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Uwe Spörl

Schneisen im >Wald der Fiktionstheorien<

  • Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft - Wuppertaler Schriften; 2) Berlin: Erich Schmidt 2001. 344 S. Kart. EURO (D) 34,80


Das Ziel: differenzierender Rückblick
und integrierender >Durchblick<

Der Befund, mit dem der Mainzer Literaturwissenschaftler Frank Zipfel seine 1999 bei Dieter Lamping erstellte Dissertation einleitet, ist ebenso unangenehm wie zutreffend: Angesichts der unüberschaubaren Masse an Publikationen zum Fiktionsbegriff und -problem nicht nur in den Literaturwissenschaften einerseits und der undurchsichtigen Heterogenität der verschiedenen Begriffe, Ansätze und Theorien andererseits ist heute kaum mehr zu leugnen, "daß immer weniger klar ist, was mit der Rede von Fiktion in bezug auf Literatur eigentlich gemeint wird." (S. 17).

Es wurde also Zeit für die Literaturwissenschaft(en), zurückzublicken, um diese Masse der Fiktionsbegriffe und -theorien zu sichten und auf ihre Haltbarkeit, Verwendbarkeit und Reichweite hin kritisch und an heutigen Theorieansprüchen zu prüfen; Zeit aber auch für einen Versuch, die Heterogenität dieser Theorien, die nicht selten den Anspruch universaler Gültigkeit erheben, abzuarbeiten und womöglich sogar ein integratives Modell zu entwickeln, das den spezifischen Erkenntnismöglichkeiten einzelner Fiktionstheorien und den theoretischen Ansprüchen einer nach- poststrukturalistischen Literaturwissenschaft gerecht werden kann.

Beides zu leisten, nimmt Zipfel sich vor. Das Vorhaben der Arbeit alleine ist also schon nicht hoch genug einzuschätzen, erfordert es doch sowohl fundierte Kenntnisse verschiedener literaturwissenschaftlicher und -theoretischer Traditionen (vor allem aus dem deutschen, französischen und angelsächsischen Sprachraum) als auch Vertrautheit mit verschiedenen Theorien und Positionen der Philosophie des 20. Jahrhunderts (vor allem aus dem Umfeld der >analytischen Philosophie<). Und auch der Gegenstandsbereich von Zipfels Metatheorie selbst ist nicht nur umfangreich – das Literaturverzeichnis (vgl. S. 327– 344) liefert eine beeindruckende Liste von fiktionstheoretischer Literatur –, sondern auch bedeutend für das Fach. Denn seit Aristoteles alle Poesie als mimesis definierte und betonte, dass Dichtung gerade deshalb philosophischer sei als Geschichtsschreibung, weil sie sich nicht (direkt) auf Tatsachen bezieht, ist das Konzept der Fiktion aus der Beschäftigung mit Literatur kaum mehr wegzudenken. Gerade die Zahl der philosophischen und literaturwissenschaftlichen Überlegungen zur Fiktionalität der Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also unter Bedingungen der disziplinären und akademischen Beschäftigung mit Literatur entstanden sind, bestätigen die Bedeutung des Fiktionsbegriffs für ein angemessenes Verständnis davon, was Literatur ist, kann und soll.

Noch mehr zu loben ist ein solcher Versuch natürlich dann, wenn er gelingt. Und genau dies scheint mir der Fall zu sein, auch wenn – zugegeben – die Gelingensbedingungen für ein solches Unternehmen nur schwer zu explizieren sind.

Der Weg: >Sprachhandlungstheorie<

Die Rede von "Gelingensbedingungen" entspricht durchaus Zipfels Ausgangspunkt: Seinen "Analysen zur Rede von Fiktion in bezug auf Literatur wird ein sprachhandlungstheoretisches Verständnis von Sprache zugrundegelegt" (S. 30), das er in Kapitel 2 erläutert: Aus Kommunikationstheorie, Sprechakttheorie und Textlinguistik entwickelt, untersucht die >Sprachhandlungstheorie< Texte in Handlungs- bzw. Interaktionszusammenhängen. Durch dieses Verständnis ist die Richtung des Weges, den Zipfel gehen will, in verschiedener Hinsicht vorbestimmt: Er ist orientiert an Texten als Handlungen, an der Vergleichbarkeit von fiktionalen und nicht- fiktionalen, >faktualen< Texten und an der Referenzfunktion von Sprache, ohne die diese nicht alltagstauglich wäre und fiktionale Texte gar kein theoretisches Problem darstellen würden.

"Die Kategorie der Referenz in bezug auf sprachliche Phänomene grundsätzlich auszusparen", hält Zipfel dementsprechend (mit dem Rezensenten) für "eine der größten kulturwissenschaftlichen Absurditäten des 20. Jahrhunderts" (S. 56). Damit begrenzt er den zu untersuchenden und zu integrierenden Gegenstandsbereich auf literaturwissenschaftlich Relevantes und lässt alle diejenigen Theorien außen vor, die eine grundsätzliche Fiktionalität aller Sprache annehmen und damit einen spezifischen und effektiven literaturwissenschaftlichen Fiktionsbegriff verabschiedet haben.

Mit dem sprachhandlungstheoretischen Ansatz beschreibt Zipfel nun seinen eigentlichen Gegenstandsbereich: fiktionale schriftsprachliche Erzähltexte als paradigmatische Gegenstände der zu entwickelnden integrativen Fiktionstheorie und der zu sichtenden Fiktionstheorien. Diese sind als Schrift-Texte in eine spezifische, >zerdehnte< Sprachhandlungssituation eingebettet; als Erzähl- Texte sind sie Ergebnisse "einer komplexen sprachlichen Tätigkeit, [nämlich] des Erzählens" (S. 59). Damit eröffnen sich der weiteren Analyse vier Möglichkeiten:

  1. Zipfel kann das Beschreibungs- und Differenzierungspotential der (literaturwissenschaftlichen) Narratologie in seine integrative Beschreibung fiktionaler Erzähltexte übernehmen.

  2. Die Fiktionalität von Erzähltexten ist unabhängig von ihrer Ästhetizität, insbesondere unabhängig von Werturteilen zu bestimmen; die Begriffe >Fiktion< und >Literatur< stehen also in keinem gegenseitigen Abhängigkeits- oder Implikationsverhältnis.

  3. Was die Fiktionalität solcher Texte ausmacht, kann im Vergleich mit entsprechenden >faktualen< Texten untersucht und dargestellt werden.

  4. Dasselbe gilt für den meta-theoretischen Aspekt der Untersuchung: "Das sprachhandlungstheoretische Textkonzept" dient Zipfel so auch als "Grundlage einer Theorietopologie" (S. 61), mittels derer die zu prüfenden Fiktionstheorien – in einer exemplarischen Auswahl – bestimmten &qot;Theorieorten" zugewiesen, dadurch prägnant dargestellt und schließlich in die Gesamtheit des "Theoriegebäudes" (S. 62) integriert werden können.

Die vier >Orte< der >Topologie< entsprechen den Hauptkapiteln der Untersuchung: Kapitel 3 beschäftigt sich mit >Fiktivität<, d.i. "Fiktion im Zusammenhang der Geschichte" (S. 68), Kapitel 4 mit >Fiktionalität<, d.i. "Fiktion im Zusammenhang des Erzählens" (S. 115), beide also mit zwei üblicherweise (und auch terminologisch gerne so) unterschiedenen Aspekten der "Text-Struktur" (S. 61). Es folgen Kapitel 5 zur "Fiktion im Zusammenhang der Textproduktion" (S. 182), Kapitel 6 zur Rezeption und Kapitel 7 zur "Fiktion im Zusammenhang der Sprachhandlungssituation" (S. 279). Dem im Verlauf der Untersuchung entwickelten Schaubild zur Sprachhandlungssituation schriftsprachlicher fiktionaler Erzähltexte (S. 119) zufolge bewegt sich die Untersuchung Zipfels also von innen nach außen:

Abseits des Wegesrands

Von paradigmatischen Gegenständen – also hier: zweifelsfrei fiktionalen Erzähltexten – auszugehen, ist sicherlich der einzig gangbare Weg, wenn man ein so großes, doppeltes Ziel anstrebt, vorhandene Theorien zu solchen Gegenständen zu prüfen und zu einer Gesamttheorie zu integrieren. Dieser Weg bringt allerdings auch einige Beschränkungen mit sich: Fiktionstheorien und -begriffe, die sich nicht primär auf Erzähltexte beziehen, können ebenso wenig zur Sprache kommen wie Fragen zur Fiktionalität von lyrischen, dramatischen und anderen Texten oder von Dramen, Filmen, Bildern, Skulpturen, Videoclips, Performances, Musik und anderen Kunstprodukten in anderen Medien – oder gar von Spielen.

Im Abschnitt 8.1 zur "Fiktion in lyrischen und dramatischen Texten" (S. 299) skizziert Zipfel zwar, wie solche Fragen für Texte dieser beiden >Gattungen< beantwortet werden können, und deutet ein per Analogie operierendes Übertragungsverfahren für dramatische Bühnenrealisierungen an, das eben nicht von einer "Sprachhandlungspraxis", sondern von einer "Aufführungspraxis" ausgeht (S. 313). Gerade diese Überlegungen zum Drama erweisen sich aber als kontraintuitiv – der Dramentext als "direktive Sprachhandlung" (S. 312) soll nicht-fiktional, kann als Lesetext aber fiktional sein – und weisen insofern auch auf die Schwierigkeiten hin, denen solche Übertragungen ausgesetzt sein dürften.

Ebenfalls nicht in Betracht kommen Fiktionstheorien, die nicht primär an (fiktionalen Darstellungen der) Kunst interessiert sind, sondern sich eher mit den ontologischen Problemen beschäftigen, die sich mit dem Begriff der Fiktion bzw. mit der Annahme fiktiver Gegenstände ergeben – also etwa dem Problem nicht-referierender Ausdrücke (Frege, Russell) oder dem nicht- existenter Gegenstände (Meinong). Dasselbe gilt für solche Theorien, die eher an den erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Aspekten der menschlichen Fiktions-, Hypothesen- oder Modellbildung interessiert sind. Die Frage nach dem Erkenntniswert literarischer Fiktionen behandelt Zipfel zwar im Kapitel zur Rezeption, ein eigenes Kapitel kommt diesem für andere Theoretiker zentralen Aspekt von Fiktionalität wegen des sprachhandlungstheoretischen Rahmens jedoch nicht zu.

Unbeachtet bleiben schließlich aus demselben Grund auch solche Ansätze, die Fiktionen als das Ergebnis einer psychischen oder anthropologischen Kompetenz oder Grunddisposition des Menschen – Phantasie, Imagination, Einbildungskraft, Illusionsbildung, Intentionalität usw. – behandeln, dies aber sehr wohl auf die Produktion und Rezeption von Kunst bzw. Literatur beziehen. 1

Fiktive Personen und Geschichten

Zurück zu Zipfels Weg durch den >Wald der Fiktionstheorien<, den er mit der wohl größten Auffälligkeit von Fiktionen beginnt – der Tatsache nämlich, dass die erzählte Geschichte "nicht wirklich stattgefunden hat" (S. 68). Gerade unter Intellektuellen, die vom Poststrukturalismus oder Konstruktivismus geprägt sind, gilt zwar jede vermeintliche >Wirklichkeit< als konstruiert und damit fiktiv, zur literaturwissenschaftlichen Analyse von Fiktionen trägt diese Ansicht aber sicherlich nicht bei. Klar ist aber auch, dass man heute keinen naiven Realitätsbegriff mehr voraussetzen darf. Dementsprechend orientiert sich Zipfel an Nelson Goodmans Pluralismus der >Welt-Versionen<, der gleichwohl die Annahme einer >pragmatischen Alltagswirklichkeit< als einer solchen >Welt-Version< zulässt. Als >Realität< gilt Zipfel und den hier untersuchten Fiktionstheorien also das, was wir bzw. was bestimmte Kulturen alltäglich als Wirklichkeit annehmen. Diese folglich historisch und kulturell variable >Wirklichkeit< setzt sich – folgt man etwa Hilary Putnams Bedeutungstheorie – wiederum nicht nur aus Alltagswissen, sondern auch aus dem potentiell abrufbaren Expertenwissen einer Kultur zusammen.

Die Fiktivität einer Geschichte ist somit als Abweichung von dieser Wirklichkeit anzusetzen, genauer: als mögliche Abweichung ihrer Handlungsträger (Personen), Orte und Zeiten. Zudem erlauben die Art oder der Grad der Abweichung natürlich weitere Differenzierungen, die Zipfel im Folgenden anhand vorliegender Fiktionstheorien diskutiert. Dabei kommen insbesondere drei Punkte zur Sprache:

(1) Ausgehend von der weithin geteilten Annahme, dass fiktive Geschichten nur bis zu einem gewissen Grad von der >Wirklichkeit< abweichen können, sollen sie noch erzähl- und verstehbar sein, lassen sich zu fiktiven Geschichten immer auch >fiktive Welten< konstruieren, in die diese eingebettet sind. Ihr Konstruktionsprinzip ist eines der minimalen Abweichung, eine Art ceteris paribus-Klausel, nach der die fiktive Welt grundsätzlich nicht von der >realen< abweicht, es sei denn, der Text erfordert dies explizit oder per Interpretation. 2 Dieses Konstruktionsprinzip wurde insbesondere von Fiktionstheorien (etwa von David Lewis oder Lubomír Dolezel) ausformuliert, die das modallogisch-semantische Konzept >möglicher Welten< von der Logik und Semantik auf die Fiktionstheorie übertrugen. Nur schwer verständlich ist also, dass Zipfel dieses Theoriemodell ablehnt, weil es den Spielraum für fiktive Welten zu sehr einenge. Denn fiktive Welten können – so Zipfel – den Rahmen des Möglichen durchaus überschreiten.

(2) Genau darin besteht die Unterscheidung zwischen >Realistik< und >Phantastik<, wie Zipfel sie vornimmt: In >realistischen< Geschichten gibt es nur Ereignisträger, Ort und Zeitpunkte, die – wenn schon nicht existent – immerhin möglich sind, in >phantastischen< gibt es hingegen auch solche, die unmöglich sind.

Ganz abgesehen davon, dass dieser Phantastik-Begriff mit eingeführten literaturwissenschaftlichen Konzepten von Phantastik, etwa dem Tzvetan Todorovs, kollidiert, hängt die Zuordnung zu einem der beiden Typen von Geschichten natürlich wesentlich von dem ab, was man für möglich hält. Zipfels Begriff des Möglichen wiederum scheint mir – ganz unabhängig von der Unterscheidbarkeit verschiedener Grade von Realitätsabweichung – jedoch erheblich zu eng zu sein und führt deshalb zur Ablehnung der modallogisch inspirierten Fiktionstheorien. So hält er zum Beispiel alle Geschichten, die in der Zukunft angesiedelt sind, alleine deshalb für phantastisch, weil er jeden zukünftigen Zeitpunkt per se für einen nicht- möglichen ansieht.

(3) Fiktive Geschichten setzen sich im Allgemeinen aber nicht nur aus fiktiven Ereignisträgern, Orten und Zeiten zusammen, sondern auch aus real existierenden – oder ihren fiktiven Pendants. Dementsprechend diskutiert Zipfel verschiedene Theorien des Verhältnisses von fiktiven und realen Gegenständen in fiktiven Geschichten und präsentiert mit Thomas Pavels surrogate objects eine effektiv differenzierende Zwischenstufe: Gegenstände, die erkennbar auf reale Gegenstücke bezogen sind, aber ebenso erkennbar von ihnen abweichen. 3

Vor dem Hintergrund solcher dezidiert ontologischen Überlegungen und ontologisierender Redeweisen ist allerdings nur bedingt verständlich, dass Zipfel "[d]ie Frage, welche Art der Ontologie oder Semantik der Rede über fiktive Gegenstände zugrunde liegt" (S. 104), für literaturwissenschaftlich uninteressant hält.

Fiktionales Erzählen

Während der sprachhandlungstheoretische Ansatz, der von Texten (als Handlungen) ausgeht, also in Bezug auf das ontologisch-semantische Konzept der Fiktivität gewisse Probleme bereitet, erweist er sich als sehr geeignet dafür, die differenzierenden Beschreibungskategorien der Narratologie in die (erzähltextbezogene) Fiktionstheorie zu integrieren – und so ein Konzept der Fiktionalität des Erzählens zu ermöglichen.

Dabei handelt es sich natürlich in erster Linie um die Unterscheidungen zwischen Autor und Erzähler sowie zwischen Erzählen und Erzähltem, aber natürlich auch um detailliertere Differenzierungen wie die zwischen unterschiedlichen Fokalisierungen, zwischen Homo- und Heterodiegese und dergleichen mehr. Sprachhandlungstheoretisch wird nunmehr also zwischen einer externen Sprachhandlungssituation (mit Autor, Erzähltext1 und Leser) einerseits und einer internen (mit Erzähler, Erzähltext2 und fiktivem Adressaten) andererseits unterschieden, wobei sich natürlich die beiden Texte (von unterschiedlichen Paratexten abgesehen) textuell nicht unterscheiden, sprachhandlungstheoretisch aber sehr wohl.

Fiktionalität bezüglich der so modellierten internen Sprachhandlungssituation >Erzählen< liegt also dann vor, wenn das Erzählen in bestimmten Hinsichten vom Modell tatsächlichen Erzählens abweicht, wenn also die Differenzierung der beiden Sprachhandlungssituationen sinnvoll ist. Die möglichen Abweichungen entfaltet Zipfel ausgehend von der erzähltheoretischen Grundunterscheidung von Homodiegese (Ich-Erzählung, in der der Erzähler auch als Figur vorkommt) und Heterodiegese (Er-Erzählung, in der er nicht vorkommt), da sich beide Erzählformen im Hinblick auf die Fiktionalität des Erzählens verschieden verhalten.

Die fiktionale Er-Erzählung weicht nämlich üblicherweise erkennbar von den Regularitäten faktualen Erzählens ab, weil sie Sachverhalte präsentiert, von denen man nicht annehmen kann, dass sie ein realer Erzähler von tatsächlich Geschehenem wissen kann: Details, Wissen über Fremdpsychisches, Einnahme der Perspektiven der erzählten Figuren und dergleichen mehr, die man nur einem in gewisser Hinsicht >phantastischen< Erzähler zuordnen kann.

Die fiktionale Ich-Erzählung weist hingegen auf der Ebene des Erzählens gerade keine wesentlichen Unterschiede zu ihrem faktualen Pendant auf, denn sie >fingiert< dieses schlicht. Den Begriff des Fingierens führt Zipfel bedauerlicherweise nicht explizit ein, er scheint jedoch – als Nachahmung von Handlungsmustern – den Fall, den Zipfel hier als Standardfall behandelt, genau zu treffen, die pseudo-autobiographische Erzählung nämlich. Hier ist die Differenzierung zwischen Erzähler und Autor tatsächlich oft nur dann möglich und die Annahme von Fiktionalität folglich plausibel, wenn es textexterne (paratextuelle) Signale dafür gibt, etwa wenn die Namen von Autor und Erzähler nicht übereinstimmen. Fraglich ist jedoch, ob pseudo- autobiographisches Erzählen tatsächlich der homodiegetische Normalfall ist. Zipfel erörtert zwar verschiedene Sonderfälle, etwa Präsens- Erzählungen, Erzählungen im inneren Monolog usw., darunter auch "Abweichungen vom fingierten autobiographischen Erzählen" (S. 136). Aber er beschreibt alle Homodiegesen nur in Bezug auf diese >Norm<, so dass Ich- Erzählungen, die sich gerade durch eine spezifische Nähe von erzählendem und erlebendem Ich auszeichnen, also keine Autobiographie fingieren, nicht eigens thematisiert werden.

Doch unabhängig davon, wie derlei Detailfragen gelöst werden, ist Zipfels Ansatz sicherlich gerade darum zu beachten, weil er die Fiktivität der Geschichte "erzähllogisch" (S. 167) mit der Fiktionalität des Erzählens relationiert, beide aber unabhängig voneinander begrifflich formiert. So kann etwa der Problemfall der non-fiction novel als fiktionales Erzählen von Faktischem erfasst werden.

Produktion und Rezeption von fiktionalen Erzähltexten:
Fiktion als Spiel

Die Verdoppelung der Sprachhandlungssituation für fiktionale Erzähltexte wirft natürlich die Frage auf, in welchem Verhältnis der (reale) Autor und der (reale) Leser zu diesem fiktionalen Text stehen. Wiederum diskutiert Zipfel vorhandene Ansätze, diese Frage(n) zu beantworten, und entwickelt ausgehend davon eine eigene Position. Diese ist hier jedoch weniger integrativ, da sich Zipfel, sowohl was die Textproduktion als auch was die Rezeption angeht, eher einem bestimmten Beschreibungsansatz anschließt als mehrere zusammenzufassen.

So weist er – aus verschiedenen Gründen und unterschiedlich deutlich – insbesondere Theorien zurück, die dem Autor fiktionaler Texte eine bestimmte, vom Sprechakt der Behauptung abweichende (Sprech-)Absicht unterstellen, um damit das Problem der fehlenden oder unmöglichen Wahrheit solcher fiktionaler Sätze zu lösen. Die Argumente, die er gegen Gottfried Gabriels pragmatisch-semantische Theorie fiktionaler Rede als "nicht-behauptender Rede", also insbesondere als "Rede ohne Anspruch auf Referenzialisierbarkeit" 4 üblicherweise referierender Ausdrücke anführt, können jedoch nur wenig überzeugen.

Zipfel präferiert ein Beschreibungsmodell für das Verhältnis Autor – fiktionaler Erzähltext – Leser, das sich zumindest im angloamerikanischen Raum als eine Art Standard etabliert hat und in dessen Zentrum der Begriff des make-believe steht. Die Vorteile dieses Beschreibungsmodells sieht Zipfel offenbar darin, dass es intuitiv einleuchtet und gleichermaßen auf die Produktion wie die Rezeption von Fiktionen eingeht, ja beide aufeinander bezieht und insofern seinem Gesamtansatz entgegenkommt. Vehement lehnt er rein autorbezogene, intentionalistische Fiktionstheorien ebenso ab wie rein rezeptionsbezogene, auch wenn die make-believe-Theorie der Fiktionalität ursprünglich genau so konzipiert worden war. 5

Seine Überzeugungskraft gewinnt das Konzept vor allem durch die Analogie zum (Kinder-)Spiel, in dem sich Gegenstände in Spiel-Utensilien und Personen in Mitspieler verwandeln können. Für fiktionale Texte heißt es, "daß der Leser für die Zeit der Lektüre in einer ähnlichen Weise daran glauben [wird], daß das, was er liest, eine wahre Geschichte ist" (S. 216). Dies ist somit für Zipfel die Haltung, mit der ein fiktionaler Text zu lesen ist und die vom Autor eines solchen Textes als Rezeptionshaltung des Lesers beabsichtigt wird. Und wie bei jedem Spiel ist auch der Leser von Fiktionen dazu in der Lage, sich selbst als Fiktionsteilnehmer zu beobachten, also im Bewusstsein der Fiktionalität des Gelesenen zu lesen. Dieses Phänomen kann Zipfel elegant mit seiner >Verdoppelung< des Rezipienten als interner Adressat und externer Leser beschreiben.

Im Zusammenhang mit der Fiktionsrezeption kommt Zipfel schließlich auf zwei weitere Punkte zu sprechen. Da sind zum einen die textuellen und paratextuellen Fiktionsmerkmale und ihre Deutung: Sie erlauben es dem Leser von fiktionalen Texten zu erkennen, dass er es mit Fiktionen zu hat; oder sie spielen mit den Konventionen, die übliche Deutungsmuster solcher Signale etabliert haben.

Der andere Punkt betrifft die bereits erwähnte Frage nach dem Erkenntnis- oder Wahrheitspotential fiktionaler Texte, genauer gesagt: nach dem Erkenntnispotential von literarischen Texten oder von Kunstwerken im Allgemeinen. Nelson Goodmans Konzept der Exemplifikation als umgekehrter Denotation, auf das sich Zipfel hier bezieht, betrifft nämlich diese, nicht jene, wie er zurecht hervorhebt. Es sind dennoch natürlich gerade fiktionale, nicht >natürlich< denotierende Texte, die diese umgekehrte Denotation auslösen können, die man also geneigt ist, als >Exempel< anzusehen, als Besonderes zu einem zu findenden Allgemeinen: als Gegenstände der Kantischen >reflektierenden Urteilskraft< oder der Ästhetik also. In Bezug auf die Frage, welche Erkenntniskraft wir fiktionalen Texten im Besonderen und Kunstwerken im Allgemeinen zuschreiben dürfen, ist sich Zipfel also mit dem eben noch kritisierten Gottfried Gabriel einig.

Der Weg aus dem >Wald der Fiktionen<:
Die Praxis der Fiktion

Oben habe ich darauf hingewiesen, dass Zipfels Analysen – bezogen auf sein Schaubild für die Sprachhandlung >fiktionales Erzählen< – einem Weg von innen nach außen folgen. Ich befinde mich nun, indem ich Zipfel auf seinem Weg durch den >Wald der Fiktionstheorien< und zu den verschiedenen Momenten dieser ganz besonderen Sprachhandlung gefolgt bin, mit ihm am Rand dieses Waldes, bei der Basis seiner sprachhandlungstheoretischen Fiktionstheorie.

Diese besteht in der Beschreibung der externen Sprachhandlungssituation des fiktionalen Erzählens als eingebettet in und ermöglicht durch eine etablierte, konventionalisierte und institutionalisierte "Sprachhandlungspraxis Fiktion" (S. 279). Sie umfasst insbesondere eine Art impliziten >Vertrag<, den der Autor und der Leser fiktionaler Erzähltexte miteinander schließen und so die entsprechende Produktion und Rezeption ermöglichen. Diese soziokulturelle Praxis ist es also, die Fiktion ermöglicht und so die Extension des Begriffs – wenn auch nicht ganz scharf – begrenzen dürfte.

Ein Vorteil dieser Theorie-Architektur: Sie ist systematisch stringent und historisch flexibel; denn natürlich können in (historisch) unterschiedlichen Kulturen verschiedene oder gar keine Fiktionspraxen vorliegen. Die Praxis des modernen Westens hat Zipfel im Grundsätzlichen adäquat und vollständig beschrieben, und zwar unter Rückgriff auf verschiedene Theorien und Konzepte aus der abendländischen Wissensform Wissenschaft. Auf einer höheren Abstraktionsebene kann diese Theorie aber sicherlich auch dazu dienen, möglicherweise andere solche Praxen oder ihre Differenzen zu unserer zu beschreiben.


Dr. Uwe Spörl
FernUniversität Hagen
Institut für neuere deutsche und europäische Literatur
Feithstr. 188
D-58084 Hagen
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Manfred Engel. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Thorsten Wufka.


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Anmerkungen

1 Einige Überlegungen Roman Ingardens, der – so Zipfel – eben vom >Urteil< bzw. >Quasi-Urteil< und nicht vom Text als Handlung ausgeht, kommen zwar andeutungsweise zur Sprache, mit der Nichtbeachtung der daran anschließenden Theorie Eckhard Lobsiens zur Illusionsbildung vergibt Zipfel meiner Ansicht nach jedoch eine Möglichkeit, die eigene Theorie noch weiter auszudifferenzieren. Verständlich scheint mir hingegen der explizite Ausschluss der Imaginationstheorie von Wolfgang Iser, dem zurecht die "reichlich spekulative Ausführung" seiner zentralen Trias von Realem, Fiktivem und Imaginärem vorgeworfen wird (S. 184). – Vgl. insbes.: Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Tübingen 4. Aufl. 1972 [1931];
Eckhard Lobsien: Theorie literarischer Illusionsbildung. Stuttgart 1975;
Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt / M. 1991.   zurück

2 In diesem Zusammenhang orientiert sich Zipfel – wie überhaupt hier und in anderen Kapiteln – an den Überlegungen von Peter Lamarque und Stein Haugum Olsen. – Vgl. insbes.: Peter Lamarque: Fictional Points of View. Ithaca, London 1996 und Ders. / Stein Haugom Olsen: Truth, Fiction and Literature. A Philosophical Perspective. Oxford 1994.   zurück

3 Vgl. Thomas Pavel: Fictional Worlds. Cambridge, Mass., London 1986.   zurück

4 Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur (problemata; 51) Stuttgart, Bad Canstatt 1975, S. 28.   zurück

5 Der zentrale Text der make-believe -Theorie – Kendall L. Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge, Mass., London 1990 – ist nicht nur auf literarische Fiktionen bezogen und rezeptionsästhetisch ausgerichtet. Gregory Currie entwickelte davon ausgehend eine produktionsorientierte, intentionalistische Fiktionstheorie; vgl. insbes.: The Nature of Fiction. Cambridge 1990.  zurück