den sie vollt�nend im Untertitel f�hrt, diese Offenheit in der Relation von Adressat und Empf�nger aufgreift, sobald er die seit der Renaissance dominierende �sthetische Privilegierung des Auges ironisch hinterfragt: Herder markiert, und das ist der Moment, in dem von einer "Heuristik" gesprochen werden k�nnte, mit seiner Studie �ber die Plastik ein neues diskursives Feld - erhebt er doch Einspruch gegen die Skoptophilie der modernen �sthetik und forderte eine aisthesis auch und gerade taktiler Natur. Dass es dabei nicht um ein Sehen im optischen, sondern ein Durchsp�ren im physiologischen Sinne geht, ein leibgebundenes Empfinden, wird sp�testens dann ersichtlich, wenn Schrader Herders brisanten Satz �ber "Polyklets Regel der Kunst" zitiert: Sei die "vollkommene Regel" "nur aus dem Gef�hl und f�rs Gef�hl deutlich" (122), mahnt die Autorin die "Unbestimmtheit" der Begriffsverwendung an, erkennt jedoch nicht, wie in dieser Aussage eine fundamentale Abkehr vom Visualprimat vollzogen wird. F�r die Rezeption antiker Skulpturen bedeutet dies, dass nicht die hermeneutische Kompetenz des Betrachters aufgerufen ist, die Statue durch mythologisches Wissen zu vervollst�ndigen, noch durch einen semiotisch geschulten Blick das Artefakt in ein Arsenal klassifizierbarer Zeichen zu verwandeln, sondern ihre Verlebendigung zu erreichen - durch eine imagin�re Ber�hrung, die aus einer "vollkommenen Regel" einen f�hlbaren Kunstleib macht.

Beschw�rt Schraders Studie eine "Ganzheit", deren harmonisierender Unterton die Sprengkraft literarischer Auseinandersetzung mit dem Laokoon fortw�hrend zu nivellieren sucht, sitzt die Autorin den verfestigten Rezeptions-Klischees auf, die in der Literatur des Klassizismus und der Sp�taufkl�rung vor allem die k�nstlerische Inszenierung einer "geistigen Ordnung" und die Feier einer "Metaphysik der Sch�nheit" erkennen will: Anhand der breiten Rezeption der antiken Skulptur, dem Modellfall kunstphilosophischer und semiologischer Theoriebildung des 18. Jahrhunderts, w�re es ihre vornehmste Aufgabe gewesen, nicht nur in der "Einleitung" (11-19) den Zusammenhang zwischen klassizistischem Sch�nheitsideal und der Darstellung des Pathos - wenn nicht des k�rperlichen Schmerzes - zu benennen, sondern dieses prek�re Wechselverh�ltnis im Schlaglicht der folgenden sieben Kapitel an Kontur gewinnen zu lassen (29, 89-90). Schlie�lich wissen wir seit Simon Richter, dass der Schmerz, den Winckelmann �berwunden wissen wollte, nicht am Rand des �sthetischen Diskurses angesiedelt ist, sondern dessen Zentrum besetzt. [1] Nicht ein Schrei, der zum Seufzer herabgestimmt ist, markiert in der "�sthetischen Theorie" Goethes, mit dem der historische Teil der Studie schlie�t, die Trennlinie zwischen den sch�nen und den nicht mehr sch�nen K�nsten (160), sondern eine Wunde, die zum Zentrum einer idealsch�nen Skulptur erkl�rt wird. Diese ambivalente Argumentation entwirft den betroffenen K�rper als "kaum verwunde[t]" und sieht zugleich aus dieser nichtigen Verletzung alles entstehen: Als gestalterisches Zentrum entbindet die Flankenwunde "das Extrem eines physischen und geistigen Leidens", das die klassizistische �sthetik nicht nur zur Neuverhandlung freigibt, sondern die Grenzen des decorum nachhaltig �berschreitet.

Was in Lessings Kunsttheorie nicht integrierbar war und in Goethes �berlegungen noch einer Strategie der M��igung unterworfen bleibt, damit "ein Letztes" nicht gezeigt wird, stellt sich, so darf man den Arbeiten von David Wellbery und Winfried Menninghaus entnehmen, als ein in anderen zeitgen�ssischen Disziplinen keineswegs ausgegrenztes Thema dar - Disziplinen, die Schrader fortlaufend benennt, aber niemals befragt. Entdeckt die "Anthropologie" des ausgehenden 18. Jahrhunderts den "ganzen Menschen"[2], ger�t die Bedeutung leiblicher Ph�nomene in den Blick, die als Leib-Zeichen das Interesse einer semiologischen Untersuchung erwecken m�ssten. Eine sorgf�ltigere Interpretation des Textmaterials, die das "scheinbar Abseitige" als Ausdruck interner Verwerfungen und Konflikte zu lesen versuchte und dazu bereit w�re, "die Werke gegen den Strich ihrer autoritativen Schl�ssigkeit"[3] zu b�rsten, h�tte die allzu enge Perspektive erweitert. So aber referiert Schrader in der Folge unverbundener Unterkapitel und gereihter Fundst�cke die Ergebnisse einer �berkommenen Auseinandersetzung, ohne zu erkennen, dass das Modell �sthetischer Erfahrung in der zweiten H�lfte des 18. Jahrhunderts entscheidenden Ver�nderungen unterworfen ist.

Die Skulptur des Laokoon hat bewiesen, dass sie �ber Jahrhunderte hinweg ein ihr angemessenes Betrachterverhalten zu stimulieren und als betrachterkonstitutives Werk dem verstehenden Blick die Rezeptionsh�he vorzuschreiben vermag. Sp�testens, so m�chte man der Autorin zurufen, mit der Wende zum Subjektbegriff der �sthetik kann der Rezipient als derjenige aufgefasst werden, der sich durch seine spezifische Kompetenz ausweisen und definieren muss. Denn das 18. Jahrhundert wusste sehr genau, dass die �sthetische Kritik keine Naturgabe, sondern das Ergebnis einer fortgesetzten Ausbildung perzeptiver und deskriptiver F�higkeiten ist. Diese Formen versprachlichter Beurteilung bleiben jedoch einem notwendig kleinen Kreis vorbehalten.


Anmerkungen:

[1] Simon Richter: Laocoon's Body and the Aesthetic of Pain: Winckelmann, Lessing, Herder, Moritz, Goethe, Detroit 1992.

[2] Hans J�rgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur um 1800, Stuttgart 1994.

[3] Helmut Pfotenhauer: Einleitung, in: ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und �sthetik, T�bingen 1991, 1-4, hier: 3.

Redaktionelle Betreuung: Hubertus Kohle

Empfohlene Zitierweise:

Oliver Jehle: Rezension von: Monika Schrader: Laokoon - "eine vollkommene Regel der Kunst". Ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Hildesheim: Olms 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: <http://www.sehepunkte.de/2007/11/9074.html>