- Inga Meincke: Vox viva. Die "wahre Aufklärung" des Dänen Nikolaj Frederik Severin Grundtvig. (Skandinavistische Arbeiten, Band 17) Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 2000. 371 S. Geb. DM 98,-.
ISBN 3-8253-1045-0.
Kontext der Dissertation
Den skandinavi(sti)sch orientierten Leserinnen und Lesern muß der Däne Nikolaj Frederik Severin Grundtvig (1783—1872) nicht erst vorgestellt werden. Alle anderen dürften bislang kaum Gelegenheit gehabt haben, seine Bekanntschaft zu machen, obwohl eine Auseinandersetzung mit ihm für kulturwissenschaftlich Interessierte reizvoll sein kann. Die Sprachbarriere, die der ausländischen Rezeption von Grundtvigs Werk entgegensteht, wird für die deutsche Leserschaft in nächster Zeit fallen: 1 Projektiert ist eine dreibändige Ausgabe seiner Schriften, die mit einer Auswahl von theologischen, philosophischen, historischen, politischen, pädagogischen und poetischen Texten die beachtliche Bandbreite von Grundtvigs Produktion dokumentiert.
Kann dieser universalistische Charakter des schriftstellerischen Einsatzes bei einem Autor der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts kaum erstaunen, so tut dies der originelle Anspruch, der Grundtvigs Werk im heutigen Dänemark nachgesagt wird. Seinem Einsatz wird das Potential zugeschrieben, Lösungsmöglichkeiten für ein ebenso aktuelles wie globales politisches Problem aufzuzeigen: Ihm soll es gelungen sein, das Konzept einer nationalen Gemeinschaft auf den Weg der dänischen Realgeschichte gebracht zu haben, das die Werte der Aufklärung realisiert und zwei gegenläufige Gefährdungen moderner Gesellschaften — Atomismus und chauvinistischen Nationalismus — gleich gut abwehrt.
Inga Meincke, die Autorin der vorliegenden Dissertation, kann diese Auffassung von Grundtvigs Werk allerdings nicht im mindesten teilen. Sie beschließt die Einleitung zu ihrer Arbeit mit dem kategorischen Satz: "Denn die Aufklärung des Nikolaj Frederik Grundtvig, in dessen >tiefer Schuld< sich die >dänische Demokratie< heute noch sieht, ist Gegenaufklärung" (S.74).
Meinckes Frankfurter Dissertation ist eine Thesenarbeit: Ein Überblick über ihre Argumentation muß daher dem Bewertungsversuch vorangestellt werden.
Argumentative Grundzüge der Dissertation:
Meincke arbeitet in ihrer Dissertation Grundmerkmale von Grundtvigs Texten heraus, die sich auf das spezielle Wissen(schaft)sverständnis des Autors zurückführen lassen.
Die drei Hauptteile der kritischen Studie veranschaulichen bereits im Aufbau die Überzeugung, daß Grundtvigs Textproduktion nicht auf dem Prinzip der Ratio, sondern dem des Mythos basiere. Die drei großen Stationen ihrer Argumentation korrespondieren den Stadien, die nach ihrer Auffassung Grundtvigs eschatologisches Weltbild reflektieren und seine spezifische Korrelation von Heilsgeschichte, Weltgeschichte und einer ins Hagiographische übersteigerten Autobiographie strukturieren sollen.
Der Titel des ersten Teils lautet "Seeland. Edens Ebenbild" und ist Meinckes Beobachtung geschuldet, daß Grundtvig die dänische Region, in der sich sein Geburtsort befindet, als "Land des Ursprunges" und "Land der Verheißung" in seinem geschichtlichen Verlaufsmodell figurieren läßt. Untersucht werden die Verfahren, durch die Grundtvig Dänemark zum Anfangs- und Schlußschauplatz eines idealhistorischen Verlaufs erhebt. Um sein Geburtsland nicht nur als Ort des vergangenen Guldalder [= goldenes Zeitalter], sondern auch des kommenden Gylden-Aar [= Güldenjahr] auszuweisen, kombiniere er eine symbolische Lektüre der seeländischen Inselnatur mit einer Spezialexegese antiker Texte, durch die er u.a. die Genealogie der Dänen bis auf alttestamentarische Stämme zurückführe. Um die Auserwähltheit des dänischen Volkes aufzeigen zu können, falle Grundtvig hinter den wissenschaftlichen Standard seiner Zeit zurück: Er bediene sich nicht nur einer veralteten gotizistisch-nordistischen Interpretationstradition, sondern vertrete darüber hinaus ein vorkopernikanisches Weltbild.
Meincke läßt der Ablehnung, die Grundtvig durch das akademische Milieu in Kopenhagen zuteil wurde, einiges Gewicht für die weitere Gestaltung seiner Texte zukommen, da er sie als Zeichen seiner Auserwähltheit und seines Status' als Wissenschaftler gewertet habe. Seine Vidskab [= Grundtvigs archaisierender Begriff für seine Wissenschaft] jedoch, in deren Kontext die Parallelisierung von Welt-, Heils- und eigener Lebensgeschichte praktiziert werde, erhebe nicht nur einen übersteigerten Erkenntnisanspruch, sondern immunisiere sich auf unwissenschaftliche Weise gegen kritische Überprüfungen. Grundtvig gehe davon aus, daß die historische Wissenschaft mehr könne, als dem Menschen seine Stellung in der Welt und zu Gott zu erhellen: sie ermögliche der (dänischen) Menschheit den Blick auf ein neues goldenes Zeitalter.
Der Preis dafür ist nach Meinckes Auffassung jedoch zu hoch: Einschlägiges Wissen könne nur mit dem Herzen gefühlt werden; an die Stelle von Empirie trete eine ästhetische Wahrnehmungslehre, die den großen Nachteil habe, nur von Grundtvig selbst beherrscht zu werden. Er, der sich in ungebrochener Tradition zu den seherischen Skalden der Edda begreife, billige sich die erforderliche Fähigkeit zur nordisch-historischen Anschauung auf exklusive Weise zu. Indem er Gott als seinen Wahrheitszeugen benenne, entwickele er eine Legitimationsstrategie, in der das eigene Leben zu dem Gegenstand werde, an dem Grundtvig seine historisch-poetische Wissenschaft bevorzugt praktiziere. Nichtsdestoweniger fühle Grundtvig sich in seinen autobiographischen Schriften nicht zur Exaktheit verpflichtet, erst durch die Bearbeitung enthülle sich der zeichenhafte Charakter seines Lebens.
Der zweite Abschnitt der Arbeit ist "Das kostbare Jütland" benannt, was damit gerechtfertigt wird, daß diese Region bei Grundtvig dem heilsgeschichtlichen Stadium des Falles korrespondiere: Anders als Seeland, das mit dem Topoi der zeitlos-paradiesischen Natur korreliert sei, verbinde sich Jütland für Grundtvig mit der Idee geschichtlichen Handelns.
Die Autorin leitet diesen Abschnitt, in welchem sie Grundtvigs Konzeptionen über die Weltgeschichte und das Weltgericht darlegt sowie die Bedingungen für das Heranbrechen des Gylden-Aar entwickelt, mit einer Untersuchung des Motivs der Krise in Grundtvigs eschatologischer Konstruktion ein. Diese Problematik entwickelt sie an Grundtvigs Verhältnis zur französischen Revolution: In seiner selbst gewählten Rolle als Prophet bedürfe er einer krisenhaften historischen Situation, um seine Zuhörer vor die existentielle Entscheidung für oder gegen die von ihm verkündete Wahrheit stellen zu können. Die französische Revolution, die er aus der Pe
rspektive seiner Kindheit in Udby behandele, interpretiere Grundtvig als Krise der christlichen Welt, die abwendbar sei, falls der Mensch sich über sich selbst nur wahrhaft aufklären wolle. Als aufklärerisches Rettungsmittel gebe Grundtvig die eigene historisch-poetische Wissenschaft aus, die das dänische Volk darüber in Kenntnis setze, daß es aufgrund der geschichtlichen Entwicklung und der eigenen geistigen Stärke dazu auserkoren sei, das Gylden-Aar zu erleben. Hierzu aber müsse es seine Folkelighed [= Volklichkeit] unter Beweis stellen, wofür Grundtvig das Konzept der Herkunftsgemeinschaft um das der Überzeugungsgemeinschaft ergänze. Als Däne sei der Mensch zwar schon durch seine Abstammung nobilitiert, im Geiste könne der einzelne der dänischen Nation aber nur durch ein Bekenntnis angehören. Die Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft gleiche bei Grundtvig demnach der Mitgliedschaft in einer christlichen Gemeinde und entspreche einer "erlebbare[n], aber nicht begreifbare[n] Wirklichkeit, die vom kultischen Vollzug abhängt" (S.229). Politischer Gestaltung bedürfe die dänische Nationalgemeinschaft deswegen nicht, weil ihm die historische Anschauung gezeigt habe, daß Dänen nicht zu Ausschreitungen oder Machtmißbrauch neigten und der Absolutismus im übrigen die Regierungsform sei, die dem Geist und dem Herzen dieser Nation am besten entspreche.
Der dritte Teil der Arbeit evoziert unter dem Titel "Glücksspiegel Kopenhagen" die dänische Hauptstadt als "Neues Jerusalem". Dazu wird die Stadt für Grundtvig jedoch erst durch eine ästhetische Um- und Neuschöpfung der Wirklichkeit, die an die Stelle einer politischen Gestaltung getreten sei und nach Auffassung der Autorin unter narzißtischem Vorzeichen geschieht. In diesem Abschnitt konzentriert sich Meincke auf Grundtvigs Sprachverständnis, das wesentlich seine Versuche bestimme, den dänischen Volksgeist im Rahmen des eigenen eschatologischen Projektes zu beleben. Dabei versucht sie, dem bekannten Paradigmenwechsel vom geschriebenen zum gesprochenen Wort bei Grundtvig eine neue Bedeutung zu geben.
Auf der Grundlage seiner Überzeugung, daß das Wort die Rückentäußerung des Schöpferatems darstelle und eine bildliche Sprache die eben- bzw. abbildliche Relation zwischen Gott und Mensch am besten spiegele, schildert Meincke, wie der Autor zur Vortragstätigkeit gelangt. Das Levende Ord [= lebende Wort], das Grundtvig im Rahmen einer theologischen Auseinandersetzung zu verfechten begonnen hat, um für die Übermittlung des christlichen Geistes die Suprematie des Bekenntnisses vor den toten Buchstaben der Bibel darzulegen, unterstütze ihn wesentlich in der Realisierung seiner angestrebten Prophetenrolle. Als Vermittler von Gottes Geist und Beleber des dänischen Volksgeistes in der eigenen Nationalsprache vergrößere sich sein Einfluß auf die zu Passivität verurteilte Gemeinde seiner Hörerschar, während kritische Stimmen aus Grundtvigs (nationaler) Gemeinschaft grundsätzlich ausgeschlossen blieben.
Systematisch, aber nicht chronologisch
Meincke hat sich in ihrer Arbeit gegen einen "chronologischen" und für einen "systematischen" (= diachronen?) Interpretationsansatz von Grundtvigs Schriften entschieden. Angesichts des umfassenden literarischen Werks, das in einer noch nicht realisierten Gesamtausgabe 130—150 Bände umfassen würde, ist die Berechtigung einer solchen methodischen Wahl nicht ganz von der Hand zu weisen. Zudem wirkt das Erklärungsmodell effizient: Von einer sparsamen Anzahl von Grundannahmen ausgehend gelingt es ihr auf plausibel erscheinende Weise, eine Gesamtcharakterisierung des �uvres anzubieten. Die Argumentation ist kohärent aufgebaut und besticht nicht zuletzt in hier nicht erwähnten Studien zu Teilaspekten von Grundtvigs "Weltanschauung".
Unproblematisch sind die Konsequenzen, die der Verzicht auf das chronologische Ordnungsprinzip nach sich zieht, jedoch nicht: Die Autorin analysiert zum Beleg ihrer Thesen in der Regel keine Einzeltexte, sondern arbeitet mit einer Collage-Technik, die Satz(teil)-Zitate aus den unterschiedlichsten Quellen mosaikartig zusammensetzt. Da sie an keiner Stelle das generelle Prinzip ihrer Textauswahl preisgibt und in vielen Fällen auch nicht den Stellenwert der herangezogenen Quellen in der Grundtvig-Forschung darlegt, haben die Lesenden, die kein einschlägiges Vorwissen mitbringen, keine Möglichkeit, die Repräsentativität und den Geltungsanspruch ihrer Belegstellen einzuschätzen.
Der Verzicht auf das chronologische Ordnungsprinzip wirkt auf der Grundlage von Meinckes eigenem Erklärungsansatz zudem inkonsistent: Schließlich ist ihre Studie nach einem dreischrittigen (heils-)geschichtlichen Entwicklungsmodell strukturiert, dessen azyklischen Charakter sie selbst hervorhebt, wenn sie darauf hinweist, daß das goldene Zeitalter am historischen Anfang nicht mit dem kommenden Gylden-Aar identisch sei. Auch die Konzentration auf jeweils ein besonderes Lebensstadium Grundtvigs in den drei großen Abschnitten der Arbeit unterstreicht die Wichtigkeit, die einem Konzept zeitlicher Abfolge für den Aufbau der Argumentation uneingestandenerweise zukommt.
Welcher Grundtvig?
Meinckes Ansatz, sich eingehend mit Grundtvigs autobiographischen Aussagen auseinanderzusetzen, erscheint insoweit bemerkenswert, als es gewöhnlich nicht seine Kritiker, sondern sich divinatorisch in ihn einlebende Autoren sind, die in sympathetischer Absicht auf dieses Verfahren zurückgreifen. Die neuere textanalytische Grundtvig-Forschung ist vorsichtig darin, Stellungnahmen des Autors zu seinem Leben und Werk bei der Beurteilung seiner Produktion heranzuziehen, weil seine mythenbildenden Tendenzen und die daraus resultierende mangelnde Zuverlässigkeit bekannt sind. Meinckes Herangehensweise verspricht folglich neue Perspektiven, die ihre Arbeit denn auch über weite Strecken bietet. Allerdings leidet ihre Studie in diesem Zusammenhang unter einer theoretischen Unabgeklärtheit, die folgendes, der Einleitung entnommene Zitat dokumentiert:
Man hat — aus polemischen oder psychatrischen Interesse — auf den psychotischen Charakter dieses [= Grundtvigs] Weltbildes hingewiesen. Tatsächlich entspringen das Bedürfnis, der Welt keine weiße Flecken zu lassen, die unglaubliche Energie, mit der jede Niederlage in einen Sieg verwandelt, alles Bedrohliche abwehrt [sic!] wird, einem heimgesuchten Geist — dem Horror vacui eines von Desintegration bedrohten Autoren-Ichs, das sich in der Finsternis fürchtet vor selbstgemachten Gespenstern und >der Dunkelheit grauenvoller Leere<, das in katastrophalen Krisen >des Teufels schlangenartige Umarmung<, Isolation, Gefühls- und Identitätsverlust erfährt.(S.69f.) [Die Stelle mit den Gespenstern bezieht sich laut Fußnotentext auf eine Tagebuchaufzeichnung Grundtvigs vom November 1803 und eine allgemeine Betrachtung aus dem Exzerptenbuch 1806; die erste als Zitat ausgewiesene Stelle entstammt einem Tagebucheintrag Grundtvigs vom 25.8.1804; die zweite einer Notiz von F.C. Sibbern über Grundtvig.]
Meincke versäumt es bedauerlicherweise, ihre Thesen über Grundtvigs "heimgesuchten Geist" und über das "von Desintegration bedrohte [...] Autoren-Ich [...]" theoretisch zu bewerten. Man erfährt nicht, ob die Autorin mit einem psychatrischen Befund operiert oder auf wen sie überhaupt referiert, wenn sie von "Grundtvig" schreibt. Will sie in ihrer Arbeit mit psychologischem Wahrheitsanspruch die historische Persönlichkeit, den Autor >hinter den Texten< präsentieren, oder soll "Grundtvig" einem Subjekt entsprechen, das sie als Supersignifikanten in den Texten ausgemacht hat und als Teil bzw. Funktion von diesen konstruiert? Eine Auseinandersetzung mit Theorien des autobiographischen Schreibens und eine entsprechende Bewertung ihrer eigenen Positionen fehlen.
Diese hier skizzierten Unterlassungen sind nicht zuletzt deswegen ein Problem, weil eine apologetische Grundtvig-Sekundärliteratur den Autor auf offensive Weise gerade über dessen Krankengeschichte verteidigt, welche die Verfasserin gewissermaßen nolens volens gegen ihn zu verwenden scheint. Der Befund einer in Phasen aufgetretenen Gemüts- bzw. Geisteskrankheit, welche die historische Persönlichkeit Grundtvig heimgesucht habe, wird in der Literatur allgemein akzeptiert und als eine zumeist uneingestandene Legitimation herangezogen, seine Texte selektiv zu lesen und unliebsame Stellen mit z.B. größenwahnsinnigen oder chauvinistischen Anklängen als korpusfremde Ausfälle auszusondern. 2 Um ihren Ansatz, die Krise als Zentralmotiv von Grundtvigschen Texten auszumachen, gegen unwillige, aber naheliegende Kritik besser verteidigen zu können, hätte Meincke es folglich nicht versäumen dürfen, die Relation von Autor / Text in Hinblick auf "Grundtvig" theoretisch zu klären.
Welche Aufklärung, welche Romantik?
Meincke geht davon aus, daß Grundtvigs "kritikabweisende Strategien" von der Forschung größtenteils nicht besonders berücksichtigt worden seien, "da strengen Einzeldisziplinen der Blick für solche Allwissenschaft fehlen muß" (S.72). Umgekehrt ließe sich von ihrer Arbeit behaupten, daß ein vermehrtes Einbringen von fachspezifischem Wissen der näheren Bestimmung von Grundtvigs Vidskab dienlich gewesen wäre. Begriffliche und konzeptuelle Unklarheiten beeinträchtigen leider die Erklärungsmächtigkeit der Darlegungen.
Die Autorin nimmt an, daß Grundtvig sein eigenes, auf die Menschheit übertragenes Gefühl von Bedrohtheit mit "dem methodischen Zweifel einer neuzeitlichen Philosophie" (S.70) in Verbindung setzt. Der Beleg dieser interessanten These muß insoweit als weniger gelungen betrachtet werden, als die Autorin von einem ausführlich zitierten Grundtvigschen Tagebucheintrag vom 25.8.1804 ohne jegliche Ausführung behauptet, hier handele es sich um "de[n] verkürzte[n] methodische[n] Zweifel eines Descartes" (S.155). Wie aber die existentielle Krisenstimmung eines empirischen Einzelnen, der metaphysisch sich einkleidende Ängste aussteht, mit der erkenntnistheoretischen Beweisführung durch ein abstraktes Subjekt der Philosophie identisch sein kann, das methodisch zweifelt, um erfolgreich zu den unumstößlichen Grundlagen des Denkens zu kommen und dabei u.a. gerade affirmativ Bezug auf die scholastische Tradition eines gütigen Gottes nimmt, erscheint recht unerklärlich.
Diese eher unbefriedigende Stelle über das Verhältnis Grundtvigs zur neuzeitlichen Philosophie ist insofern symptomatisch für Meinckes Arbeit, als sie generell kein Interesse daran zeigt, zentrale Arbeitsbegriffe zu definieren. Besonders bedauerliche Konsequenzen hat dies in Zusammenhang mit den Notionen der "Aufklärung" und der "Romantik", die grundlegend für ihre Argumentation sind.
Meincke stellt in ihrer Einleitung einen Zusammenhang zwischen Grundtvigs Vidskab und einem "Gesamtkunstwerk" (S.72) her. Doch darauf, daß nun im weiteren Verlauf dieser vielversprechenden Perspektive gefolgt und seine Produktion anhand des Parameters einer romantischen Wissenschaft untersucht wird, warten die Lesenden vergeblich. Diese Unterlassung ist auf ein sehr stereotypes, beinah schon eher populär als wissenschaftlich zu nennendes Romantikverständnis der Autorin zurückzuführen, das ohne den Versuch einer Problematisierung zwischen den Zeilen aufscheint. So schreibt sie davon, wie Grundtvig durch eine unglückliche Liebe motiviert sich dem "romantischen Poesietraum" (S.143) anschließe und wie er in "romantischer Stimmung" (S.146) von der Tendenzlosigkeit im Leben der Alltagsmenschen schreibe. Wenn Meincke ohne weiteres festhält, daß "auch das romantisch-genialistische Werkverständnis nicht den Anspruch erfüllen kann, den Grundtvig für sich und sein Werk erhebt" (S.156), liegt dem eine eigentümliche Konzeption zugrunde, nach der in der Romantik unter dem Vorzeichen einer vergeblichen Sehnsucht bloß geträumt, geahnt und geseufzt wird (vgl. S.111f.) — so als zeichneten sich romantische Texte nicht eben so gut wie Grundtvigsche durch gnostizistische, chiliastische und politische Tendenzen aus. Insofern die Autorin über die utopisch-revolutionären Ziele der Romantik hinwegsieht, verschließt sich ihr auch die Möglichkeit, das, was sie als Grundtvigs "Privatmythologie" (S.74) entwickelt, unter produktiver Bezugnahme auf das romantische Projekt einer Neuen Mythologie zu analysieren.
Während die defizitäre Konzeption der Romantik für die Arbeit lediglich den Verlust einer interessanten vergleichenden Perspektive bedeutet, ist die Abwesenheit, durch welche die Definition der Aufklärung glänzt, nicht so leicht zu verschmerzen. Insofern die Arbeit das argumentative Hauptziel verfolgt, die "wahre Aufklärung", die Grundtvig bewirken will, als "Gegenaufklärung" zu entlarven, wäre eine Diskussion der entsprechenden Begrifflichkeiten unabdingbar gewesen. Aus einem weniger wohlwollenden Blickwickel transformiert sich Meinckes Auseinandersetzung mit Grundtvig durch dieses Versäumnis potentiell von der rationalen Gegenrede zu einem metaphysisch-mythischen Kampf gegen den dänischen Verfasser, der implizit mit dem zu besiegenden Dunkel gleichgesetzt wird. Unbedacht setzt die Autorin ihren Standpunkt mit >der< Aufklärung gleich, ohne sich damit auseinanderzusetzen, daß diese als historische Periode höchst unterschiedlich bestimmt werden kann und als wertrationale Position der Gegenwart von ihren Vertreterinnen gerade die Vermeidung jeder fundamentalistischen Attitüde sowie die Bereitschaft verlangt, die geschichtliche und kulturelle Bestimmtheit von Werten anzuerkennen.
Deutsch-dänische kulturelle Beziehungen
Zu Grundtvig liegt bislang nur recht wenig Sekundärliteratur in deutscher Sprache vor. Meinckes Dissertation ist als sehr wichtiger Forschungsbeitrag zu bewerten, als sie einem überwiegend unkritischen Grundtvig-Bild entgegenwirkt. Als Einführungstext für deutschsprachige Leser ist die Arbeit gleichwohl wenig geeignet. Schlägt der Rezipient sich durch die mehr als siebzig Seiten lange Einleitung, die ihn auf seinem Leseweg leider unorientiert über die ultimativ angestrebten argumentativen Ziele beläßt, beschleicht ihn der Eindruck, daß die Autorin die von ihr monierte "Kontaktsperre" (vgl. S.41f.) zwischen Grundtvig und der (deutschsprachigen) Welt im Grunde fortbestehen lassen möchte. Dieser seltsame Anschein wird nicht zuletzt durch die nicht ganz geschickte Strategie erweckt, mit der Meincke die möglicherweise die Rezeption ihrer Arbeit behindernden dänischen Vorurteilstrukturen auszuräumen versucht.
Bei seiner Konstruktion nationaler Identität operierte Grundtvig mit der Unterscheidung von dänischem Geist und deutschem Ungeist, was insofern ein wirkungsmächtiger Topos in der aktuellen Forschungsdebatte geblieben ist, als kritisch eingestellten deutschen Forscherinnen gelegentlich entgegengehalten wird, ihnen fehle es an den hermeneutischen Voraussetzungen, um zu einem >tiefen<, kongenialen Grundtvig-Verständnis zu gelangen. Meincke geht in ihrer Einleitung ausführlich auf diese Problematik ein, ohne allerdings die daraus erfolgenden erschwerten Rezeptionsbedingungen für ihre eigene Arbeit offen zu thematisieren. Statt dessen insinuiert sie, wie Grundtvig die Dänen korrumpiert habe: Dänen würden Grundtvig seine (unaufrichtige) Bescheidenheit abnehmen, weil sie sich in ihrem Selbstbildnis von dessen Konzeptionen eines kleinen, aber auserwählten Heimatlandes hätten einnehmen lassen und diese Wahrnehmungskriterien wiederum auf ihn zur Anwendung brächten.
Auf diese Weise verübt Meincke eine der rhetorischen Gewalttätigkeiten, die sie zurecht bei Grundtvig kritisiert: Die dänischen Leser werden vor die Wahl gestellt, entweder das Grundtvig-Verständnis der Autorin zu übernehmen oder aber sie müssen es sich gefallen lassen, daß ihnen ihre rezeptive Kompetenz als vom Grundtvig-Geist >Besessenen< abgesprochen wird. Folgen sie der Meinung der Autorin, wird von ihnen implizit verlangt, den (vermeintlichen) Stolz über den Konstrukteur einer aufklärerischen nationalen Gemeinschaft für das Gefühl der Schande aufzugeben, einen Mann bewundert zu haben, dessen Konzepte von Danskhed [= Dänentum] diskriminierende und imperialistische Tendenzen aufweisen und durchaus keine internationalen politischen Vorbildfunktionen erfüllen können (vgl. S.55).
Vielleicht wäre die Arbeit leichter von solcher Polemik frei zu halten gewesen, wenn Meincke die Tragweite ihrer kritischen Grundtvig-Exegese klarer konturiert hätte. Die Autorin sieht das steigende Interesse an Grundtvig u.a. durch die kulturwissenschaftlichen Identitätsdebatten bestimmt (vgl. S.61). Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz hätte bei der Bestimmung helfen können, wen und was sie mit ihrer Kritik berechtigterweise treffen kann — nicht jegliche Form von Bedeutungsproduktion, die zu einer wertrational zu bejahenden Konstruktion von Wirklichkeit führt, steht unter dem Gebot der wissenschaftlichen Wahrheit. Wissenschaftliche Leser müssen sich von Meincke den sehr berechtigten Vorwurf gefallen lassen, durch einen selektiven oder unanalytischen Umgang mit Grundtvigs Schriften eine verfälschende Lehrmeinung über dessen Textproduktion vertreten zu haben.
Dieselben Verfahrensweisen, die aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar sind, können bei außerwissenschaftlichen Diskursen jedoch deren besondere Produktivität ausmachen. So ist es in Dänemark eine unwissenschaftliche, mehr oder minder frei nach Grundtvig stattfindende Bedeutungsproduktion gewesen, die zur kulturellen Konstruktion der nationalen Identität z.B. durch das Heimvolkshochschulmilieu führte. Grundtvigs "lebendes Wort" hat sich dabei in gewisser Weise gegen den Meister gewandt, als seinem Primat der Oralität auch die eigenen Schriften zum Opfer gefallen sind. Seine Vorliebe für die Volksweisheit, die sich im Sprichwort äußere, könnte dazu beigetragen haben, daß aus dem Zusammenhang seiner Texte gerissene Bonmots in aller dänischen Munde sind. Vielleicht könnte dieser produktiv mißverstandene Grundtvig sogar als politisches dänisches "Exportgut" taugen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Grundtvigs Werk und Wirkung, die ja sowieso nichts mit der Frage nach >Bekehrung< zu tun hat, ist auf jeden Fall von zentraler Bedeutung, um den dänischen kulturellen Text zu verstehen.
Alexandra Bänsch, M.A.
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Ins Netz gestellt am 18.12.2001
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Anmerkungen
1 Von einigen Einzeltext-Übersetzungen zu Grundtvigs Lebzeiten abgesehen, liegt auf deutsch nur die zweibändige Grundtvig-Ausgabe von Johannes Tiedje (N.F.S. Grundtvig: "Schriften zur Volkserziehung und zur Volkheit". Jena: Eugen Diederichs, 1927) vor. zurück
2 So schreckt Finn Abrahamowitz in seiner erstmals 2000 erschienenen, populären Studie zu Grundtvigs Leben und Werk, die unter dem programmatischen und durchaus nicht ironisch gemeinten Titel "Grundtvig. Danmark til Lykke" [= Grundtvig. Ein Glück(wunsch) für Dänemark] steht, durchaus nicht davor zurück, unumwunden festzustellen, Grundtvig habe während seiner letzten schweren Erkrankung "selvfølgelig meget skidt" [= selbstverständlich viel Mist] (S.377) geschrieben. Finn Abrahamowitz: Grundtvig. Danmark til lykke. 3. Aufl. Kopenhagen: Høst & Søn, 2001. zurück
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