Alles mit Stil?

Martin Suter legt mit „Melody“ seinen nächsten Roman des Millionärsvoyeurismus vor

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die geheimnisvolle Welt der Superreichen und derer, die sich als solche ausgeben, ist der literarische Mikrokosmos des Züricher Bestsellerautors Martin Suter. Pünktlich zu seinem 75. Geburtstag veröffentlicht er seinen elften Roman Melody. Darin beschreibt er den letzten Coup des 84-jährigen Multimillionärs Dr. Stotz, der kurz vor seinem Tod den jungen Juristen Tom hauptsächlich dazu verpflichtet, sein Leben für die Nachwelt aufzubereiten.

In seiner klassizistischen Villa Aurora am Zürichberg lässt der ehemalige Königsmacher, „ein Mann, an dem man in Wirtschaft und Politik nicht vorbeikam“, sein Leben Revue passieren. Er nutzt ein letztes Mal sein Geld und seine Macht, um den bestqualifizierten, aber arbeitslosen Jüngling für seine Zwecke zu gewinnen. Dieser sucht nach dem Tod des vermeintlich wohlsituierten Vaters nach Neu-Orientierung und ist anfällig für ein finanziell unmoralisches Angebot einer unkündbaren, vertraglich festgehaltenen Abhängigkeit.

Als Stotz‘ Biograf soll dieser nicht lügen, aber beschönigen, er soll die Würde seines Arbeitgebers wahren und erhält hierzu neben allen Freiheiten auch Richtlinien, die für ihn verbindlich sind: „Nimm die Fakten, die für mich sprechen. Und die Fiktion, die nicht leicht widerlegbar ist.“ Der reiche Kunstliebhaber behält die Deutungshoheit und bestimmt auch – mehr oder weniger offensichtlich – über alles, was Tom denkt und macht. Der Jurist ist die nächste Person, die sich neben dem Jugendfreund Bruno Schären, einem von seinem Mäzen stets abhängigen Schriftsteller, dem Butler Roberto und der sizilianischen Köchin Mariella, die dem Herrn Doktor alle schon seit Jahrzehnten untergeben zu Diensten sind, in dessen Marionettenensemble einreiht.

Schnell wird klar, dass es dem schwerkranken Senior nicht nur darum geht, dass jemand seine ereignisreiche Vita für die Nachwelt salonfähig schreibt. Tom ist auch sein „bezahlter Zuhörer“, dem der geschwätzige alte Mann, dem Ärzte nur noch ein Lebensjahr geben, bei Feuer im Kamin, Pfeife, edlen Weinen, Sherry und Armanac seines Jahrgangs ungefragt sehr persönliche Details über seine große Liebe preisgibt. Häppchenweise berichtet er Tom darüber, wie er die junge Dame kennenlernte, was er alles tat, um ihr Herz zu gewinnen und wie seine Angebetete plötzlich verschwand.

So ist es kein Zufall, dass man ihr in der Villa auf Schritt und Tritt auf Bildern und Fotos begegnet. Ihr Bildnis gräbt sich tief in Toms Gedächtnis ein, ihre Person zieht ihn in ihren Bann. Suter spielt gekonnt mit Merkmalen des Genres Schauergeschichte, wenn er durch gespenstische Geräusche und mysteriöse nächtliche Besuche in Melodys ehemaligem Nähzimmer zusätzlich Spannung erzeugt, sie aufrechterhält, aber die fälligen Antworten geschickt hinauszögert. Fand Melody plötzlich ihren älteren und reichen Bräutigam lästig oder bekam sie aus einem anderen Grund kurz vor der Hochzeit kalte Füße? Wurde sie eventuell von ihrer Familie, die dieser Verbindung zutiefst misstraute, entführt?

Suters bekannte Romancharaktere – der großbürgerliche Adrian Weynfeldt und der Hochstapler und Lebemann Johann Friedrich von Allmen – bekommen in der Figur des Dr. Stotz einen ebenbürtigen Gefährten. Wenn er die junge Buchhändlerin Melody, Tochter von marokkanischen Einwander*innen, in seine Welt entführt, dann gibt es in exklusiven Restaurants Menu Surprise, „eine Folge von zwölf mit der Pinzette arrangierten riesigen Tellern“, oder ein kostspieliges Brautkleid von einem Stern am Pariser Modehimmel. Dass sie das Bedürfnis haben könnte (und dem auch nachgeht), sich mit Gleichaltrigen in alternativen Clubs zu treffen und mit ihnen zu feiern, kommt ihm bis zum bitteren Schluss nicht in den Sinn.

Genauso übergriffig drängt er Tom seinen Schneider auf und lässt ihm zwei Maßanzüge anfertigen oder stellt ihm jene seiner Luxuskarossen zur Verfügung, die er als seinem Alter angemessen empfindet. Prompt wird Tom – inzwischen auch sein „Willensvollstrecker“ – wegen überhöhter Geschwindigkeit der Führerschein eingezogen, woraufhin Stotz tut, was er am besten kann, nämlich Strippen ziehen. Die Bestechung hat er im Laufe der Jahre perfektioniert und meint, man brauche dazu lediglich Einfluss, Geld und Fantasie. Tom sieht „das Stotzen“, das laut einer Journalistin als Fachausdruck in der Züricher Businesswelt tatsächlich existiert und „aus dem Hintergrund Einfluss nehmen, sein Beziehungsnetz aktivieren, um etwas in deinem Sinn zu beeinflussen“ definiert wird, auf einmal moralisch nicht mehr so eng.

Auf den letzten hundert Seiten des Romans überschlagen sich die Ereignisse. Nach der Testamentseröffnung übernehmen Tom und Stotz‘ Nichte die Suche nach der verschwundenen Melody und der Wahrheit. Dass sie von der Erzählung und Deutung des alten Mannes in mancherlei Hinsicht abweicht, überrascht nicht. Dass sie nach der mühsam aufgebauten Spannung zwar eine Antwort bietet, die aber nicht allen Ansprüchen gerecht wird, muss Teile der Leserschaft unvermeidlich enttäuschen.    

Genuss und Überfluss gehen in Suters Romanen genauso Hand in Hand wie Reichtum und Macht. Er bedient in Melody einmal mehr den Voyeurismus seines Lesepublikums, indem er Einblicke in den Alltag der oberen Zehntausend gewährt. Seine Figuren frönen dem Luxus und haben keinerlei Bedenken dabei. Kulinarische und alkoholische Ausschweifungen werden von ihnen stilvoll zelebriert und in eine verharmlosende Sprache (Stichwort C2-Abusus) gekleidet. Man fliegt um die Welt, wenn es die eigenen Interessen verlangen. Wie man sich im Abglanz vergangener Größe sonnt, sein Personal herumkommandiert und über Dichtung und Wahrheit bestimmt, kann Martin Suter wie kein anderer darstellen.

Titelbild

Martin Suter: Melody.
Diogenes Verlag, Zürich 2023.
331 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783257072341

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