Der Grauseher

Peter Sloterdijk setzt in „Wer noch kein Grau gedacht hat“ eine unscheinbare Unfarbe geistreich in Szene

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Februar-Ausgabe des Jahres 1974 druckte das amerikanische Magazin High Fidelity einen Text ab, der den seltsam anmutenden Titel Glenn Gould interviewt Glenn Gould über Glenn Gould trug. In diesem höchst amüsanten Vexierspiel der Identitäten, für das der kanadische Ausnahmepianist Glenn Gould (1932–1982) eine lebenslange Leidenschaft empfand, findet sich die folgende Passage, in der es um Ästhetik und Moral geht: 

G. G.: Sagen wir beispielsweise, ich hätte das Privileg gehabt, in einer Stadt zu wohnen, in der alle Häuser schlachtschiffgrau [battleship grey] gestrichen waren.

g. g.: Wieso schlachtschiffgrau?

G. G.: Das ist meine Lieblingsfarbe.

Als Mann des Nordens, der mit der südlich-hellen, lebensfroh-warmen Attitüde nichts anzufangen wusste, verabscheute Gould leuchtende Farben, vor allem Rot, und bevorzugte Schwarzweißfilme, vor allem Kriegsfilme, deren Kälte und Dunkelheit den gegenteiligen Effekt auf ihn ausübten, als es etwa die „entsetzliche Farborgie“ von Walt Disneys Fantasia (1940) getan hatte, die er als Achtjähriger im Kino ertragen musste, was ihm Kopfschmerzen verschaffte. Kein Wunder also, so könnte man farbmythisch denken, dass sich Gould in der geordneten Welt der schwarzen und weißen Klaviertasten wohlfühlte, die er variantenreich und behände zu einem faszinierenden Grau mischte.

Um eben diese Faszination des Grauen, der Grautönigkeiten geht es dem Philosophen Peter Sloterdijk in seinem neuesten Buch. Es ist ein Werk, das nach und neben Sphärologie, Thymologie, Anthropotechnologie, Bastardologie, Theopoetologie und anderen scharfsinnigen wie scharfsichtigen philosophiehistorischen, kulturtheoretischen, finanzpolitischen und religionskritischen, thematisch stets überraschenden Expeditionen des inzwischen fünfundsiebzigjährigen „Gedankenphilobaten“ (Hans-Jürgen Heinrichs) ein glitzerndes Œuvre zu erweitern sucht. Er nennt es, etwas hochgegriffen, im Untertitel eine „Farbenlehre“, was an Newton oder Goethe erinnert, obschon Phaioso- oder Poliologie treffender gewesen wäre (von griechisch phaiós für grau, dunkelgrau, schwärzlich und poliós für grau, weißlich). Dieses graue Sammelsurium der Geistesgeschichte ähnelt in Grundstimmung und Motivik dem prämierten kulturkritischen Essay Die Vereindeutigung der Welt, die der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer (geb. 1961) im Jahr 2018 bei Reclam vorgelegt hat. Was Bauer Ambiguitätstoleranz ist, ist Sloterdijk die Vergrauung als Gewinn und Vademecum in polarisierten, extremistischen Zeiten. Seine Farbenlehre ist Freiheitslehre, seine „Grauzonenkunde“ ist bunte Ideengeschichte.

Dabei ist dieses Grau als ein allgemeines Grau zu begreifen, ein Grau, das nicht fixiert werden kann, das sich der Vereindeutigung entzieht. Man könnte es in der Terminologie des amerikanischen Semiotikers Charles Sanders Peirce (1839–1914) der Firstness (Erstheit) zuteilen, der Kategorie des unreflektierten, basalen Gefühls, der bloßen logischen Möglichkeit, der Unmittelbarkeit, Spontaneität, Freiheit, der noch undifferenzierten Qualität, der Sympathie und Unabhängigkeit. Das Grau wäre ein unbestimmbares und unidentifizierbares, das nur die Möglichkeit eines Zeichens beinhaltete; insofern entspräche es einem „Qualizeichen“ im Peirceschen Sinne. Von der in weiß gedruckten Farbenlehre des Untertitels gilt es nun, den grau gehaltenen Titel des Buches einer näheren Betrachtung zu unterziehen und das Graue zu konkretisieren: Wer noch kein Grau gedacht hat – so der verkürzte, auf den französischen Maler Paul Cézanne (1839–1906) Bezug nehmende und zunächst irritierende Werktitel. „Solange man nicht ein Grau gemalt hat“, behauptete Cézanne in einem Gespräch mit dem Schriftsteller und Kunstkritiker Joachim Gasquet (1873–1921) kühn, „ist man nicht Maler.“ Sloterdijk übernimmt dieses Diktum, übertreibt es weiter, ersetzt das Malen durch das Denken und den Maler durch den Philosophen und lässt en passant im Verlauf seines lehrreichen Buches zwei weitere Varianten augenzwinkernd fallen: „Wer noch kein Fleisch gemalt hat, ist kein Maler“ sowie – und hiermit beendet er als advocatus dei, Anwalt Gottes, im fünften Kapitel seine Ausführungen – „Wer noch kein Grau gedacht hat, dem ist die Frage unde bonum, Woher das Gute?, die das Herz der Seinsfrage bildet, noch nicht begegnet.“

Dieser in Grau gedruckte, assoziationsreiche Titel resultiert aus dem weißen Untertitel und dem ebenfalls weißen Autoren- mit dem tiefschwarzen Verlagsnamen. Am 19. September 2004 kritisierte Niklas Maak in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Sloterdijks Hausverlag: 

Der Suhrkamp-Verlag [es sei hier auf den korrekt gesetzten Bindestrich aufmerksam gemacht, den Suhrkamp wie nahezu alle anderen Verlage, auch Schulen oder Universitäten, Institutionen allgemein, unverständlicherweise abgeschafft oder nie gesetzt hat] hat nach 33 Jahren den größten aller denkbaren Fehler gemacht und seine Cover umgestaltet – aber der Reihe nach: Es liegt ja im Trend, daß alles, was einmal bunt war, grau wird. Erst verschwanden die gelben Telefonzellen; ihre Nachfolger trugen die Farben absterbender Dinge, ein erfroren aussehendes Magentarot und ein fahles Grau, und wenig später starben die Telefonzellen tatsächlich aus. 

Blickt man auf das Cover des aktuellen Sloterdijks, erscheint Maaks Beobachtung beinahe zwei Jahrzehnte später zur Perfektion gereift: Nicht nur inhaltlich setzt sich dieses Werk mit dem Grau in all seinen Facetten auseinander, nicht nur buchbinderisch fällt ein graues Leseband auf; auch ästhetisch-konservatorisch wird das Buch durch den Schutzumschlag dank Gerhard Richters (geb. 1932) Ölgemälde Italienische Landschaft aus dem Jahr 1967, monochrom verpackt. Eigenartigerweise wird das weite Feld der Kunst in Wer noch kein Grau gedacht hat kaum beachtet; der Name Richters fällt nur an zwei Stellen. Auf das Gemälde geht Sloterdijk gar nicht ein, ebenso wenig, wie er auf synästhetische Operationen verzichtet und das Graue in der Musik nicht nachzuweisen sucht.

Die erhellenden Stärken des Buches, die sich auch quantitativ niederschlagen, liegen hingegen in den Bereichen der Philosophie, der Politik, der Fotografie und der Religion – Disziplinen und Systeme, die nicht strikt einzelnen Kapiteln zugeordnet sind, sondern immer wieder an unterschiedlichen Stellen auftauchen und verhandelt werden. Der rote Faden, der hier naturgemäß durch einen grauen ersetzt zu denken ist, erweist sich als Rhizom, das durch ein menschheitsgeschichtliches Labyrinth wächst. Das Inhaltsverzeichnis gibt leidlich Orientierung, auf ein Register wurde gänzlich verzichtet. Die grauphilosophischen Wackersteine, die der Karlsruher Emeritus in sein Themenfeld rollt und Stonehenge-artig vor dem überraschten Leser aufstellt, reichen von Platon über Hegel und Heidegger bis zum myopisch-scharfsichtigen Nietzsche, dem „ersten Denker und Dichter der Lithosphäre“. Dabei gibt es in deren Schriften kaum explizite Bezüge auf die ‚Unfarbe‘ Grau. Dennoch weiß Sloterdijk die dunkelgrauen Schatten an Platons Höhlenwand, Hegels reife Philosophie des Grau-in-Grau, Heideggers evokatives Grau-aus-Grau (dem Nebel aus Langeweile und Melancholie) sowie Nietzsches hochalpine Silbertöne aus Stein- und Felsengrau, die ihm beim Wandern und Denken einen beruhigend-sammelnden Hintergrund gaben, überzeugend und stilistisch brillant aus den wohlbekannten Werken zu extrahieren. Mit der etymologischen Arbeit am Begriff setzt der Philosoph ein solides Fundament. Das Graue ist ein Mischwesen, ein Kompromissphänomen; es entsteht aus Schwarzem und Weißem, Hellem und Dunklem oder anderen Farbtönen, die eine Schmutzfarbe hervorbringen: 

Wer Vermischung sagt – bei den Griechen: synkrasis, Zusammengewachsenheit, Mutterwort des lateinischen concretum, des Festgewordenen, des englischen Betons, auch des hegelisch-leninschen ‚Konkreten‘ –, der sagt eo ipso: Grau. […] Die Wahrheit ist grau in dem Maß, wie sie konkret ist, zusammengebacken aus Verschiedenem und Entgegengesetztem. 

Literarische Grautöne mitsamt ihren übergroßen metaphorischen Bedeutungen weist der „Mann der explosiven Intuition“ (Hans Ulrich Gumbrecht) in Kafkas „Korridorisierung der Existenz“ und dem bürokratischen „Nebel der Instanzen“ nach, in ausgewählten Texten W. M. Thackereys, Thomas Manns, Goethes, Musils, Schnitzlers, Updikes, Cormac McCarthys, Puschkins, Sorokins und Storms. Es verwundert wenig, dass in diesem Feld das Graue vorwiegend als meteorologisch-psychologische Manifestation greifbar wird: Gewitter, Regen, Staub-, Sand- und Schneestürme, Wolken, Nebel, Hagel, Graupel – kurzum: „Vergrauungen der Sichtverhältnisse“, die aufs Gemüt schlagen und selbiges zum Ausdruck bringen. Steht der Leser in der Hälfte des Buches, mit dem sein Verfasser zum grauen Star unter den philosophisch Hellsichtigen avancieren dürfte, trifft er auf Sloterdijks Ausführungen zu Dantes Divina Commedia, die die Institutionalisierung eines dritten Ortes neben inferno und paradiso in den graustichigen Blick nehmen: „Übersetzt man die Erfindung der Mittelwelt im Jenseits in farbtheoretische Ausdrücke, darf man in Dante, dem Autor des purgatorio, den Maler eines metaphysischen Grauwerts sehen.“ Die Aufspaltung und Ergänzung eines Binarismus wird hier zur Geburtsstunde der Moderne:

Was wir für die moderne Welt halten, ist aus weltgeschichtlicher, besser historiosophischer Sicht der Effekt einer Grauzonenverschiebung: Wo Purgatorium war, sollte Geschichte werden, sprich: Ausgang aus Unmündigkeit und Entfremdung, kumulatives Lernen, Etablierung der Rechtsstaatlichkeit, Ausdehnung der Versicherungszone und physische Operabilität ohne Grenzen. 

Das Fegefeuer mutiere zu Foucaultschen Heterotopoi, zu Indifferenzzonen, zu weltlichen dritten Bereichen, in denen das „Interesse an religionspolitischer Neutralität“ sowie an „moralischer Neutralisierung der Geld- und Kreditgeschäfte“ prägend sei. Indem Peter Sloterdijk diesen Prozess als einen Entfärbungsweg, als eine zivilisatorische Vergrauungsentwicklung und eine Expansion moralischer Grauzonen darstellt, erweist er sich einmal mehr als ein origineller und humorvoller „Unterhaltungsphilosoph“ (Rüdiger Safranski), der den trüben Blick des Lesers auf Altbekanntes schärft und dadurch neu ausrichtet.

Und es ist eine solche Vergrauung – keine astronomische Rot- oder Blauverschiebung, sondern eine politische „Rot-Grau-Verschiebung“ –, anhand derer der Autor des Bestsellers Kritik der zynischen Vernunft (1983) den Prozess farbtheoretisch sichtbar werden lässt, den der britische Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012) 1994 mit seinem Buchtitel Das Zeitalter der Extreme zusammengefasst hat. Sloterdijk zeigt, wie aus der roten Initialzündung der Russischen Revolution im frühen 20. Jahrhundert ein gigantischer Graukomplex erwuchs, der schließlich in einem diktatorischen „Stalingrau“ kulminierte:

Die ‚Sozialismus in einem Land‘-Doktrin ist für die historische Herleitung der ostdeutschen Vergrauung von Bedeutung, weil sie sehr früh eine Farbverunsicherung im Zentrum des Projekts Rot bewirkte. Ihretwegen vermochten bereits Zeitgenossen der späteren zwanziger Jahre auf Trotzkis Spuren den Verdacht zu äußern, unter den Plakaten des real werdenden Sozialismus werde eine quasi kriegswirtschaftlich angelegte Modernisierungsdiktatur ohne farbsymbolisch klare Identität errichtet, überwölbt von einer radikalgrauen Parteiherrschaft kraft der Synthese von Bürokratie, Terror und Einheitssprache.

Auch in der farbsymbolisch-politischen Sphäre dreht Sloterdijk seine athletischen Pirouetten des Denkens auf dem oftmals viel zu dünnen Glatteis der akademischen Disziplinen mit atemberaubender Balance und Übersicht. Der gelehrige Leser kann derartige Entfärbungstendenzen sogleich auf die aktuelle politische Situation anwenden, etwa indem er – wesentlich ausgelöst durch den Russisch-Ukrainischen Krieg und personifiziert durch die grünen Politiker Annalena Baerbock (geb. 1980) und Robert Habeck (geb. 1969) – eine Grün-Grau-Verschiebung zu attestieren nicht umhinkommt. Je näher die Macht, umso blasser die Ausgangsfarbe. Je gewaltiger und zwingender die Realität, umso deutlicher und schneller bröckelt die Parteifarbe. Das Grau bricht sich Bahn. „Die Reinheit der Farbe lässt sich nur wahren“, so Sloterdijk in einem Interview mit der Zeit, „wenn man im programmatischen Stadium verharrt. Dann genießt man noch die Ohnmacht und ihre Reinheit.“ Die Slogans, die aus Sloterdijks Chromatochronografie zu destillieren wären, könnten lauten: Erinnert euch der roten und braunen Extremisten! Befreit euch von den reinen Farben! Misstraut den gesättigten Farbidealen! 

Weit entfernt von natürlichen Farben und kräftigen Farbsättigungen vollzog sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine technische Welterschließung als Weltabbildung im neuen Medium der Graustufenfotografie. Peter Sloterdijk, der belesene Pädagoge in der Schule des Sehens, gibt zu bedenken:

Zu den faszinierenden Einzelheiten der Photographiegeschichte gehört die Beobachtung, wie wenig Widerstand gegen das Diktat der sogenannten Schwarzweißphotographie zu bemerken war. Die Überwältigung durch den leichten Zugang zur Ermächtigung durch lichtbildnerische Verfahren war offenkundig so stark, daß Proteste gegen den Farbverlust kaum hörbar wurden. Die Übertragung aller Anblicke in die Grautonskala war in den anfänglichen terms of trade festgeschrieben. Es schien, im Gegenteil, als würde die visuelle Welt durch ihre Transposition ins Grautonspektrum gelegentlich entbanalisiert, manchmal sogar in ein nobleres Register gehoben, besonders bei der später sich profilierenden Kunstform der minimalistischen ‚Schwarzweiß‘-Photographie und bei den vom Tafelbild, insbesondere von der Chiaroscuro-Malerei inspirierten lichtbildnerischen Verfahren.

Hier tritt das Grau als blickzähmende, fokussierende Instanz auf; die Welt wird dank eines Dritten, eines ‚Lichtzeichners‘, konkret, so als würde die Silbersalzmagie subtil ausrufen: Du musst dein Sehen ändern!

Am 11. April 2022 veröffentlichte Peter Sloterdijk, der „Ozeanograph des Geistes“ (Joszef Bugovics), auf seinen Twitter- und Instagram-Accounts ein Farbfoto, das den Autor mit seinem just erschienenen Werk vermutlich in dessen Berliner Zuhause zeigt. Auf diesem Foto kann man viele Grautöne ausmachen, zentral und herausstechend das Oberteil des Philosophen. Mit leichtem, stolzem Lächeln präsentiert er sich und seine Farbenlehre in den letzten Sonnenstrahlen eines milden Frühlingstages. In einer Fußnote seiner Monochromatografie, die leicht überlesen werden kann, zitiert Sloterdijk Ludwig Wittgenstein (1889–1951) mit den Worten: „Es gibt kein leuchtendes Grau.“ Dieses Foto, dieses Buch stellen den Gegenbeweis dar.

In einem Abschnitt seines Selbst-Interviews imaginiert sich Glenn Gould als Gefangener und kommt in diesem Zusammenhang erneut auf seine oben erwähnte Lieblingsfarbe zu sprechen:

G. G.: Die Tatsache, daß ich notgedrungen Forderungen an meine Wärter stellen würde – Forderungen, auf die ein wirklich freier Geist verzichten könnte.

g. g.: Zum Beispiel?

G. G.: Die Zelle müßte in Schlachtschiffgrau gehalten sein.

Es wäre nicht unwahrscheinlich, dass Gould – hätte er seinen Text heute verfasst – ein zweites Ersuchen an die Strafbehörde richten würde: die Zurverfügungstellung von Peter Sloterdijks Wer noch kein Grau gedacht hat als Antidot gegen das Schwarz-Weiß-Denken und als gefangennehmende Arrestlektüre ohne Leihfrist.

Titelbild

Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
286 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430682

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