EWR 5 (2006), Nr. 2 (M�rz/April 2006)

Helmut Fend
Neue Theorie der Schule
Einf�hrung in das Verstehen von Bildungssystemen
Wiesbaden: VS Verlag f�r Sozialwissenschaften 2006
(205 S.; ISBN 3-531-14717-X; 19,90 EUR)
Neue Theorie der Schule Blickt man auf das Gegenstandsfeld �Theorie der Schule�, dann bietet sich dem Betrachter eine bunte Vielfalt von Zug�ngen, deren Reichweite ebenso unterschiedlich ist wie die Qualit�t der jeweils generierten Aussagen. Schultheorien sind oftmals eng auf eine Bezugsdisziplin bezogen, von der ausgehend Aussagensysteme �ber Schule, ihre Funktionen, ihre Ziele oder ihr �Wesen� entworfen werden. Neben der Erziehungswissenschaft selbst und ihren Teildisziplinen wie der Bildungs- und Erziehungsphilosophie oder der Schulp�dagogik sind dies insbesondere Soziologie, Psychologie, Geschichte und Kulturwissenschaft, daneben aber auch Politik- und Verwaltungswissenschaften. Ungeachtet des insgesamt durchaus beachtlichen Umfanges der vorliegenden schultheoretischen Literatur weckt das hier vorzustellende Werk nicht zuletzt aufgrund seines Verfassers Interesse, z�hlt doch die 1980 von Helmut Fend vorgelegte �Theorie der Schule� [1] zu den noch immer viel zitierten schultheoretischen Standardwerken im deutschsprachigen Raum.

Rund zweieinhalb Jahrzehnte sp�ter folgt nun also eine �Neue Theorie der Schule�. Ungeachtet des Titels basiert diese � worauf Fend selbst an verschiedener Stelle hinweist � auf der grundlegenden Arbeit des Jahres 1980, deren Ansatz er nun aber in einigen wichtigen Aspekten fortentwickelt. Fend begr�ndet seine neue Arbeit mit der Notwendigkeit einer gegen�ber der ersteren erweiterten, umfassenderen Perspektive auf den Gegenstand Schule. �ber die Beschreibung und Erkl�rung von Strukturen und deren Funktionen hinaus � hierauf lag der Fokus in der �Theorie der Schule� � sei auch die Gestaltung von Schule und Bildung von Bedeutung. In dieser Hinsicht jedoch weise das strukturfunktionalistische Modell, das der �Theorie der Schule� zugrunde lag, Defizite auf. Die �Neue Theorie� beschr�nkt sich nicht auf das im engeren Sinne theorieimmanente Ziel des Aufkl�rens; zugleich will Fend nunmehr auch erm�glichen, zu erkennen und zu verstehen, �wie man Bildungssysteme gestalten und ver�ndern kann� (13).

Dem Ansatz seiner ersten Schultheorie folgend n�hert sich Fend der Schule auch in dem neuen Werk vor allem aus einer soziologischen bzw. organisationstheoretischen Perspektive. Wie schon in der �alten� Theorie stellt er wiederum den Zusammenhang von Bildungssystem und Gesellschaft in den Mittelpunkt und betont damit die disziplin�r enge Verbindung von Schultheorie und Bildungssoziologie. Schulen, so seine zentrale These, seien Einrichtungen der Gesellschaft, die ebenso wie Bildungssysteme insgesamt als �institutionelle Akteure der Menschenbildung� (11) verstanden werden k�nnten.

Fends Absicht ist es, den aktuellen Stand gesellschaftswissenschaftlichen Denkens �ber soziale und kulturelle Ph�nomene, zu denen er auch das Bildungswesen z�hlt, abzubilden und damit zugleich den Erkenntnisfortschritt aufzuzeigen, der seit der Erarbeitung seiner ersten Theorie erreicht wurde. Damit indes stellt er seine in dem Band aus dem Jahr 1980 noch stark an Talcott Parsons� strukturfunktionalistische Theorie angelehnte Argumentation nicht grunds�tzlich in Frage, sondern erg�nzt und erweitert diese um (neo-) institutionalistische Ans�tze. In strukturfunktionalistischer Perspektive stehe, so Fend, die �Statik� des Schul- bzw. Bildungssystems im Mittelpunkt. Dies jedoch sei, wie er seither erkannt habe, eine verengte Sicht, die vor allem handlungstheoretische Aspekte unber�cksichtigt lasse. Daher ist die �Neue Theorie der Schule� um Aspekte wie Akteure, Institutionen und Gestaltung erweitert und auf die M�glichkeit zur Analyse von Dynamik und Ver�nderung hin angelegt.

Fend betont, dass Schule nur von ihren Wirkungen her verstehbar und eine darauf zielende Theorie ohne deren Ber�cksichtigung sinnlos sei. Ubiquit�r findet sich der Hinweis, dass eine auf Gestaltung zielende Betrachtung des Bildungswesens ihres R�ckbezuges auf die Darstellung sozialer Wirklichkeiten bed�rfe. Aus der Erweiterung der �statischen� strukturell-funktionalen Theorie um handlungs- bzw. akteurszentrierte Ans�tze lasse sich indes nicht schlie�en, dass der Ansatz Parsons� damit seine analytische Kraft eingeb��t habe. Zugleich betont Fend, dass neben der systematischen Perspektive stets auch der historische Blick auf die Entstehungsgeschichte von Bildungssystemen f�r das Verst�ndnis des Gewordenen notwendig sei.

In dem sehr detailliert gegliederten Text � bei rund 200 Druckseiten beansprucht alleine das Inhaltsverzeichnis f�nf Seiten � nimmt Fend eine Vielzahl von Aspekten auf, die er in seine Schultheorie einarbeitet und die aufgrund ihrer F�lle lediglich stichwortartig erw�hnt werden k�nnen. Im ersten, �Theorie und Empirie des Bildungswesens in der Moderne� �berschriebenen Hauptkapitel, das mehr als die H�lfte des Bandes umfasst, behandelt Fend zun�chst das sozialisationstheoretische Paradigma; des Weiteren geht er umfassend auf Bildungssystem und Gesellschaft, auf bildungs�konomische Aspekte, auf das Thema Chancen(un)gleichheit im Bildungswesen, auf das Verh�ltnis von Bildungssystem und politischem System, auf die individuellen und gesellschaftlichen Funktionen des Bildungssystems und auf die Legitimation von Herrschaftsformen im Bildungssystem ein. Ein weiteres Teilkapitel ist �Das Bildungssystem als Entwicklungskontext der Humangenese� (56) �berschrieben. Hier finden sich Hinweise zu den Inhalten schulischen Lernens, zu Sch�ler-Lehrer- und Sch�ler-Sch�ler-Beziehungen sowie zur historischen Entwicklung von Sozialisationsmilieus in Schulen. Ein weiterer Abschnitt ist den Wirkungen der Schule auf die psychischen Dispositionen der Lernenden gewidmet (97ff.). Abschlie�end fasst Fend die zentralen Aussagen seiner ersten Theorie zusammen, zeigt deren Begrenzungen auf und legt in geraffter Form dar, warum er die Weiterentwicklung der ersten als notwendig erachtet und wie er sich diese vorstellt.

F�r Helmut Fend ist tats�chlich der Einbezug einer handlungsorientierten Perspektive von zentraler Bedeutung. Sie soll den Einfluss von Akteuren im Gef�ge von (gesetzlichen) Regelungen, Konventionen und konkreten Handlungen markieren. Des Weiteren will er �ber den Nachvollzug der historischen Entwicklung des Schulwesens in der Moderne zeigen, dass die aktuell bestehenden Strukturen und Prozesse vergesellschafteten Lernens nur �ber die Analyse ihrer Entstehungsgeschichte verstehbar sind. Schlie�lich soll �ber die erweiterte Theorie systematisch konnotiert werden k�nnen, wie Schule zu gestalten sei, denn jede Generation, habe die Aufgabe, �an der Weiterentwicklung des Bestehenden zu arbeiten� (121).

In den Kapiteln 2 und 3 werden die Grundlagen der �Neuen Theorie der Schule� durchdekliniert. Fend pr�sentiert Elemente der Systemtheorie und ihres Beitrages zum Verstehen von Bildungsinstitutionen, erl�utert handlungs- und strukturtheoretische Grundfragen und den Ansatz des Neo-Institutionalismus. Daneben wird das Bildungswesen als Kulturph�nomen gew�rdigt (Kap. 2). Kern des dritten Abschnitts ist schlie�lich die Skizze einer �Architektur der Neuen Theorie der Schule� (178), in der das Bildungswesen als institutioneller Akteur beschrieben wird.

Das abschlie�ende vierte Kapitel des Bandes ist mit nur knapp sechs Textseiten (185-190) so kurz wie spannend, denn hier spricht Fend mit dem auf Dilthey zur�ck gehenden Dualismus von Erkl�ren und Verstehen ein nach wie vor bestehendes wissenschaftsmethodisches Grundproblem an. Er sieht seine �Neue Theorie der Schule� als �Versuch einer verstehensorientierten Konzeption des Bildungswesens� (185) und kontrastiert den verstehenden Weg wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns mit der empirischen Bildungsforschung und ihren Ergebnissen. Als Fazit seiner knappen Darlegung h�lt er fest, dass beide, empirische wie verstehensorientierte Verfahren der Datengewinnung und damit der Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse gleicherma�en notwendig seien. Bei einem Gebilde von der Komplexit�t eines Bildungssystems sei es bereits f�r dessen Beschreibung notwendig, alle mit den verschiedenen Methoden gewinnbaren Daten zu nutzen; viel mehr noch gelte dies bei dem Bem�hen um Deutung, Analyse und Interpretation: �Eine umfassende Theorie der Schule muss es erm�glichen, verschiedene Daten zum Bildungswesen als sinnvolle Zugangsweisen sichtbar zu machen� (188). Vor diesem Hintergrund verl�re die �alte Kontroverse um Erkl�ren im naturwissenschaftlichen Sinn und Verstehen im geisteswissenschaftlichen Rahmen (...) an Sch�rfe, ja an Sinn� (189).

Eine St�rke des Bandes liegt in der Vielfalt thematisierter Aspekte, die zugleich aber auch ein Problem in sich birgt. So blickt der Rezensent einerseits staunend auf die F�lle angesprochener Themen, Gegenst�nde, Modelle, Paradigmen, Annahmen und Theorien, deren Verbindung zu einem umfassenden Verstehen der Funktionsmechanismen des Schulwesens f�hren soll. Dessen theoretische wie praktische Komplexit�t im gesellschaftlichen Kontext spiegelt sich hier ebenso wider wie die Tatsache einer rund drei Jahrzehnte umfassenden intensiven und sehr ertragreichen Auseinandersetzung des Verfassers mit dem Thema Schultheorie.

Andererseits ist die �Neue Theorie der Schule� ausdr�cklich als Lehrbuch und damit als Text ausgewiesen, der dazu geeignet sein soll, Studierende und andere Interessierte, die sich nicht bereits intensiv mit Schultheorien befasst haben, in eine anspruchsvolle theoretische Materie und z.T. hochkomplexe Konstrukte einzuf�hren, f�r die exemplarisch die Luhmannsche Systemtheorie zu nennen ist. F�r diese Gruppe d�rfte der Band ungeachtet der vielen illustrierenden Zitate und den Text erg�nzenden Schaubilder gerade aufgrund seines Aspektenreichtums und der bisweilen knappen Erl�uterung abstrakt formulierter Paradigmen sehr anspruchsvoll, voraussetzungsreich und an vielen Stellen ohne erg�nzende Literatur kaum zu bew�ltigen sein. Im Umkehrschluss lohnt die Lekt�re damit gerade aber auch f�r jene, die bereits �ber schultheoretisches Wissen verf�gen. Sie finden hier einen umfassenden �berblick �ber empirische, historische und vor allem theoretische Erkl�rungsmuster von und f�r Schule (Fend geht u.a. auf Sozialisations-, Gesellschafts-, B�rokratie-, System-, Struktur-, Akteurs-, Institutionen- und Handlungstheorien ein). In der Summe resultiert hieraus ein ebenso buntes wie komplexes Bild der vielschichtigen Zusammenh�nge von Bildungssystem, Gesellschaft, Staat und �konomie. Mit der Fokussierung vor allem auf die bildungssoziologische Perspektive werden andere schultheoretische Zug�nge, z.B. solche psychologischer Provenienz, allerdings bedauerlicherweise weitgehend ausgeblendet.

Die �Neue Theorie der Schule� ist der erste einer auf vier B�nde angelegten Reihe, in der das Bildungswesen mit der Schule als dessen Kern analysiert und �verstanden� werden soll. Zusammen mit den angek�ndigten Folgeb�nden, die der Geschichte des Bildungswesens in der Moderne, der Schulp�dagogik und der Wirkungsforschung gewidmet sein werden, soll dann insgesamt eine umfassende Fendsche �Theorie der Schule� vorliegen. � Auf diese d�rfen wir gespannt sein.

[1] Fend, Helmut (1980): Theorie der Schule. M�nchen, Wien, Baltimore: Urban & Schwarzenberg.

Hans-Werner Fuchs (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Werner Fuchs: Rezension von: Fend, Helmut: Neue Theorie der Schule, Einf�hrung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: VS Verlag f�r Sozialwissenschaften 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 2 (Veröffentlicht am 04.04.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/53114717.html