Odyssee und Palimpsest in dystopischer Rahmung

In der Autofiktion „Sinkende Sterne“ wandert Thomas Hettche durch intra- und interpersonale Bilderwelten

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Hettche ist ein literarisches Ausnahmetalent. Ganz zu Recht zählt er zu den stärksten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Er ist nicht nur in vielen fiktionalen Genres zuhause – z. B. Kriminalroman (Der Fall Arbogast, 2001) oder historischer Roman (Pfaueninsel, 2014) –, sondern er ist ebenso ein begnadeter Essayist. Seine klugen poetologischen und oft autobiografisch geprägten Schriften, so etwa Totenberg (2012) oder Unsere leeren Herzen (2017), punkten mit Reflexionstiefe und stilistischer Brillanz. Nach Herzfaden (2020), dem Roman über die Augsburger Puppenkiste, mit dem Hettche, so wie mit Pfaueninsel, leider erfolglos auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, ist nun Sinkende Sterne erschienen. Der als Roman etikettierte Text kommt in kaum larvierter Autofiktionalität daher. Seine gleichermaßen philosophische wie psychologische Dichte überflügelt Plot und Spannung. Das ist rundum begrüßenswert.

Hettche reist in den Kanton Wallis, an die Grenze zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz, in den Ort Leuk, zu dem das Chalet gehört, wo er als Kind seine Ferien verbracht hat und in dem nach der Mutter auch der Vater verstorben ist. Den Aufenthalt hat er mit open end geplant, weil seine Uni-Karriere beendet ist.

Schon die Reise verläuft nicht so, wie der Protagonist sie gewohnt ist. Nach einem Bergsturz ist die Rhone übergelaufen, hat Dörfer und Menschen unter ihren Fluten begraben. Die Verbliebenen wollen sich abschotten. Die „kyklopische Dimension einer neuen Grenze“ ist natur- und menschengemacht. Nach der Katastrophe wurde eine Brücke gesprengt, damit der Verkehr wieder über die Bergpässe laufen muss. Mit einem Schreiben des Kastlans von Leuk wird Hettche in das Rathaus zitiert, wo man ihm eröffnet, dass seine Parzelle enteignet werden wird. Hettche trifft Marietta, eine Freundin aus Kindheitstagen. Mit ihr verbringt er die Sommerwochen auf einer Alpe, bevor er im Herbst in sein Haus, dessen dräuende Enteignung keine Rolle mehr zu spielen scheint, zurückkehrt. Im Winter ereilen ihn dort heftige Schmerzen und Fieberfantasien.

„So gern leben wir in Bildern, weil unsere Körper sich nach einer Realität sehnen, die sie, gegen unser besseres Wissen, nur in ihnen finden“ – diese Sentenz, eine von vielen lektürebelebenden Paradoxa, ließe sich dem gesamten Text voranstellen. Bei aller ihm immanenten Rätselhaftigkeit markiert ein Satz wie dieser den Dualismus von realistischer Abbildung und Bilderflut, von Empirischem und Fantastischem, der bei Hettche als magischer Realismus daherkommt. Paradoxie entpuppt sich als Entelechie, als wirkendes Textprinzip, das in letzter Konsequenz zur Gretchenfrage führt, was Wirklichkeit überhaupt ist – beständige Wahrheit oder ephemere Konstruktion?

In acht Kapiteln entfaltet Sinkende Sterne ein fulminantes Panorama, dessen erzählte Zeit sich gerafft über ein Jahr ausdehnt, dessen Grenzen zerfließen, dessen großes initiales Thema, der Bergsturz, auf eine Dystopie hindeutet, die jedoch nach kräftigen expressiven Passagen in den ersten Kapiteln in den Hintergrund tritt. So wie die einzelnen Charaktere konvergiert sie zum erzählenden Ich, das sich in einem „allegorischen Reich“ bewegt (Philipp Theisohn in Im Vaterland des Schreibens, FAZ, 27.09.2023). Die Regierungsform des Kantons droht zu feudalistischen Strukturen zu regredieren, während das zu ihm gehörende Bistum prosperiert und progressiv ist. Zum einen spiegelt eine solche Diskrepanz aktuelle Zeitläufte, zum anderen doppelt sie das erzählende Ich, dessen Befindlichkeit sich darüber hinaus in der Natur und ihren wechselnden Wetterlagen manifestiert. Weder der wütende Wind noch „nervös gezackte Gipfel“ wirken dabei romantisierend. Sie ordnen sich vielmehr authentisch in die Gefühlswelt des Protagonisten ein.

Wahrheit liegt vielleicht in der Dynamik von Spiegelungen, unter anderem im Hin und Her zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Viel Weltschmerz kommt hier ins Spiel, denn die Trauer um die Vergangenheit und die Sorge um eine Zukunft zermürben quasi im Mussetschen Sinne die Gegenwart, deren Intensitätsmomente sich allein aus der Vergangenheit zu nähren scheinen. Die „forza del passato“, als die der Ich-Erzähler sich selbst apostrophiert, mündet in eine stete, viele Sinne umgreifende Vergleichsperspektive. Im Schreibtisch des Vaters findet er Relikte aus seiner Kindheit, z. B. die Schiebelehre, die niemand mehr benutzt.

Der Roman konstituiert einen offenen Raum, in den konkrete Diskurswelten, u. a. die Gender-Debatte oder Kritik des Universitätsbetriebs, hineindiffundieren. Dass Hettche in seinen Seminaren nicht, wie ihm vorgeworfen wird, „auf Texte eines westlichen Kanons“ fixiert bleibt, beweist Sindbad aus Antoine Gallands Märchensammlung 1001 Nacht, der mit Odysseus verglichen wird. Dass „Qualitätsvorstellungen“ niemals überholt sind, beweist der Text sowieso.

Neben Hettche selbst stechen drei Figuren mit vielsagenden Namen heraus: Dschamil, Serafine und Noë de Platea. Sie korrespondieren nicht nur mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern avancieren zu alter egos des Protagonisten. Dschamil, dessen Name „der Schöne“ bedeutet, ist als einziger Studierender im Seminar zur Odyssee geblieben. Hettche besucht ihn spontan zuhause, ergo schlägt jedwede professionelle Distanz in den Wind, um mit ihm über das Ausscheiden aus dem Unibetrieb zu sprechen. Serafine, Mariettas Tochter, verkörpert mit ihrer Jugend und ihrer schneewittchenartigen Gestalt die Gegenwart in ihrer Funktion als Schmelztiegel von Vergangenheit und Zukunft. Das Mädchen kennt sich mit Mythen und Legenden des Wallis aus, trifft Wiedergänger in dunklen Novembernächten – die „armen Seelen“, die sich versündigt haben und keine Erlösung finden können, sondern zu ewiger Gegenwart verdammt sind.

Serafine versinnbildlicht außerdem die westliche, abendländische Kultur, während Dschamil demgegenüber den morgenländischen Furor eines „ex oriente lux“ transportiert, die in Homers Odyssee und Antoine Gallands Märchen aus 1001 Nacht literarisierten und damit individualisierten mythischen Narrative. Hettche neidet ihm seinen Körper, er registriert die Leichtigkeit im Kontrast zur Schwere des eigenen und ruft damit ein Thema auf, das bei ihm omnipräsent ist und z. B. einem Essay in Totenberg („Unsere eigene Gestalt“) zugrunde liegt.

Das Treffen mit der Bischöfin von Sion, das auf krasse Weise eine Zukunft der Diversität präfiguriert, ist in der Mitte des Romans angesiedelt: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, ein Kulminationspunkt paradoxer Dynamik, personifiziert sich mit Noë de Platea. Ihr Name lautet weder Noé noch Noël, weil er beides in sich birgt: Noah, der mitsamt seiner Arche beschützt wird und Weihnachten, die Zeit, die laut der Bibel, „erfüllet war“. Die bezirzende, entrückende Schönheit einer Frau, die vor ihm blankzieht und sich dem „ungläubigen Thomas“ als Hermaphrodit offenbart, erinnert ebenso an das Motiv des Teufels in Gestalt einer schönen Frau. „Wir sind die Auffahrtsrampe zur Überwindung des Fleisches. Wir können die Welt so konstruieren, wie wir es wollen“ – so sagt sie, dem Credo des Dekonstruktivismus des „Heiligen Foucault“ verpflichtet, in der Diskussion einen Parforceritt durch Eckpunkte seiner Philosophie vollführend. Beim Lesen wirkt dieser einerseits wie eine Parodie auf konstruktivistische Diskurse, während zugleich ihr Potential ausgeschöpft wird.

In Hettches ästhetischen Universen, in seinen mitunter wunderbar irritierenden und stets multiperspektivisch zu deutenden Textwelten, stehen alle Elemente miteinander in Verbindung, ergänzen sich, fusionieren und initiieren eine mise en abyme. Sie fügen sich zu einer Appellstruktur im besten Sinne, zu einer nie auszuschöpfenden Virtualität. „Aber manchmal ist der Glanz eines Wortes wichtiger als seine Exaktheit. Dem musst du folgen. Es sind nicht deine Worte, und doch sind es deine Worte“ – so Hettche zu Dschamil, als es um die Übersetzung einer Stelle aus der Odyssee geht. Eine Sprache, die rein und klar ist, von Bildern lebt und die Macht der Diskurse jenseits jeder (De-)Konstruktion feiert, gesteht nicht selten den Signifikanten die Macht über Inhalte zu. In dieser Eigenwertigkeit hat angestrengte Sinnsuche keinen Platz, erst recht nicht das Aufpfropfen einer wie auch immer gearteten Moral.

In seinem Essay „Literatur und ihre Zwecke“ aus Unsere leeren Herzen notiert Hettche zu Robert Louis Stevenson, dass dieser wohl begriffen habe, dass Literatur „keinen Zweck“ brauche, „weil sie ganz Mittel“ sei, „ein Lebensmittel, Schiffszwieback auf unserer aller Reise“. Und in Sinkende Sterne: „Literatur erzählt nicht deshalb von fantastischen Auswegen, weil sie tröstlich wären, sondern weil sie selbst der Ausweg ist“. Dieser Ausweg hält ein schier unendliches und variantenreiches „Scio nescio“ parat, das mit einem Füllhorn an wertvollen literaturtheoretischen Überlegungen inszeniert wird. Paradoxien und ihre Dynamik unterstreichen in einem grandiosen Text, dass „Literatur unsere Sehnsucht nach einer Wahrheit“ stillt, „die es nicht gibt“.

Titelbild

Thomas Hettche: Sinkende Sterne.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
224 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050806

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch