Ausgabe 5 (2005), Nr. 3
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ISBN 3-486-56756-x
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Folker Reichert / Eike Wolgast (Hg.): Karl Hampe. Kriegstagebuch 1914-1919 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 63), M�nchen: Oldenbourg 2004, 1020 S., ISBN 3-486-56756-x, EUR 118,00

Rezensiert von:
Gerhard Hirschfeld
Bibliothek f�r Zeitgeschichte, Stuttgart

"So ist denn heute wirklich der Weltkrieg entbrannt! An der Grenze das erste Gepl�nkel zwischen Russen und Deutschen, das aus der Mobilmachung den Krieg gemacht hat." Mit diesen S�tzen beginnt der Heidelberger Medi�vist und Geschichtsprofessor Karl Hampe (1869-1936) am 2. August 1914 (97) - einen Tag nach der deutschen Kriegserkl�rung an Russland - sein fortan t�glich gef�hrtes privates Tagebuch, dessen Eintragungen bis zum 29. Juni 1919 - dem Tag nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags - reichen. Aus dem "Kriegstagebuch", wie Hampe seine Aufzeichnungen zu Beginn des Weltkriegs ausdr�cklich bezeichnet, wird schlie�lich ein "Kriegs- und Revolutionstagebuch". Den t�glichen Eintragungen schlie�en sich w�chentliche R�ckblicke und ein res�mierender Sammeleintrag vom 14. M�rz 1920 an. Der Text endet mit der Schilderung des Kapp-L�ttwitz-Putsches, den der Heidelberger Ordinarius mit seiner Familie in Frankfurt am Main erlebte.

Hampes "Kriegstagebuch" ist weder eine literarische Schilderung noch ein geschichtsphilosophischer Traktat des "Gro�en Krieges". Der Historiker und Zeitzeuge vermerkt die politischen und milit�rischen Ereignisse ebenso wie die allt�glichen Begebenheiten der Kriegsjahre ohne jeden stilistischen Anspruch; er formuliert mit geradezu buchhalterischer N�chternheit und er spart dabei nicht mit polemischen, gelegentlich sogar sarkastischen Kommentaren. Hampe sieht sich als pflichtbewusster Chronist einer - wie die Herausgeber treffend anmerken - zun�chst "gro�en", sodann dramatischen und schlie�lich tragischen Zeit. Doch sein Augenmerk gilt nicht nur Krieg und Politik, sondern ebenso dem Umgang mit Kollegen und Studenten, dem Familienleben und der Kindererziehung, den Versorgungsengp�ssen sowie der kulturellen Bet�tigung unter den Bedingungen eines auch in der Heimat stets pr�senten Krieges. Auf diese Weise erhalten wir ein h�chst authentisches und zugleich sehr anschauliches Bild vom bildungsb�rgerlichen und akademischen Alltag in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkriegs.

Karl Hampes Engagement an der Heimatfront des Weltkrieges war vielf�ltig: er bet�tigte sich zeitweise als Krankentr�ger in einer lokalen Sanit�tskolonne und �bernahm Unterrichtsstunden an einem Heidelberger Gymnasium, um die eingezogenen Lehrer zu ersetzen. Der politisch "national" und zugleich liberal-konservativ eingestellte Hochschullehrer zeichnete s�mtliche neun Kriegsanleihen und war ein eifriger Schreiber von patriotischen Texten und Leserbriefen, die er an verschiedene deutsche Tageszeitungen sandte. Bemerkenswert und zugleich symptomatisch f�r das bildungsb�rgerliche beziehungsweise professorale Wirken im Ersten Weltkrieg war daneben seine stete F�rsorge f�r die an der Front stehenden Studenten, die er mit aufmunternden Briefen (samt den obligatorischen Sonderdrucken) versorgte. Auch f�r deren akademisches Fortkommen (etwa durch die Abhaltung von "Kriegsnotexamina" und -semester) setzten sich Hampe - und mit ihm zahlreiche seiner Heidelberger Kollegen - mit Nachdr�cklichkeit ein.

Besondere Aufmerksamkeit widmet der Tagebuchschreiber dem famili�ren Alltag im Krieg. Im Hause Hampe dominierte zwar die klassische Rollenverteilung der Geschlechter, doch nahm der Hausherr gro�en, mitunter geradezu r�hrenden Anteil an Familienleben und Kindererziehung. Zugleich achtete Hampe auch hierbei stets auf die rechte patriotische Gesinnung. Spiele und Geschenke spiegelten nicht selten die kriegerische Zeitstimmung wider und zu Weihnachten f�hrten seine Kinder regelm��ig eigens von Hampe verfasste Kasperle-Theaterst�cke auf - mit mehr oder minder aktuellen politischen Anspielungen auf die Gegner des Deutschen Reiches, wobei 1915 als innerer Feind der sozialdemokratische Kriegsgegner Karl Liebknecht vorgestellt wurde. Trotz der zwangsl�ufigen Einschr�nkungen und Entbehrungen bem�hten sich die Hampes, die am damaligen Stadtrand Heidelbergs ein durchaus repr�sentatives Wohnhaus (zeitweise sogar mit Dienstpersonal) besa�en, weiterhin ihren selbst auferlegten gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Gleichwohl blieb die Familie keineswegs von Not der sp�teren Kriegsjahre verschont und Hampe berichtet - zweifellos mit einer gewissen solidarischen Genugtuung -, dass auch er sich an (illegalen) Hamsterfahrten aufs Land beteiligt habe und seine Familie nun mit allerlei "Ersatz" den Kriegsm�ngeln und Versorgungskrisen trotzte.

Sein politisch wie publizistisch wirkungsvollstes Bet�tigungsfeld indes fand Hampe mit seinen Beitr�gen �ber die "belgische Frage", mit der sich der renommierte Mittelalterforscher seit Beginn des Krieges befasste. Die Abfassung des "heiklen Artikels" �ber Belgien in dem von dem Bonner National�konomen Hermann Schumacher besorgten und von den Historikern Otto Hintze, Friedrich Meinecke und Hermann Oncken co-edierten Sammelwerk "Deutschland und der Weltkrieg" betrachtete Hampe geradezu als seine patriotische Pflicht. Auf der Basis intensiver Recherchen und Aktenstudien und nach Besuchen des Generalgouvernements und Gespr�chen mit den deutschen Akteuren in Br�ssel entwickelte er seine Konzeption einer "teilweisen Annexion" Belgiens (etwa durch Abtrennung der Provinz L�ttich) und bef�rwortete fortan eine enge Zusammenarbeit mit der zahlenm��ig geringen und politisch einflusslosen fl�mischen Kollaborationsbewegung (unter anderem durch die Schaffung eines "Schutzstaates" mit "vl�misch-germanischer" Mehrheit), die er auf Vortr�gen sowie in zahlreichen Artikeln propagierte. F�r das brutale Vorgehen der deutschen Truppen beim v�lkerrechtswidrigen Einmarsch 1914 und die repressiven Seiten des Besatzungsregimes in Belgien fand Hampe immer wieder entschuldigende Worte. Nur allm�hlich, unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse �ber die entstellende Einseitigkeit des deutschen Wei�buchs in der Frage der belgischen Neutralit�t bei Kriegsausbruch und angesichts der mangelnden Unterst�tzung, die eine Trennung von Wallonen und Flamen in der belgischen Bev�lkerung fand, begann er seine Ansichten zur "Flamenpolitik" zu �ndern. Doch erst 1925 gestand Hampe ein, dass nicht er, sondern sein Heidelberger Kollege Max Weber mit seinem Eintreten f�r eine "uneingeschr�nkte Wiederherstellung Belgiens nach dem Kriege" seinerzeit richtig gelegen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hampe allerdings bereits seine Konversion von einem "Herzensmonarchisten" zu einem "Vernunftrepublikaner" vollzogen - ein Schritt, der ihm wie vielen seiner Professorenkollegen �u�erst schwer fiel.

Hampes Verh�ltnis zu Max Weber, dem unbestrittenen intellektuellen Kopf der Heidelberger Gelehrtenszene, war, wie das "Kriegstagebuch" offenbart, nicht frei von Spannungen. Beide teilten zun�chst die im deutschen Bildungsb�rgertum weit verbreitete nationale Aufbruchsstimmung von 1914 und auch in ihrer Beurteilung der deutschen annexionistischen Zielvorstellungen lagen sie in der ersten Zeit des Krieges nicht einmal sehr weit voneinander. Hingegen missfiel ihm Max Webers zunehmend kritischere Sicht der deutschen Reichspolitik im Inneren ("ma�lose, l�hmende Schwarzseherei") sowie dessen entschiedenes Eintreten f�r eine "r�ckhaltlose Parlamentarisierung der Reichsverfassung" (Wolfgang J. Mommsen), die Hampe als "einigerma�en gemeingef�hrlich" empfand. �hnlich abf�llig �u�erte er sich wiederholt �ber seine Heidelberger Kollegen Ernst Troeltsch, Hermann Oncken und Eberhard Gothein, die von ihm entweder als zu links stehend erachtet oder wegen ihrer Kritik an der Kriegf�hrung der Reichsleitung als unverbesserliche "Pessimisten" - eine seiner abwertenden Lieblingsvokabeln - geziehen wurden. Im Gegensatz zu ihnen blieb Hampe stets ein vorbehaltloser Verfechter des unbeschr�nkten U-Bootkrieges, nicht zuletzt weil er darin "ein gutes Abschreckungsmittel f�r alle Neutralen" erblickte und zugleich eine Chance, den Krieg entscheidend zu verk�rzen. Mit geradezu naivem Optimismus bejubelte er im "Kriegstagebuch" auch relativ unbedeutende Schlachtensiege der deutschen Truppen und vermeinte des �fteren einen Wendepunkt des Krieges zu Gunsten des Deutschen Reiches zu erkennen. Seine zunehmenden Zweifel an der F�hrungsf�higkeit des Kaisers kompensierte Hampe zun�chst mit einer schw�rmerischen Begeisterung f�r den "Sieger von Tannenberg", die ihn mitunter gar zur theologischen Formelsprache greifen lie�: "Die Hoffnung auf Hindenburg l�sst nicht zu schanden werden" (154). Wie stark der Hindenburg-Mythos inzwischen von ihm Besitz ergriffen hatte, unterstreicht sein im Oktober 1917 festgehaltener Wunsch, der von ihm als weithin unf�hig erachtete Reichskanzler Michaelis m�ge alsbald durch einen "Staatsmann � la Hindenburg" ersetzt werden.

Die "gro�e Niederlage" (Hampe) und die Novemberrevolution im Reich ("P�belherrschaft") trafen ihn, wie viele Angeh�rige des deutschen B�rgertums, mit gro�er Vehemenz, wenngleich nicht ganz unvorbereitet. "Der elendeste [sic!] Tag meines Lebens!" fasste Hampe am 10. November 1918 seine entsetzte Stimmung zusammen. Gleichwohl teilte er nicht die (auch von f�hrenden Sozialdemokraten vertretene) Ansicht, dass das Deutsche Heer "im Felde unbesiegt" gewesen sei. F�r Hampe war die Revolution die logische Folge der milit�rischen Niederlage, nicht umgekehrt. Immerhin schien er nun bereit, manche seiner bisherigen politischen Ansichten zumindest zu �berdenken, und mit seiner (vermutlich durch Max Weber beeinflussten) Option f�r die liberale Deutsche Demokratische Partei zugleich auch gewisse Konsequenzen zu ziehen.

Allerdings f�hrte das nicht dazu, dass Hampe nun seine im Weltkrieg an den Tag gelegte "nationale" Gesinnung grunds�tzlich infrage stellte. Im Gegenteil: F�r den Heidelberger Medi�visten wie f�r die meisten deutschen Historiker blieben die politischen Erfahrungen und vor allem der "Interpretationsrahmen" (Christoph Corneli�en) des Ersten Weltkriegs weiterhin pr�gend. Hierzu geh�ren sowohl sein nach wie vor ausgepr�gtes Misstrauen �ber die Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie als auch sein Eintreten f�r ein vornehmlich au�enpolitisch (das hei�t durch die gravierenden Bestimmungen des Versailler Vertrags) motiviertes "vaterl�ndisches Gemeinwohl". Leidenschaftlich beklagt Hampe bereits im Dezember 1918 den vermeintlichen Mangel an �berzeugenden Politikern: "Ein Bismarck fehlte" (803). Immerhin richten sich seine Kritik nun gleicherma�en gegen die Radikalen auf der Linken wie der Rechten des politischen Spektrums, und sein zwar b�rgerlich gez�hmter aber gleichwohl stets pr�senter Anti-Judaismus der Kriegsjahre macht einer gewissen Empathie f�r die Situation der nunmehr auch in Heidelberg offen diskriminierten Juden Platz: "Versuch eines Demonstrationszuges mit judenhetzerischen Plakaten [...] Schade, dass ehrliche vaterl�ndische Gesinnung zu so unpolitischen, sch�dlichen Mitteln greift" (913).

Karl Hampes Tagebuch ist ein au�erordentliches Dokument des b�rgerlichen Kriegsalltags und der Erfahrungen und Reflexionen eines deutschen Hochschullehrers von 1914 bis 1919. Dank einer �beraus kenntnisreichen Einf�hrung sowie der vorbildlichen Kommentare und Annotationen der beiden Herausgeber stellt dieses musterg�ltig edierte Tagebuch eine ebenso aussagekr�ftige wie aufschlussreiche Geschichtsquelle des Ersten Weltkriegs dar.


Redaktionelle Betreuung: Nils Freytag

Empfohlene Zitierweise:

Gerhard Hirschfeld: Rezension von: Folker Reichert / Eike Wolgast (Hg.): Karl Hampe. Kriegstagebuch 1914-1919, M�nchen: Oldenbourg 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 3 [15.03.2005], URL: <http://www.sehepunkte.historicum.net/2005/03/5792.html>

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